Erschienen in Ausgabe: No 67(9/2011) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Christian Danz
Die Formel ‚das, was uns unbedingt angeht’ bildet,
wie es Trutz Rendtorff 1989 formuliert hatte, die Erkennungsmelodie des
theologischen und religionsphilosophischen Denkens Paul Tillichs. Der vor 125
Jahren am 20. August in Starzeddel bei Guben im heutigen Polen geborene Tillich
gehört ohne Zweifel zu den einflussreichsten und wichtigsten Theologen des 20.
Jahrhunderts. In seinem Werk verbinden sich philosophisches und theologisches
Interesse zu einer fulminanten Synthese. Das mag auch an der griffigen Formel
‚das, was uns unbedingt angeht’ liegen, die seit den 1920er Jahren eine
Schlüsselstellung im Werk Tillichs einnimmt und in der sich unterschiedliche
Perspektiven auf Religion und Kultur überschneiden. So kann Tillich von Gott
als dem, was uns unbedingt angeht, sprechen, die Formulierung aber auch für die
Religion insgesamt gebrauchen.
Tillich, der sich schon als Schüler für
Philosophie interessierte, studierte von 1904 bis 1908 Theologie in Berlin,
Tübingen und Halle. Von besonderem Einfluss auf die Ausformung seines eigenen
Denkens war ein viersemestriger Studienaufenthalt seit 1905 in Halle, wo er
durch den Privatdozenten der Philosophie, Fritz Medicus, mit dem sich um die
Jahrhundertwende formierenden Neoidealismus bekannt wurde. Das früh ausgeprägte
Interesse an philosophischen Fragen ist für Tillichs gesamtes Lebenswerk
bestimmend geblieben. Es schlägt sich bereits in seinen beiden Dissertationen
zur Religions- und Geschichtsphilosophie F.W.J. Schellings nieder, von dem er
später sagte, er sei sein Lehrer gewesen. Doch was faszinierte den jungen
Theologen an den spekulativen Konstruktionen der idealistischen Philosophen?
Wie viele andere seiner Generation sah Tillich in dem spekulativen Idealismus
das Heilmittel für die als krisenhaft erfahrene eigene Gegenwart zu Beginn des
20. Jahrhunderts. Modernisierung und Industrialisierung hatten im Laufe des 19.
Jahrhunderts zunehmend die deutsche Gesellschaft verändert. Überkommene
Normensysteme verloren ihre Plausibilität. Dies spiegelt sich in den
zeitgenössischen theologischen Diskursen, in denen über die Absolutheit des
Christentums gestritten wurde. Um die Normenkrise der bürgerlichen Gesellschaft
konstruktiv zu bearbeiten, greift Tillich auf Schellings Religions- und
Geschichtsphilosophie zurück. Die spekulative Arbeit am Begriff soll der aus
den Fugen geratenen Gegenwart ein neues und vor allem festes Fundament
verschaffen.
Tillich arbeitete schon vor dem Ersten
Weltkrieg ein ambitioniertes Programm einer geschichtsphilosophisch fundierten
Theologie aus. Die sich am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend durchsetzende
Einsicht in das geschichtliche Gewordensein aller Normen und Wahrheiten wendet
er konstruktiv auf das Christentumsverständnis an. Die Absolutheit des
Christentums erblickt er darin, dass mit dem Christentum das Bewusstsein um die
geschichtliche Wandelbarkeit aller Normen und Werte in die Geschichte
eingetreten sei. Der christliche Glaube wird von Tillich im Kern als
Geschichtsbewusstsein, als Wissen um die notwendige Wandelbarkeit der Wahrheit
in der Geschichte verstanden. Darin liegt nicht nur die Modernität der
protestantisch christlichen Religion, sondern auch die Bedeutung der Theologie
für die moderne Kultur.
Nach dem Ersten Weltkrieg hat Tillich sein Verständnis
einer modernegemäßen Theologie in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen
Strömungen seiner Zeit weiter profiliert. In den Mittelpunkt seiner
Religionstheorie und Theologie tritt der Begriff des Sinns. Mit dem
Sinn-Begriff knüpft Tillich an die sinntheoretischen Debatten um die
Jahrhundertwende bei Gottlob Frege, im Neukantianismus und in der
Phänomenologie an. Tillich ist der erste Theologe, der den Sinnbegriff als
methodische Grundlage einer Religionstheorie aufnimmt. Das gibt Tillich die
Möglichkeit, seine Religionstheorie zu einer Kulturtheologie zu erweitern. In
den 1920er Jahren prägte Tillich die Formel ‚das, was uns unbedingt angeht’.
Sie steht im Kontext der frühen Sinntheorie. Den von Kant geschaffenen und im
Deutschen Idealismus aufgenommenen Begriff des Unbedingten deutet Tillich
sinntheoretisch. Das Unbedingte ist kein Seiendes, sondern Sinn. Tillich geht
es in seinem Denken um den religiösen Gehalt der modernen Kultur. Die moderne
Kultur soll auf ihre religiöse Tiefendimension hin durchsichtig gemacht werden.
Ausgeführt hat Tillich diese sinntheoretische Kulturtheologie in seinen frühen
Hauptwerken Das System der Wissenschaften
nach Gegenständen und Methoden (1923), Religionsphilosophie
(1925) und seiner zeitdiagnostischen Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart (1926). In den unterschiedlichen
Dimensionen des modernen Lebens, in der Kunst, der Architektur, der
Wissenschaft, der Moral etc. findet Tillich die Religion und ihr unbedingtes
Anliegen.
