Erschienen in Ausgabe: No 68 (10/11) | Letzte Änderung: 04.08.13 |
Implodiert der Westen? Zum drohenden finanziellen Bankrott kommt der geistige
von Robert Lembke
I
Vielleicht
hatte Spengler doch recht mit seiner markigen These vom „Untergang des
Abendlandes“. Statt Abendland sprechen wir, obwohl es geographisch kaum mehr
Sinn macht, inzwischen von „dem Westen“. Desgleichen weckt das Wort Untergang
irreführende Assoziationen, es klingt nach plötzlichem Verschwinden, z.B. einer
Stadt wie Atlantis oder Pompeji. Gemeint aber hatte es Spengler anders, nämlich
als langsamen und schmerzhaften Niedergang, als Martyrium des kulturellen
Verfalls im großen Maßstab.
Vielleicht
sind wir Zeuge, wie es beginnt oder besser begonnen hat, und allmählich wird es
immer schwerer, es zu verleugnen oder zu verdrängen. Die EU, die als Bollwerk gegen
Globalisierung und autoritären Kapitalismus gemeint war, scheint
so schwach wie nie. Das haben jetzt auch die Politiker verstanden und wollen
sie aus dem politischen Abseits holen. Vielleicht bräuchte sie zunächst, und
das meine ich ganz ernst, eine PR-Agentur, die ihr ein wenig mehr Aura
verleiht, die höhere Weihe einer großen, zukunftsweisenden Idee.
Universalisierung,
Rationalisierung und Technisierung haben die Sinnfundamente des Westens
ausgehöhlt und aufgezehrt; man braucht nicht mehr zu beschwören und schwarz zu
malen; es reicht völlig aus, die Augen vor der Realität nicht zu verschließen.
Wie sieht sie aus, jene Realität, in der wir leben? Verwahrlosung und Verrohung
dehnen sich aus auf breite Bevölkerungsschichten, krasser Egoismus, Beschleunigung
und Leistungsdruck führen vermehrt zu psychischen Erkrankungen, gewaltsame
Familiendramen sind an der Tagesordnung, sexueller Missbrauch dehnt sich von
Einzeltätern auf ganze gesellschaftliche Gruppen und Institutionen aus. Bei
Amokläufen an Schulen sterben regelmäßig Unschuldige, Nachbarn erschießen sich
neuerdings selbst in Deutschland, wo es kaum Waffenbesitz gibt.
Man
könnte die Reihe noch eine Weile fortsetzen, zu bemerken ist jedoch: Es handelt
sich in der Mehrzahl um empirische belegbare Fakten, also objektive Daten,
keine lediglich ‚gefühlten‘, subjektiven Eindrücke. Zudem häufen sich Fälle von
menschlichem oder technischem Versagen; Paul Virilio sprach vom „integralen
Unfall“: Mit der steigenden Zahl von Vorgängen und Entscheidungen pro Zeiteinheit
wird ein System immer störungsanfälliger, es kommt fast zwangsläufig zu
Zwischenfällen – oft mit Todesfolge –, mit denen sich das System künstliche
Ruhepausen schafft. Eine Bibliothek brennt, Häuser werden in die Tiefe
gerissen, Züge entgleisen oder stoßen zusammen, auf der Autobahn kommt es zu
infernoartigen Massenkarambolagen, in Großstädten fällt zeitweilig der Strom
komplett aus – und so weiter und so fort. Auch hier ließe die Reihe sich
fortsetzen, ohne dass man von der Natur verursachte Kalamitäten und
Katastrophen miteinbezieht.
Ist jene
Zusammenstellung von Fakten bereits tendenziös? Mit anderen Worten,kann man ihr Zynismus vorwerfen – oder ist
sie stattdessen Ausdruck eines angemessen Realismus, der den allmählichen
Verfall oder besser die Implosion der westlichen Kultur anzeigt? Fast jeder
Leser kennt das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis aus dem Jahr 1911. Wer
es wieder liest, wird eine gewisse Aktualität der Stimmung kaum leugnen können.
