Erschienen in Ausgabe: No 68 (10/11) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
Die neukatholische Romfeindschaft der Germanen-Kirche hat tiefe Wurzeln. Ob Benedikt XVI. bei seinem September-Besuch dafür aber die „Herzen des Volkes“ gewinnt?
von Martin Mosebach
Dass ich ein deutscher Katholik bin, habe ich in Frankreich gelernt.
Das war auf einer der großen Pfingstwallfahrten von Paris nach Chartres;
Charles Péguy, der bedeutendste Dichter und Essayist, Redner und
Zeitschriftenmacher des „renouveau catolique“, hatte sie vor dem Ersten
Weltkrieg gegründet, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war sie, wie so
viele populäre, fromme Übungen eingeschlafen, um dann von der Bewegung für die
katholische Tradition wiedererweckt zu werden. Im laizistischen Paris erregt es
immer noch ungläubiges, gelegentlich entrüstetes Kopfschütteln, wenn sich der
Zug der Zehntausend vor Notre Dame formiert und seinen Weg durch die stillen
Straßen am frühen Morgen beginnt. Gut zufuß sollte man sein für die
hundertzwanzig Kilometer, die in drei Tagen in durchaus strammem Tempo zu bewältigen
sind. Unterwegs wird gebetet und gesungen; bei jeder Rast im Wald verteilen sich
rings um das Lager Priester mit Rochett und violetter Stola, um Beichte zu hören,
und auf einer der schönsten Lichtungen im Buchenwald von Rambouillet wird ein
feierliches Hochamt zelebriert.
Sich in der Religion ausruhen können
Dann verlässt der Zug den Wald und erreicht die weite Ebene
von Chartres. In der Ferne steigt die Kathedrale aus den Kornfeldern;
unübersehbar windet sich der Pilgerzug, einem Heerzug, von Standarten umflattert,
vergleichbar diesem heiligen Ort entgegen. So könnte der Heerzug ausgesehen
haben, den Jeanne d’Arc, das geheimnisvolle Hirtenmädchen aus Domremy in
Lothringen, gegen die Engländer führte, dieser Einfall stellte sich blitzartig
ein, und in dies Bild passte, was in unserer Marschabteilung, die ein junger Offizier
führte, gesungen worden war: alte Soldatenlieder, in denen der Marschall Turenne
vorkam, und „Sainte Marie, reine de France“, und welche Heiligen in der Litanei
angerufen worden waren: nach der Gottesmutter vor allem eben die Jungfrau von
Orleans, König Ludwig der Heilige, der Pfarrer von Ars, die heilige Solange und die kleine heilige Therese von
Lisieux.
Diese französischen Pilger blickten zu einem Gott auf, der
Franzose war – auf eine beneidenswerte Weise war ihre Religion und ihre Kultur,
Katholisch-Sein und Franzose-Sein etwas Identisches geworden. Eine
Bruchlosigkeit war das, ein Sichin-der-Religion-Ausruhen-Können. Es wäre falsch
zu sagen, dass ich mich von meinen Mitpilgern ausgeschlossen gefühlt hätte, im
Gegenteil, sie waren höchst gastfreundlich und das auch im spirituellen Sinne,
ihr Enthusiasmus war ansteckend. Aber es blieb doch der Eindruck, dass dieser
Katholizismus auf eine Weise selbstsicherer ist und im schönst möglichen Sinne mit
der eigenen Verfassung zufrieden, nicht mit ihr hadernd, ohne unruhevolle Sehnsucht,
wie ich es als deutscher Katholik nicht kannte.
