Erschienen in Ausgabe: No 69 (11/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
von Shanto Trdic
„Mein ganzes Leben hat sich vor meinen
Blicken
zersetzt:
dieses ganze unheimliche verborgen gehaltene
Leben,
das alle sechs Jahre einen Schritt thut und gar nichts
weiter
will als diesen Schritt: während alles übrige, allgemeine
menschliche
Beziehungen, mit einer Maske von mir zu thun haben,
und
ich fortwährend das Opfer davon sein muss, ein ganz verborgenes
Leben
zu führen.“
Friedrich Nietzsche in einem Brief an
Franz Overbeck
10.02.1883
in Rapallo
Einleitung
Über
Friedrich Nietzsche zu schreiben kann einem manchmal durchaus unangenehm sein.
Das ist eben ätzend an diesen ständigen, so platt wie penetrant praktizierten
Jubiläen: man versucht sich an einer eigenen Arie und heult doch nur mit den Wölfen,
deren räudige Rudel allerorten grasen. Nietzsches Todestag hat, als Aufhänger,
die üblichen publizistischen Strohfeuer entfacht, deren hektisch ausschlagende
Stichflammen einem peinlichen Flächenbrand Vorschub leisten, und ob man es nun
will oder nicht: man fackelt und zündelt mit, lässt man sich in Wort oder
Schrift über den Jubilar aus. Dieser Dialektik entrinnt keiner derer, die heute
im Meinungsstrom mitschwimmen, der einzig für Bewegung sorgt, lauter Schlacke
mit sich führt und in den Niederungen traurige Rinnsale zeitigt, deren klamme
Reste unmerklich versickern. Die runde Zahl wird zum krummen Geschäft; der
simple Anlass feiert nur auf grelle, nichtige Art die fortlaufende Hinrichtung
eines Klassikers.
In
der Auseinandersetzung mit unserem Philosophen ging es meist zu wie in einem
geschäftigen Schlachthaus. Von den schweren Brocken, die er hinterließ, zehrten
Hungerleider wie Fettsüchtige, Fresser und Fastenkönige, Schlemmermäuler oder
Diätisten, die dürren Dürftlinge so sehr wie das klägliche Häuflein trächtiger,
vermeintlich freier Geister. Schamlos wetzten alle ihr langes Messer und
schnitten sich einen Lappen vom breiten Klops ab, der dann als prämiertes
Kotelett oder schneller Happen auf den gängigen Wochenmärkten (lauter
Jahrmärkte der Eitelkeit) verhökert wurde; immer mit Aufschlag und doch
deutlich unter Wert. Natürlich wurde und wird viel eigener Pfeffer nach
gestreut, die üblichen Geschmacksverstärker - das es nur so stinkt. Aus
sensibler, mit viel Bedacht kredenzter Feinkost entstand so im Handumdrehen der
übliche, üble Frass. Verspeist wird das alles umso gieriger. Die
´Einverleibung´ geriet stets zum ordinären Mittagsmahl: die Pause hielt nicht
ewig und außerdem gab und gibt es ja noch etliches mehr zu schlucken oder
runter zu würgen. Derlei ´Tischsitten´ sind nichts für sensible Gourmets;
Feinschmecker halten sich ob der feilgebotenen Fastfood Ware angewidert die
Nase zu. Im Grunde grenzt der schamlose Schmaus an kollektiven Kannibalismus; Leichenfledderei.
Aber so tobt nun einmal der Zeitgeist; immerfort.
Nietzsche
hat es, als Denker wider gängige Gewohnheiten, sehr weit gebracht. Seine
Strahlkraft ist ungebrochen. Manisch, gleich einem Zwangsneurotiker, ging er zu
Werke; und zugrunde. AlsGroßer des
Geistes wirkte er, im raschen Anschluss an eine eher abrupt ausgebrochene,
wiewohl ein volles Jahrzehnt währende Umnachtung, ungemein stiftend; bald auch
über Deutschlands Grenzen hinweg. Seine tiefschürfenden, so unermüdlich wie
resolut bohrenden Fragestellungen haben manche Quelle zum Sprudeln gebracht.
Sein weiter, allzu schweifender Blickhat der Philosophie insgesamt weitflächige Grundlagen zurück gewonnen:
fruchtbare Böden, die sich auf recht vielfältige Art und Weise beackern lassen.
