Erschienen in Ausgabe: No 69 (11/11) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
Die Tabula Rasa hat auf dem XXII. Kongress für Philosophie der Deutschen Gesellschaft für Philosophie mit ihrem Präsidenten, Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D., gesprochen.
von Julian Nida-Rümelin
Herr Prof. Nida-Rümelin:
Was kann die Philosophie in Zukunft leisten?
Die Geisteswissenschaften sind gegenwärtig durch die
Reformen an den Universitäten unter Druck geraten. Das darf man nicht auf die
leichte Schulter nehmen. Ich fürchte, zumindest sehe ich darin eine Gefahr,
dass sich hier eine Entwicklung wiederholt, wie sie aus den USA ziemlich vertraut
ist, d. h. dass die harten Wissenschaften, insbesondere die
Naturwissenschaften, aber auch die social sciences im Sinne einer harten
Wissenschaft sehr stark dominieren, und dass die Geisteswissenschaften eher eine
schmückende Nebenrolle bekommen. In den USA sind die humanities, gut finanziert, weil sie für das Grundstudium nötig sind, aber sie sind
hoch ideologisiert, stärker als in Europa und in Deutschland, sie sind sehr stark
von einer spezifisch postmodernen Sichtweise geprägt. Und sie werden nicht so
ernst genommen wie man sich das wünscht. In Frankreich, Italien, Spanien und
Deutschland gibt es eine große geisteswissenschaftliche Tradition, dies ist etwas
anderes als die humanities in den USA, was man daran erkennt, dass die
Philosophie nicht zu den humanities zählt.
Die Geisteswissenschaften spielen hier in Deutschland, die
Geschichtswissenschaft, die Altertumswissenschaft, aber eben auch die Tradition
der philosophisch-historischen Forschung eine ganz zentrale Rolle. Hierbei haben
Sprachen wie Griechisch, Latein und andere eine ganz wichtige Funktion, was so in
den USA nicht angenommen werden kann, weil nur ein geringer Teil der Lehrenden
und Lernenden eine Fremdsprache behrrscht.
Ich finde diese Tradition einer starken Geisteswissenschaft
in Europa, die auch für die kulturellen Einrichtungen, für Museen, Theater,
Dramaturgen zum Beispiel, Feuilletondebatten eine Relevanz hat, dürfen wir
nicht aufgeben. Die jetzigen Reformen haben gewissermaßen den Fehler
wiederholt, den Wilhelm von Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts, aus damals
nachvollziehen Gründen gemacht hat, nämlich ein Paradigma von Wissenschaft
aufzustellen, für Humboldt war das die Philosophie – bei allem Respekt den er
gegenüber den Naturwissenschaften hatte. Für die jetzigen Reformer sind, meist
ist ihnen das kaum bewusst, das die "life sciences" als Paradigma von
Wissenschaft. Entsprechend werden die Forschungsevolutionen umgestellt und auch
die Kriterien: So werden nur noch englischsprachige Publikationen anerkannt, nur
noch Paperpublikationen und keine Buchpublikationen, zumal keine
deutsprachigen, von Tagungen und Proceedings ganz zu schweigen. Dass alles legt die
Axt an eine gewachsene Wissenschaftskultur, die für die
Philosophie von großer Bedeutung ist.
Ich muss jedoch ein "Aber" hinzufügen. Auf der anderen Seite steht
die Philosophie derzeit besser da als manch andere Geisteswissenschaft.
Beispielsweise ist die deutsche Indologie weltweit führend – anerkanntermaßen, trotzdem
ist sie massiv unter Druck geraten, muss um ihr Überleben kämpfen. Diese
Herausforderung stellt sich für die Philosophie interessanterweise nicht. Im
Gegenteil: es scheint so zu sein, dass das öffentliche Interesse an normativen
Fragen zunimmt, also an Medizinethik, an Gerechtigkeitsfragen, an normativen
Fragen der ökologischen Praxis, an Fragen der internationalen Politik, am Kosmopolitismus,
aber auch das Interesse daran, überhaupt zu verstehen, was die Wissenschaft,
die Einzelwissenschaft, zu einem in sich schlüssigen Weltbild beiträgt. Hier ist
also auch die Philosophie gefragt, gerade bei der Interpretation
neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse beispielsweise. Wenn man all dies
ohne Philosophie versucht, kommt man rasch auf Abwege.