Ein Katholik sein, das hieß für mich: etwas anderes, sogar
mehr zu sein als ein Deutscher. Der Katholik war Oberbegriff, dem die
Volkszugehörigkeit sich unterordnete. Mit dem Katholischsein trat ich aus
meinem Deutschersein einen wichtigen Schritt heraus. Das Schimpfwort der Bismarck-Kulturkämpfer,
die Katholiken seien keine treuen Untertanen des preußischen Königs, sondern
pflegten eine Mentalreservation gegenüber dem Staat, sie seien „Ultramontane“,
die in ihrer Loyalität jenseits der Berge gebunden, dem fernen römischen Papst
ergeben – wie zutreffend fand ich dies Wort für mich. Musste ein katholischer
Deutscher aus seiner ganzen Geschichte heraus nicht ultramontan sein? Was war
die Idee einer Fortsetzung des untergegangenen Weströmischen Reichs durch die
deutschen Könige anders als Ultramontanismus? Dies karolingische römische
Reich, das später den Zusatz „deutscher Nation“ erhielt, war kein Nationalstaat
– es war lange in seiner Unfähigkeit un seinem Unwillen, die Gewalt zu
monopolisieren, überhaupt den Staat.
Dies römisch-deutsche Kaisertum beanspruchte, als überaus
loser Verbund, der vielfach nur auf juristischen Fiktionen beruhte, das Reich
aller Christen zu sein. Wo der Katholizismus sich mit seiner politischen
Vorstellung verband, da geschah das in Deutschland in Form des Heiligen
Reiches, das wie die Glucke über den Küken mit seinen Flügeln eine Familie christlicher
Nationen beschirmte. Wie oft ist diese Idee verhöhnt worden, wie grausam hat
sich ihre Ohnmacht in der Geschichte bestätigt! Aber das änderte nichts daran,
dass es sie gab. Ideen beweisen ihre Lebensfähigkeit und Kraft, die Imagination
zu beherrschen, nicht durch ihre Realisierung – im Gegenteil, die Realisierung
gibt einer politischen Idee meist den Todesstoß. Dass nach dem Zweiten
Weltkrieg drei Katholiken – für zwei davon, Robert Schuman und Alcide de
Gasperi, läuft ein Seligsprechungsprozeß – nach einer unumkehrbar gewordenen
Säkularisation noch einmal ihren Traum vom Reich Karls des Großen träumten und
ihn einer laizistischen Öffentlichkeit mit wirtschaftlichen Argumenten gleichsam
unterschieben wollten, auch das ist ein kräftiger Nachhall dieser alten, für
gescheitert erklärten Reichsidee; kein Wunder, dass es gerade die Deutschen waren,
die sich dafür begeisterten, und es war nicht nur der verlorene Krieg, sondern
eine wieder zutage tretende politische Disposition, eine sozusagen genetische Inklination
in Richtung auf einen übernationalen Reichsgedanken, die eine solche
Begeisterung begünstigte.
Streit und selbstmörderischer Selbsthaß
So typisch solch ein katholischer Ultramontanismus und
Über-Nationalismus für Deutschland auch ist, sowenig kann verschwiegen werden,
dass diese unter den europäischen Kulturen einzigartige Haltung für viele
Deutsche immer schon eine Überanstrengung bedeutete, der sie nicht gewachsen
waren. Die „Discordia Germaniae“ reicht in die Zeiten des Tacitus. In seinem
ersten Augenblick einer kulturellen Existenz, in seiner Teilung in einen von
den Römern kolonisierten und einen barbarischen Teil, war mein deutsches Vaterland
schon gespalten. In diesem Augenblick, da der Blick eines Kulturvolkes – des
Kulturvolkes schlechthin – die Deutschen wahrnahm und beschrieb, gehörte der
Geist unversöhnlichen Streites und selbstmörderischen Selbsthasses schon zu
ihnen; in der Geschichte wurde diese Anlage in jedem Jahrhundert immer wieder
neu und immer gnadenloser durchdekliniert. „Es gibt einen antirömischen Affekt“,
so beginnt ein berühmter Essay von Carl Schmitt; die Romtreue, der
Ultramontanismus des katholischen Deutschen, wurde immer begleitet von einem
Rom-Hass, einer nationalistischen Selbstgenügsamkeit von einem anderen Teil der
Deutschen. Die Reformation Martin Luthers, die den Bürgerkrieg in meinem Land
zu einer Konstante werden ließ, der dreißigjährige Krieg, die Säkularisation, der
Kulturkampf, die „Los-von-Rom“-Bewegung, das sind die einzelnen Phasen der
damals schon begonnen habenden Entwicklung, zu der im geistigen immer schärfere
Angriffe von Wissenschaft und Philosophie auf die römische Kirche gehören.