Stationen des akademischen Weges von
Tillich waren Berlin, Marburg, Dresden und Frankfurt am Main. Nach Frankfurt
wurde Tillich 1929 als Nachfolger von Hans Cornelius als Professor für
Philosophie und Soziologie berufen. Sein Frankfurter Assistent war Theodor W.
Adorno, der sich bei Tillich mit einer Arbeit über Kierkegaard habilitierte. Tillich,
der in Deutschland nie einen Lehrstuhl für Systematische Theologie innehatte,
wurde 1933 als einer der ersten nichtjüdischen Hochschullehrer von den Nazis
von seiner Frankfurter Professur für Philosophie und Soziologie beurlaubt und
emigrierte noch im selben Jahr in die USA, wo er bis zu seinem Lebensende
lehrte. In den USA erschien nach Jahren der existentiellen und beruflichen
Unsicherheit seit den 50er Jahren sein dreibändiges Hauptwerk mit dem Titel Systematische Theologie. In diesem Buch
fasste Tillich den Ertrag seines lebenslangen Ringens um eine zeitgemäße
Deutung der christlichen Botschaft zusammen. Einem großen Leserpublikum wurde
Tillich mit seiner 1952 erschienenen Schrift Der Mut zum Sein bekannt. Tillich, der in den USA zu einem breiten
Ansehen gelangte und ein gefragter Redner war, lehrte zunächst in New York und
später in Harvard und Chicago. Er starb am 22. Oktober 1965 in Chicago.
Signifikant für das theologische Denken
Paul Tillichs ist die Suche nach dem Unbedingten in allen Bereichen der Kultur.
Die moderne Kultur und ihre Tragödie werden bei Tillich zum Thema der
theologischen und religiösen Reflexion. In seiner sinntheoretisch fundierten
Religionstheorie versteht Tillich Religion als eine Haltung des Bewusstseins.
Sie zeichnet sich dadurch von anderen Haltungen des Bewusstseins aus, dass sie
auf das Unbedingte als Sinn gerichtet ist. Das geht natürlich nur durch die
kulturellen Formen des Bewusstseins hindurch. Auf diese Weise kann Tillich
Religion und Kultur sowohl unterscheiden als auch in einem präzisen Sinne
aufeinander beziehen und zugleich an einer grundlegenden Funktion der Religion
für die moderne Kultur festhalten. Sie ist der Ort in der Kultur, an dem sich
das kulturelle Handeln des Menschen in seiner Tiefenstruktur verständlich wird
und das Sich-Verstehen symbolisiert. Tillich hat dieses differenzierte
Verhältnis von Religion und Kultur prägnant so zusammengefasst, dass die
Religion die Tiefendimension der Kultur und die Kultur die Form der Religion
sei. In jedem Bewusstseinsakt liegen gewissermaßen Religion und Kultur
ineinander, sie sind aber nicht dasselbe. Die Kultur und ihre Schöpfungen sind
autonom. Religion entsteht beim einzelnen Menschen nur kontingent, und zwar als
Reflexivität des kulturellen Handelns des Menschen. Die religiösen
‚Gegenstände’ wie Gott, Christus, Geist sind also keine Gegenstände, die
irgendwo in einer transzendenten Welt zu lokalisieren wären, sondern
Selbstbeschreibungen dieser Reflexivität. Tillich nennt sie religiöse Symbole.
Der von Tillich in den 1920er Jahren
geprägten Formel ‚das, was unbedingt angeht’ liegt der eben skizzierte
sinntheoretische Religionsbegriff zugrunde. Gott als das, was den Menschen
unbedingt angeht, meint keinen transzendenten Gegenstand, sondern der
Gottesbegriff fungiert als eine religiöse Beschreibung der Sinnerfassung und
Sinnreflexion des Menschen. In der Unendlichkeit und Unbedingtheit des Sinnes,
den wir nur als ein Überschreiten von konkreten Sinnerfahrungen erleben können,
liegt die innere Transzendenz des Sinnes. Religion ist für Tillich im Kern
Sinnthematisierung. Mit seiner sinntheoretischen Religionstheorie will Tillich die
überlieferte christliche Religion und ihre komplexen Symbolwelten unter den
Bedingungen der Moderne neu erschließen. Religion ist kein Bereich neben der
Kultur, der vielleicht immer kleiner wird und dem eine ‚säkulare’, autonome
Kultur gegenübersteht. Vielmehr ist die Religion als die Tiefendimension der
Kultur auf die gesamte Kultur bezogen. Ihr Thema ist die Frage nach dem Sinn
menschlichen Lebens in einer Welt, in der es keine metaphysischen oder
kosmologischen Sinngarantien mehr gibt.
Tillichs sinntheoretische Kulturtheologie,
die von ihm ausgearbeiteten analytischen Kategorien zur Erfassung des komplexen
religiösen Feldes, dürften auch für die gegenwärtigen Debatten um religiösen
und kulturellen Pluralismus von hohem Interesse sein. Zwar mag gegenüber der
konkreten Ausgestaltung der Kulturtheologie durch Tillich gelten, was einst
Ernst Troeltsch über Friedrich Schleiermacher bemerkte – es könne kein Stein
auf dem anderen bleiben –, aber ebenso sicher ist auch das andere, sein
Programm bleibt das Programm aller wissenschaftlichen Theologie.
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