Von daher ist die Philosophie – im Hinblick auf das
öffentliche Interesse – gut aufgestellt. Die Wissenschaftspolitik scheint
darauf auch zu reagieren und die Philosophie nicht abzuwickeln. So konnten wir
in diesen schwierigen Zeiten beispielsweise in München sogar zusätzliche
Lehrstühle einrichten.
Wie kann die
Philosophie praktisch werden, dass sie konkret im Alltag Eingang findet?
Theoretische Reflexion im Rahmen der praktischen Philosophie beispielsweise
sind ja noch nicht praxisrelevant, bzw. strukturieren und verändern den Alltag
nicht.
Da muss ich erst einmal mit einer Warnung beginnen. Es gibt
eine Erwartung, die die Philosophie nicht erfüllen kann und auch nicht den
Eindruck erwecken darf, sie könnte sie jemals erfüllen. Wenn man zum Beispiel im
14. Jahrhundert Probleme mit anderen Menschen und mit der Gestaltung seines
Lebens hatte, oder gar das Gefühl hatte, eine Sünde begangen zu haben, ging man zum Priester. Und der Priester gab einem – stellvertretend für Gott – eine
klare Antwort, entweder indem er die Sünde vergab oder Strafen auferlegte.
Diese jahrhundertealte kulturelle Praxis ist nicht vergessen, viele Menschen
wünschen sich diese auf irgendeine Weise zurück.
Für viele, nicht für alle, ist heutzutage aber klar, dass die Kirchen diese Rolle nicht mehr wahrnehmen können, weil diese nicht besonders qualifiziert erscheinen,
moralisch schwierige Fragen zu beantworten. Dies zeigte sich beim Mißbrauchsskandal
und bei der Hilflosigkeit damit angemessen umzugehen, aber auch bei der Frage nach dem
Kondomverbot in Zeiten von Aids.
In dieser Situation kommt nun die Erwartung auf, dass es
eine Instanz geben müsse – und dies sei die Philosophie. Davor warne ich. Die
Philosophie darf nicht die Rolle des Priesterstandes vergangener Zeiten
übernehmen, sie ist selber pluralistisch aufgestellt. So gibt es Gentechnikbefürworter
und -gegner, Befürworter von PID und -gegner – das hängt zum Teil eng mit
weltanschaulichen Prägungen zusammen. Es gibt nicht die eine Theorie in der
Philosophie, die alle diese Dinge und Fragen restlos klärt. Die spezifische
Kompetenz der Philosophie ist logische, gedankliche, begriffliche Klarheit,
d.h. sie kann zum Beispiel – um beim Thema PID zu bleiben – darauf hinweisen,
das es nicht logisch ist, dass man die Menschenwürde an den Beginn stellt, also
die befruchtete Eizelle vom ersten Tag schon
mit Würde und mit allem was dazugehört ausstattet und zur gleichen
Zeit der Meinung ist, dass eine Verhütung mit Hilfe der Spirale (die die befruchtete Eizelle an der Nidation hindert) moralisch
unproblematisch ist. Wenn diese Praxis legitim, moralisch unbedenklich ist,
kann es nicht sein, dass am ersten Tag nach der Befruchtung der Eizelle schon die
volle Menschenwürde vorhanden ist. Hier muss man aus logischen Gründen insistieren, sich für das
eine oder für das andere zu entscheiden, beides nebeneinander anzunehmen, geht nicht. Wie der Status der befruchteten menschlichen Eizelle nun am Ende
ist, kann die Philosophie – auf sich gestellt – allein nicht klären.
Was haben wir unter
einem Humanismus als Leitkultur zu verstehen? Was sind Elemente dieses neuen
Humanismus, Werte und Normen?
Dies war ein provokativer Titel eines Buches von mir, der 2006 bei C.H. Beck erschienen ist.
Einst war ich mit diesem Titel des Buches nicht glücklich, unterdessen stehe
ich voll dahinter.