Es gibt dort die harmlos-naiv anmutende Zeile „viele Menschen haben einen
Schnupfen“ – wenn es doch nur so wäre. Doch zu den Grippetoten kommen Opfer von
Zivilisationskrankheiten im eigentlichen Sinn des Wortes, solchen nämlich, die
die Zivilisation erst geschaffen hat, z.B. in dem sie das barbarische
industrielle Regiment der Massentierhaltung aufrichtete: von der Vogel- über
die Schweinegrippe zu den EHEC-Opfern, und besorgt fragt man sich, was als
nächstes kommt. Der Tod, er ist kein Meister aus Deutschland mehr, sondern ein
wandelbarer Geselle, und für einen etwas längeren Augenblick trägt er nun das
schmucke Antlitz des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik.
II
Wenn
nicht alles täuscht, so begründet dessen kaltblütige Tateine neue Epoche in der
Geschichte des Westens. Zum ersten Mal seit den frühen 80er Jahren entsprang
eine terroristische Tat nicht antiwestlichenMilieus, die aus der Ferne gesteuert werden, sondern den liberalen
Wohlstandsgesellschaften selber. Es handelt sich jedoch auch nicht um den
bekannten rechtsextremistischen Terror, wie er etwa in den 90er Jahren in
Deutschland regelmäßig ausbrach. Denn erstens waren diesmal die Opfer keine
Ausländer, sondern meist junge Bürger, die vom Täter einer bestimmten geistigen
Richtung zugerechnet wurden. Und auf Täterseite fällt auf, dass Breivik
wesentlich allein und auf eigene Rechnung agierte; seine Tat ist kein Ausdruck
einer bestehenden Gruppenideologie, höchstens einer eingebildeten. Laut Plan
sollte sie als initiales Fanal wirken, verstärkt durch einen medienwirksamen
Auftritt in der Gerichtsverhandlung.
Schaut
man sich das Kalkül des Terroristen genauer an, so wird seine Nähe zum
Hitlerismus deutlich: Da ist dieses 1500-seitige Manifest, das im ersten Moment
unheilvoll an „Mein Kampf“ erinnert; und da ist die mitleidlose Tötung einer
möglichst großen Zahl unschuldiger Menschen, die zu ultimativen Feinden
stipuliert werden. Was Hitler die Juden waren, sind Breivik die „kulturellen
Marxisten“ der Sozialdemokratie. Der Unterschied liegt in Maßstab und
Rationalität des Vorgehens: Anders als Hitler handelt Breivik als Privatmann,
er verfolgt, wenn man das überhaupt noch als rationales Vorgehen begreifen
kann, eine Politik der Ansteckung – möglichst viele Gleichgesinnte sollen es
ihm nachtun und damit einen reaktionären Sturm entfachen, einen gewaltsamen
„Kreuzzug“ gegen die multikulturelle Verderbnis des christlichen Abendlandes.
Breivik
ist nicht bloß ein Ritter von der traurigen Gestalt, er ist der
fleischgewordene, uns frech anblickende Nihilismus.
Während
jedoch Hitler in politisch rationaler Weise den Marsch durch die Institutionen
antrat, um sich an die Spitze des größtes verfügbaren Machtapparates zu setzen,
bevor er sein geschichtlich einmaliges Zerstörungswerk begann, betreibt Breivik
eine Art anarchische Subversion mitten im bestehenden gesellschaftlichen
Umfeld. Beiden jedoch wird die Gewalt zum Selbstzweck, der Tod der anderen zum
letzten Wort. Es handelt sich um jene „verwilderte Selbstbehauptung“, die mit
der Überschreitung der letzten Grenze auch das Worumwillen ihres vermeintlich
weltanschaulichen Programms aus dem Blick verliert.
In
auffälliger Weise entspricht Anders Behring Breivik damit dem standardisierten
Feindbild des amerikanischen Films: Er ist der Dämon, der aus der Mitte unserer
vermeintlich so friedvollen Wohlstandsparadiese den gewaltsamen Tod bringt. In
dem aktuellen Film „Source Code“ etwa ist der Held ein als Torso aus
Afghanistan zurückgekehrter US-Soldat, der künstlich am Leben erhalten wird.
Sein Gehirn wird mittels eines Computersystems mit dem eines Anschlagopfers
verbunden, so dass er die Möglichkeit erhält, die letzten acht Minuten dieser
Person wieder und wieder zu durchleben. Der Terrorist, den er schließlich nach
wiederholten Sitzungen identifizieren kann, entpuppt sich als sozial isolierter
Weißer, ängstlich, schwach und weltverdrossen, der beim Versuch ertappt wird,
seine Vernichtungsphantasien in die Tat umzusetzen.
