Erschienen in Ausgabe: No 67(9/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Steffen Dietzsch
Eine Tatsache ist eine Tatsache –
denkt man kurzschlüssig … Sie scheint zunächst fest umrissen, handgreiflich,
verlässlich, man kommt eine zeitlang gut mit ihr voran, aber dann – kurz vor
dem Gipfel (ihrer Verifikation), so belehrt uns Albert Camus in seinem Traktat
von Sisyphos, rollt sie zurück als factum brutum, das zu seiner Erklärung
wieder ‚nach oben’ bewegt werden muß …
Eine solche Tatsachen-‚Dynamik’
riß neulich just den toten Camus aus seiner ‚ewigen Ruhe’. Die Tatsache, dass
er am 4. Januar 1960, mittags bei Champigny sur Yonne in einem von Gallimard
filius nicht mehr beherrschten 355-PS-Auto zufälligerweise zu Tode kam, scheint
keine mehr. – Der italienische Slawist Giovanni Catelli fand in den „Celý život
1948 - 1984“[Tagebücher, Praha: Torst,
2001]des tschechischen
Autors Jan Zábrana (1931 - 1984) eine Stelle, die bei den Übersetzungen (ins
Italienische u. Französische) weggefallen war. Hier deutete der Diarist vom
Hörensagen an, der Unfalltod Camus` sei kein Unfall gewesen, sondern vom KGB
willentlich und perfide hervorgerufen.
In Auftrag gegeben habe den
Mordbefehl Dimitri Trofimowitsch Schepilow (1905 – 1995). Warum? Aus Rache! –
Denn: In einem Aufsatz Kadar hat seinen
Tag der Angst erlebt (aus: Franc-Tireur, v. 18. März 1957) hatte Camus
mehrfach „Minister Schepilow“ beschuldigt, „Massenmorde … angeordnet und
gedeckt“ [neu abgedruckt in: Albert Camus, Fragen
der Zeit, Rowohlt 1970, S. 182] zu haben.
Nur: als Camus’ Artikel erschien, da war Schepilow
schon seit einem Monat vom Amt dispensiert; er war überhaupt nur acht Monate
Außenminister (vom 1. Juni 1956 – 15. Febr. 1957), Gromyko wurde sein
Nachfolger. Und im Juli 1957 war seine Karriere ohnehin zuende. Denn er wurde
beschuldigt, zusammen mit Molotow (seinem Vorgänger), Kaganowitsch, Malenkow,
Bulganin, Woroschilow, [„ … und Schepilow, der sich ihnen angeschlossen hatte“,
wie die abstufende Polit-Formel für Mitläufer
(‚Primykajuschtschi’) lautete], einer parteifeindlichen Gruppierung angehört zu
haben. Noch im Rechenschaftsbericht Chruschtschows vom Oktober 1961 vorm XXII.
Parteitag der KPdSU werden diese sog. „Fraktionsmacher“ namhaft gemacht (vgl.
die gedruckte Rede, Berlin Dietz Verlag 1961, S. 123).
Die nur noch rhetorische Frage lautet
nun: Kann sich irgendjemand wirklich vorstellen, dass Schepilow (selbst als
Parteifeind nur einer ‚zweiter Klasse’!) drei Jahre nach seiner Kaltstellung
dem KGB eine Anweisung hätte geben können? Der wäre doch schon nicht an der
Anmeldung in der Ljubjanka vorbeigekommen …
Dimitri T. Schepilow (geb. in Aşgabat/Turkmenien)
war anfänglich ein begabter Ökonom, wurde dann im Großen Vaterländischen
Krieges (1941-1945) zur Armee eingezogen, als Polit-Chef der 4. Gardearmee, die
im Frühjahr 1942 aufgestellt wurde. Mit ihr befreite Schepilow (inzwischen
Generalmajor) im Frühjahr 1945 Österreichs Hauptstadt Wien, die er vor
Plünderungen bewahrte. Schepilow bekam im Mai 1945 vom amerikanischen General
Patton den höchsten Militärorden der USA und er wurde Ehrenbürger von Wien. –
Nach Stalins Tod 1953 wurde er von Chruschtschow in die Vorbereitung des XX.
Parteitages einbezogen. Er begleitet auch (damals als Chefredakteur der Prawda) Ende Mai 1955 Chruschtschow auf
die Reise nach Belgrad, um den Bruch mit Tito zu beheben.
Nach dem abrupten Ende seiner
Karriere lebte Schepilow mit subalterner Arbeit in der Provinz. U.a. seit 1957
Stellv. des Direktors des Instituts für Ökonomik der Akademie der
Wissenschaften in Kirgisistan, ab 1982 Rentner und zugleich ehrenamtlicher
Archivar bei der Archivverwaltung beim Ministerrat der UdSSR. 1962 wurde er aus
der KP ausgeschlossen, 1976 wiederaufgenommen. – Begraben wurde Schepilowauf
dem berühmten Moskauer Nowodewitschi-Friedhof.
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