Es ist ein Irrtum zu meinen, dass allein Rechtstreue
ausreicht, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Natürlich wird diese
Gesellschaft durch ein gemeinsames Ethos, eine gemeinsame Praxis
zusammengehalten. Da gab es, eine der wenigen Punkte eines inhaltlichen Dissenses
mit Jürgen Habermas, der jedenfalls früher der Auffassung war, Verfassungspatriotismus
reicht aus, mehr Verbindlichkeit ist nicht erforderlich.
Ich glaube, wenn der alltägliche Umgang nicht von der
Anerkennung des Anderen, von einer diskriminierungsfreien Anerkennung, geprägt
ist –, wenn junge Mädchen beispielsweise erzogen werden, ihren älteren Brüder
und ihrem späteren Mann bedingungslos zu gehorchen, oder wenn Menschen
aufstehen, wenn sich ein Farbiger in der Straßenbahn neben sie setzt, dann ist
dies zwar kein Straftatbestand und keine Rechtsnorm – ist dies unvereinbar mit
einer Demokratie. Und deswegen ist es nicht zutreffend, dass liberalistische
Theoretiker, zu denen Rawls und Habermas zählen, meinen, dass die Moralität von
der Ethik, von der Lebensform, von den Normen und Werten der Lebensform unabhängig ist. Es
gibt einen Zusammenhang.
Allerdings – die Demokratie ist so aufgestellt, dass dieser
Zusammenhang immerhin eine große Vielfalt, nicht Beliebigkeit, aber ein breites
Spektrum von Lebensformen zulässt, wenngleich sie nicht jede Lebenshaltung
toleriert. Sklavenhaltung im Privaten geht nicht, dies ist eine Verletzung der
Rechtsnorm. Der Liberalismus kann sich nicht so aus der Affäre ziehen, dass er
sagt, in der politischen Sphäre geht es um andere Dinge, da geht es nicht um
moralische Fragen, sondern nur noch um einen besonderen Aspekt nämlich den der Gerechtigkeit, dies ist der späte Rawls. Es
geht um viel mehr. Die Demokratie hat Wahrheitsansprüche, Demokratie und
Wahrheit, ein anderer Buchtitel von mir nicht zufällig so gewählt. Wenn
wir nicht fest davon überzeugt sind, dass Menschen Rechte haben, unabhängig
davon, ob diese Rechte akzeptiert sind, unabhängig davon, ob man zu einer
Gemeinschaft gehört, die diese Rechte kulturell entwickelt hat, haben wir große
Probleme, denn dann kann man beispielsweise gar nicht mehr kritisieren, wenn
zum Beispiel in bestimmten Regionen Afrikas Albinos so schrecklich behandelt
werden – das ist dort ja eine kulturelle Praxis! Oder warum Mädchen beschnitten
werden, um als erwachsene Frauen gelten zu können, die Mütter wollen das so! –
was wollte man noch dagegen sagen können, wenn man nicht in der Hinsicht moralischer
Realist ist und hervorhebt, solche Rechte seien unabhängig von jeweiligen
Praktiken, der Anerkennung. Die Demokratie, so
mein Vorschlag, ist nichts anderes als die Staatsform, die die Menschenrechte
ernst nimmt, einschließlich des Rechts auf Zugehörigkeit, auf Gemeinschaft, auf
Solidarität, auf kulturelle Entwicklung, nicht nur die
individuell-liberalistischen Rechte des 19. Jahrhunderts.
Sie plädieren dafür,
den Philosophieunterricht in den Schulen zu integrieren. Was erhoffen Sie sich
davon konkret? Ethische Fragen und philosophisches Räsonieren zählen, zumindest
unter Schülern, nicht gerade zu den Themen, die auf der Agenda ganz oben
stehen?
Es gibt eine Anomalie, eine deutsche Anomalie. Deutschland
ist, der deutsche Sprachraum in Europa, und dies kann man ohne chauvinistischen
Unterton betonen, für die Philosophie der letzten dreihundert Jahre von
zentraler Bedeutung. Es wäre nicht einmal übertrieben zu sagen, dass mehr als
die Hälfte der philosophisch-relevanten Literatur von deutschen Autoren
geschrieben wurde. Dies beginnt mit Wolff und Leibniz, mit Kant und seiner
Schule, mit Fichte, Schelling, Hegel, mit den Neukantianern des 19.