Rudolf Borchardt, der größte jüdische Essayist und Philologe, hat in der
aufkommenden Nazi-Zeit die Hitler-Partei als Ausfluss dieser antirömischen Neigung
gesehen: „Das deutsche Volk en masse hat eben die europäische Kultur, die ihm
importiert worden ist, nie wirklich rezipiert und sich vielmehr immer zu großen
Teilen in stummer Auflehnung gegen sie befunden… Nur im deutschen Volke lebt
immer heimlich und hält sich zäh in den Winkeln der Einzelnen und der
Gesamtheit der wütende Argwohn, durch das Christentum eigentlich gefoppt zu
sein und durch Rom nur ausgebeutet und dupiert, durch die Höfe genarrt, durch
Mittelalter und Kirche verhöhnt, durch die Wissenschaft dummgemacht, durch
Frauenkultur und Höflichkeit entnervt, durch den Geist verraten,… durch die
große Form schließlich… das Reich, buchstäblich zugrunde gerichtet.“
Das Neue an dieser Situation ist, dass es das Gegenüber der
christlichen Parteien, der römischen Katholiken und der antirömischen
Protestanten in weiten Regionen so nicht mehr gibt, weil die Überzahl der
katholischen Theologen und offiziellen Repräsentanten, gerade auch der Laien,
zu leidenschaftlichen Romfeinden geworden sind. Der auf die Ökumene mit den
Protestanten fixierte nachkonziliäre Katholizismus ist jetzt zur Speerspitze der
Romfeindschaft geworden – man könnte sogar sagen, die neukatholische Romfeindschaft
ist bisher der einzige reale Ertrag der nachkonziliären ökumenischen Bewegung.
Der für Deutschland einst typische Ultramontane ist längst in die Minderheit
gedrängt – innerhalb der deutschen katholischen Kirche hat er kein Forum und
keine Anwälte und als wissenschaftlicher Theologe keine Aussicht auf eine
Berufung.
„Dialog“ zur Gründung einer Nationalkirche
Ein Deutscher als Nachfolger Petri hat das
Aggressionspotential dieser Entwicklung erst richtig sichtbar gemacht. Ein deutscher
Papst aus der berühmten, aber überwunden geglaubten Fraktion des
Ultramontanismus provoziert die antirömischen Kräfte im deutschen Katholizismus
zur Entscheidung. Der Papstbesuch, der für Ende September geplant ist, hat für mich
deshalb eine einzige historische Parallele: den Besuch Papst Pius’ VI. bei
Kaiser Joseph II. in Wien, um den Monarchen von der Aufhebung aller Klöster in dessen
Machtbereich abzuhalten, ein Versuch, der bekanntlich scheiterte, obwohl der
sich durchaus mit nationalkirchlichen Plänen tragende Kaiser bei dieser Gelegenheit
lernen musste, dass Katholizismus ohne Papsttum nicht zu haben ist. Die bloße
Gegenwart des Papstes gewann die Herzen des „Volkes“, wie es so schön heißt,
der kleinen Leute in Stadt und Land, die zum nicht geringen Ärger des Kaisers
in Scharen herbeiströmten und den Segen des Bischofs von Rom erflehten. Ist es
eine sehr verstiegene Hoffnung, dass auch die deutsche Kirche des
einundzwanzigsten Jahrhunderts, deren Repräsentanten sich tief in den ominösen
„Dialog“ zur Gründung einer Nationalkirche verstrickt haben, sich ihrer alten
ultramontanen Instinkte erinnern könnte und ihren Hirten zeigen würde, dass sie
nur mit dem Papst katholisch sein will und nicht gegen ihn? Oder wird Papst
Benedikt, der ein großer Patriot ist, erkennen müssen, dass es für den
deutschen Papst kein fremderes und ferneres Land gibt als sein deutsches
Heimatland?
©-Vermerk Vatican-Spezial, September 2011. (www.vatican-magazin.de)
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