III
Während
der wirkliche Bankrott des Westens durch immer neue Sparpakete und
Rettungsfonds, durch intensives Schuldenmachen hinausgezögert wird, ist –
weniger sichtbar – der Bankrott seiner Ideen beinahe abgeschlossen. Wir erleben
nun wirklich jene von verschiedenen Denkern vorausgesagte Zeit, „in der alle
Ideen sich blamiert haben“ (Karl Mannheim), jenen Nihilismus der Kultur, der
als subjektiv artikulierter noch stets jenen, die ihn verkündeten, als
Hartherzigkeit oder persönliches Versagen zugerechnet wurde. Breiviks Tat
erweist sich als nihilistischer Akt, der durch die Art seines Zustandekommens
jedwede mit ihm verbundene ideologische Zielrichtung dementiert. Mehr noch als
das Phänomen Amoklaufaber macht
Breiviks Handeln auch den objektiven kulturellen Nihilismus sichtbar. Man kann
den norwegischen Attentäter – auch kulturräumlich – als radikalen Jünger
Kierkegaards ansehen, der gegen die Verlogenheit der Kultur nicht mehr nur mit
dem Wort, sondern mit der Waffe ankämpft. Aber sein vorgeblicher „Glaube“, von
dem er sagt, er mache ihn wertvoller als 1000 Menschen mit bloßen „Interessen“,
und der ihn in jenem Augenblick zum
drastischsten Tun verführt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als
oberflächlicher, eklektizistischer Remix, als bloßer „Mash-up“ (Sascha Lobo)
fremder Texte und disparater Ideen. Die Individuen haben, frei nach Adorno, dem
falschen Ganzen, das sich zum geschichtsmächtigen Universellen aufgespreizt
hat, nichts Substantielles mehr entgegenzusetzen; es bleibt ihnen nur noch die
Wahl zwischen Resignation und dem Versuch, die Barbarei der Realität durch
Gewalt zu überbieten.
Was wäre
nun, wenn die jüngsten Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrisen nichts anderes
sind als Folgen des Versuchs, die Idee vom Wohlstand für alle zu retten? Jenes
Wohlstands, an denen wir im Westen uns gewöhnt hatten und der irgendwann in den
90er Jahren seine Selbstverständlichkeit verlor? Während der vergangenen 20
Jahre ist dem Abendland recht unversehens ein neuer Gegner erwachsen, der
autoritäre Kapitalismus, der im chinesischen Modell am reinsten und
erfolgreichsten verkörpert zu sein scheint. Noch steht die Freiheit zwischen
uns und denen. Noch werden prowestliche chinesische Künstler hofiert und
Dissidenten mit Preisen ausgezeichnet. Doch nichts garantiert, dass Hegels Einsicht,
die Geschichte werde vom Drang nach Freiheit vorangetrieben, noch in Geltung
ist. Wie ein Symbol wirkt es da, dass der kranke Mann jenseits des Atlantiks
mehr und mehr zum Schuldner Chinas wird. Sehen wir hier den Kampf des alten und
neuen Geistes am Horizont aufziehen? Ist Gary Shteyngart, in dessen düsterer
Zukunftsvision Super Sad True Love Story
die USA am Tropf Chinas hängen, der rechte Prophet zur rechten Zeit?
Wer
immer eine gewisse Antipathie dem Westen gegenüber hegt, sei versichert, dass
die eröffnete Perspektive eines asiatischen Zeitalters so unerfreulich wie nur
irgend denkbar ist. In jener brave
newworld wird die Entseelung noch weiter vorangetrieben und das Individuum
noch weiter entmündigt werden. Seiner politischen und rechtlichen Freiheit
beraubt, wird der Bürger nur noch die Karikatur dessen sein, wie ihn der
Fortschrittsoptimismus der Aufklärung imaginierte.Von den großen Ideen der
Aufklärungszeit, Wohlstand, Fortschritt, Demokratie, Freiheit ist nur die der
Freiheit noch nicht vollends kompromittiert. Wie lange wird es dauern, bis auch
dieses letzte aufrechte Banner des Westens im Kampf der Kulturen preisgegeben
werden wird?
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