Jahrhunderts, mit der Phänomenologie, mit Husserl, Weber, Heidegger,
Wittgenstein. Aber auch mit Gottlob Frege, einer der Gründerväter der
analytischen Philosophie, ist ein deutsprachiger Autor, der Wiener Kreis ist
deutsprachig. Viele von diesen Intellektuellen und Juden sind in der Nazizeit
in die USA emigriert. Die USA war jahrzehnte lang durch diese deutschsprachigen
Emigranten geprägt. Carnap wurde über einige Jahrzehnte zur Zentralfigur der
amerikanischen Philosophie, ein Österreicher von Herkunft, aber auch sein
Gegenspieler Karl Popper – vergleichbar wichtig in der Wissenschaftstheorie.
Die Ostküstenintellektuellen haben, zum großen Teil europäischer,
deutsprachiger Provenienz, viele Juden darunter, zu einem Heraustragen von
Impulsen, die aus dem deutschsprachigen Raum in die Weltphilosophie gekommen
sind, wesentlich beigetragen.
Vor diesem Hintergrund ist es überhaupt nicht zu
begreifen, es ist eine deutsche Anomalie, dass die Philosophie, die für die
deutsche Kulturgeschichte so zentral ist, dass diese Philosophie in den Schulen
eine so beklagenswerte Randrolle spielt. Das ist im gesamten lateinischen
Sprachraum anders. Die Philosophie ist in Frankreich genauso wichtig wie Mathematik oder Französisch, in Italien ist sie ein zentrales Fach in den
Schulen. Südamerika, Argentinien, Brasilien – überall dort spielt die
Philosophie eine zentrale Rolle in den Bildungseinrichtungen. Dies erklärt
vielleicht, warum wir hier in Deutschland in öffentlichen Debatten oft ein
Zugangsproblem haben, man kennt das nicht so wie in Frankreich, Italien,
Spanien aus dem Schulunterricht, auch in den slawischen Ländern spielt die
Philosophie übrigens eine größere Rolle.
Das muss man dringend korrigieren, nicht um ein weiteres
Fach dazuzufügen, die Fächervielfalt ist schon schwierig genug unter einen Hut
zu bringen, sondern um eine Disziplin an den Schulen zu etablieren, die genau
das leistet, was Bildungsforscher fordern, die Integration. Wir haben eine
Desintegration durch den getakteten Dreiviertelstundenunterricht, die Schüler
bekommen den falschen Eindruck, dass alles unabhängig voneinander ist. Dabei
hängt alles zusammen – die Philosophie als Denkschule, als Argumentationslehre,
als Logik. Sie ist mehr als nur eine Disziplin, die das Vergangene wachhält, dergestalt
etwa, dass man gemeinsam die Klassiker auslegt, sondern eine Disziplin, wo
es um ethische Fragen, um Fragen der Rationalität, um Fragen der Erkenntnis
geht.
Mein Eindruck aus der Praxis heraus ist, dass die
Jugendlichen – und insbesondere auch die Kinder – sehr stark an philosophischen
Fragen interessiert sind. Ich habe das Experiment an einer Grundschule – vor
mehr als 90 Schülern – gemacht. Dort führte ich zum Beispiel ein philosophisches Gespräch unter
dem Thema „Warum wir nicht alles dürfen, was wir wollen“. Man muss die Kinder
anschauen und sie ernst nehmen, Souveränität und Ruhe ausstrahlen; ganz im
sokratischen Sinn gilt es das hervorzuholen, was schon da ist. Die Mäeutik ist
die beste pädagogische Praxis, was auch für nicht philosophisch gebildete, aber
interessierte Erwachsene gilt. Dabei kommen in der Regel alle philosophischen
Fragen ganz von allein im Gespräch zum Vorschein.
Bankenkrise,
Wirtschaftskrise – Sie sprachen bereits 2008 vom Ethos der Nachhaltigkeit.
Welche Regeln muss es für das „reale Monopoly“ geben, die regulierend
eingreifen?
Auch hier spielt die Philosophie eine zentrale Rolle. Aus
der Beschäftigung mit diesem Thema ist ein Buch entstanden, das in diesen Tagen auf den Markt kommt, die
„Optimierungsfalle". Darin geht es um eine Philosophie einer humanen Ökonomie.
Ich bin nicht so blauäugig anzunehmen, dass allein eine andere Einstellung,
eine anders motivierte Praxis ausreicht. Natürlich braucht es Institutionen,
Regeln, braucht auch Regulierung auf den Weltfinanzmärkten, dennoch bin ich der
festen Überzeugung, dass ein wesentlicher Teil dieser Weltfinanzkrise, auch was
uns möglicherweise jetzt noch bevor steht, damit zusammenhängt, dass sich die
Ökonomie als System aus allen kulturellen und moralischen Kontexten zunehmend,
vor allem die Weltfinanzmärkte, herausgelöst – oder zumindest versucht hat sich
herauszulösen.
Um ein konkretes Beispiel zu nehmen, das derzeit vor vielen
Gerichten verhandelt wird und daher nicht uninteressant ist: Sie gehen zu einem
Bankschalter und bitten als ganz normaler Bürger um Beratung, wie ihr Geld mit
einem gewissen Zinsertrag angelegt werden kann. Sie bekommen eine Auskunft: Und
hier müssen sie davon ausgehen können, dass diese erstens wahrhaftig ist, dass
die Person, die ihnen die Auskunft gibt, das glaubt, was sie sagt und nicht nur
danach Auskunft gibt, was sie als Belohnung erhält, wenn es zum
Vertragsabschluß kommt. Zweitens muss das, was gesagt wird übereinstimmen mit
dem, was am Ende im Kleingedruckten steht. Niemand kommt in einer humanen
Ökonomie auf die Idee, dass man jeden Nebensatz lesen und zum Anwalt laufen und
sich beraten lassen muss, was dort drin steht – wenn man also damit
einverstanden ist, geht man davon aus, dass das, was gesagt wurde mit dem
Vertragsinhalt übereinstimmt. Das ist aber offenkundig nicht
selbstverständlich. Deswegen wird gegenwärtig in Tausenden von Fällen vor
Gericht gestritten.
Das heißt aber: Grundregeln der menschlichen
Verständigungspraxis, Wahrhaftigkeit, Vertrauen, Verläßlichkeit sind
systematisch verletzt worden und zwar mit zunehmender Tendenz. Von älteren
Bankern hört man oft, dass es einen Generationswechsel gegeben hat – mit
Hinblick auf das Ethos des anständigen Kaufmanns. Dieses Ethos war für diese
Generation noch unverzichtbar gewesen – für eine neue Generation aber, die
anderes sozialisiert wurde, ist dies nicht mehr selbstverständlich.
Es ist eine Illusion zu meinen, man könnte alles rechtlich
regeln. Man kann viel rechtlich regeln, aber wie schwierig dies ist, zeigt sich
zum Beispiel beim Strafrecht. Wir als Normalbürger kennen die Bestimmungen des
Strafrechts nicht, nur ganz wenige vielleicht. Wir verhalten uns im Alltag anständig nicht deswegen, weil wir befürchten, eine
bestimmte Norm im Strafrecht zu übertreten und deswegen bestraft zu
werden. Dennoch brauchen wir das Strafrecht, weil es genügend Menschen geben
würde, die Regeln verletzten, und andere, die dann davon betroffen und in ihren
Rechten verletzt werden, die ihrerseits dann wieder die Rechte anderer
verletzen. Man braucht das Strafrecht, aber die Vorstellung, dass das
Strafrecht steuert, die primäre Steuerungsinstanz ist, ist völlig abwegig.
Zuerst muss es ein Ethos anständigen Verhaltens im Alltag geben.
Und wir hoffen alle, wenn wir uns anständig verhalten, dann auch keine
strafrechtlichen Normen zu verletzen. Und so ähnlich ist es mit der
ökonomischen Praxis. Gerade im Bankenwesen, in der Finanzkrise 2008 und
möglicherweise 2011, gab es zu viele unsittliche Verträge, selbst wenn diese
rechtsförmig waren. Es bedarf also institutioneller Regelungen, aber es ist
eine Illusion zu meinen, eine humane, ökonomische Praxis funktioniert ohne Tugenden
wie Anständigkeit, Verläßlichkeit, Vertrauenskultur und Kooperationsbereitschaft.
Freiheit ist ein
zentraler Begriff ihres Denkens. Wohin zu viel Freiheit in der Wirtschaft
führt, sehen wir gerade in der globalen Krise. Hatte Hegel eigentlich nicht
recht, als er Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit forderte?
Nein, ich glaube Hegel hatte nicht recht. Hegel vertritt eine
deterministische Weltsicht, in der das Agieren des Einzelnen eingebettet in
große Gesetzmäßigkeiten ist, die die Akteure selbst nicht durchschauen – die Eigengesetzlichkeit
der Geschichte. Bei Karl Marx wird das dann mit den ökonomischen Verhältnissen
in Verbindung gebracht. Aber ich
glaube, beide irren – beide, sowohl Hegel wie Marx, und die Schulen, die
an diesen Personen dranhängen, ob nun Links- oder Rechtshegelianer. Sie alle
haben ein gemeinsames Defizit, dass sie das moralische Potential des individuellen
Akteurs unterschätzen und den einzelnen Individuen viel zu wenig zutrauen,
vielleicht auch zumuten. Wenn man wirklich, wie Marx betont, Agent von Klasseninteressen
ist, stellt sich keine normative Frage mehr. Es stellt sich im Übrigen auch die
Frage wie Marx, der auch ein Agent von Klasseninteressen ist, überhaupt in der
Lage sein sollte, eine Theorie zu entwickeln, die dann als Theorie der
Arbeiterklasse die Handlungsanleitung geben konnte. Das ist
selbstwidersprüchlich. Ich glaube in dem Punkt hat eher Kant und nicht Hegel
recht. Kant zeichnet ein dualistisches Weltbild, wo a priori und a posteriori
sauber getrennt sind – das sind alles problematische Elemente seiner Theorie.
Aber im Kern: Die Vorstellung, dass die Autonomie darin besteht, dass ich als
Vernunftwesen in der Lage bin, mir die Regeln zu geben nach denen ich lebe und
nur solche Regeln zur Leitschnur nehme, die vereinbar damit sind, dass andere vernünftige
Wesen Regeln dieser Art sich zur Leitschnur machen, d.h., eine Vereinbarkeit
gegeben ist, überzeugt mich. Es muss verträglich sein damit, dass andere Wesen in
der gleichen Weise Spielräume der Autonomie wahrnehmen und dass ist, glaube
ich, nach wie vor der Grundgedanke einer im guten Sinne liberalen Gesellschaft,
für eine liberale Gesellschaft, die die Autonomie achtet. Damit die Menschen in
gleicher Weise zur Autonomie fähig sind, bedarf es bestimmter Voraussetzungen,
zum Beispiel gleicher Bildungszugänge. Dass fällt nicht vom Himmel und stellt
sich nicht auf dem Markt ein, weil es dort nur die Unterschiede an Kaufkraft
gibt, sondern hier ist der Staat gefordert. Diese Aufgabe des Staates findet
sich dann im 19. Jahrhundert bei den Enkeln von Kant, insbesondere bei
liberalen Denkern. Auch Wilhelm von Humboldt war ein liberaler politischer
Philosoph, der betonte, dass es die Aufgabe des Staates sei – bis hin zu den
Universitäten – Bildung zu finanzieren, weil nur so der Allgemeinheit ein
Zugang zur Bildung möglich ist. Dies ist hochaktuell. Was wir allerdings
gegenwärtig erleben, in der aktuellen Bildungsentwicklung, ist genau das
Gegenteil, nämlich die schrittweise Verabschiedung dieses Ideals eines
staatlich garantierten gleichen Zugangs zur Bildung, ohne Gebühren, ohne dass
dabei der Geldbeutel der Eltern ausschlaggebend ist. Dies ist aber das
Fundament einer demokratischen Ordnung, einer lebendigen Demokratie – alle
haben die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu Bildungseinrichtungen – von der
Krippe bis zur Hochschule, damit schon die Kinder nicht allein an das familiäre
Milieu gebunden bleiben.
Herzlichen Dank für das Gespräch, das Dr. Stefan Groß führte.
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