Seinem ´Willen zur Macht´, als einer beispiellosen Anstrengung des Denkens, die
vor keinem Widerspruch halt machte, danken wir jene Höhepunkte scharfzüngiger,
zündender Prosa, die auch heute besticht. Jene unselige, nie enden wollende
Unruhe, die den im stillen Kämmerlein sinnenden Hasadeur zeitlebens trieb, hat
echte Glanzlichter kraftvoller, bezwingender Aphoristik gezeitigt. Eine
Vielzahl meist knapper, gedrängt versammelter ´Geistreicheleien´, stilistisch
nahezu unübertroffen, hat er, treu seinen Manen, in wenigen Jahren zu Papier
gebracht, und ihre verführerischen, wortmächtigen Wendungen klingen noch heute
forsch und frisch, stark und überzeugend. Die Sprache Nietzsches kulminiert in
Extremen, in ständigen Zuspitzungen, sie stellt scheinbar Festes, als sicher
Geglaubtes zur Disposition, oft ganz überraschend, aber immer überragend. Als
Metaphysiker ein Ketzer, ist er in den Grauzonen verwandter Ontologie einer der
wirklich Ersten, Frühen gewesen. Viel Schutt und Unrat galt es hier zu
beseitigen. Dabei schaffte sein Denken die konstituierenden Vorurteile nie zur
Gänze ab, vielmehr half es, sie als solche überhaupt erst zu begreifen. Der
ständige Zweifel, der ihn trieb, rückte die allgemeine, alles Leben wie warme
Watte umhüllende Lüge in ein neues, verführerisch werbendes Licht. Das die auf
diese Weise ´angestrahlten´ Objekte dunkle Schatten warfen, mochte auf den
ersten Blick bekümmern; im Grunde war dies, in der Totale betrachtet, ein
berauschendes, letzthin befreiendes Bild. Licht und Schatten schufen so, wie im
alten Theater, die perfekte Kulisse: jene, die einen alles umfassenden
Zwiespalt offenbart. AllesSichtbare,
als ein Offensichtliches, spiegelt die
auf Täuschung und Tarnung gemünzten Trugbilder; ist allenfalls Medium oder
Mythos. Alles, auch das Heimlichste, bleibt Illusion, Vorstellung – Gebilde.
Das wussten die Alten längst und die Zeit war zur Gänze reif, so zu denken.
Wirklich zu Ende gedacht – zuende
gelitten! - hatte es keiner derer, die es lehrten; das konnte nur einer, der
mit Haut und Haaren verstrickt war: einer, der nicht nur tief blickte sondern
umso tiefer auch empfand – empfinden musste. Der Künstlerphilosoph wandelte im
Grunde schon auf den Pfaden einer fernen, zunehmend skeptisch gestimmten
Wissenschaft, etwa der modernen Quantenphysik: hier wurden früh Beobachtungen
im Allerkleinsten gemacht, die den kausalen Zusammenhang als letztgültige,
Grundlagen schaffende Instanz ad absurdum führten. Es gibt ihn gar nicht. Das
ist Nietzsches ganze Erkenntnistheorie: alles lügt, seit je; die Lüge selbst
ist göttlich, mehr kann nicht – geht nicht. Muss nicht? Das, allerdings, stand
auf einem anderen Papier. Darob sollte der Philosoph, als Retter in letzter,
verzweifelter Not, Gesetzgeber, Herrscher – eben: Übermensch sein. Diesen
Heroen des Geistes sah er, der Verzweifelnde, noch am ehesten bestätigt im
alten Heraklit, dessen spärlich erhaltene ´Runen´ in der Tat wie eherne, in
Stein gehauene Weisungen tönen. Zwischen ihm, der ´eiskalte Larve´, und dem
dünnhäutig darbenden Pastorensohn, beide Eremiten aus Instinkt, jeder auf seine
Weise, lagen zweieinhalb Jahrtausende. War alles Übrige nur ein Irrtum, der
Abfall vom ´rechten Weg´? Stand die Geburt des Menschen noch aus? Auch vor
solchen Gedanken scheute der Denker nicht zurück. Und war die ewige Wiederkehr
so wenig seine ureigenste Erfindung wie der Zarathustra noch der sein durfte,
den die Geschichte überlieferte: in allem führte Nietzsche konsequent fort, was
auf dem Weg reinen Erkennens buchstäblich auf der Strecke geblieben war. Er,
der so verzweifelt nach den Sternen griff, fiel nicht vom Himmel; am Ende aber
ins Bodenlose zurück.
Nietzsche
forderte früh Antworten, wo keiner je zu fragen wagte, und er fragte noch, als
keiner mehr antworten konnte: keiner der Lebenden, Toten oder Zukünftigen. So
aber hielt er alles in der Schwebe, im Zwiespalt – in der Luft; so blieb sein
Philosophieren ein faszinierendes, immer Ergebnisoffenes Experiment. Man merkt
seiner ´Schreibe´ die harten, ausdauernd erzwungenen inneren Kämpfe kaum an; so
hell und leuchtend, satt und rein ist sie; selbst in den düsteren, drückenden
Momenten, denen er nicht selten eine selige, fast sanfte Süsse abringt:
schweren, schwelenden Blutes. Solcherart hat kein Philosoph vor oder nach ihm
je geschrieben. Dichter und Denker kommen in seiner Person auf tragische,
schmerzliche Weise zusammen, bis nahe an jene faustisch erzwungene Vollendung,
an der er zerbrach. Dem Leben war dieser sensible, einsame, ständig kranke
Mensch kaum je gewachsen, hier musste er zwangsweise auflaufen; in steten
Schüben scheitern. Als ein unfehlbar das innere Unglück herausfordernder, an
den Verhältnissen seiner und aller Zeiten verzweifelnder, überhaupt ständig
zweifelnder, heillos zerrissener Mensch, skrupulös bis in die kleinste
gedankliche Nuance hinein und dennoch resolut dem eigenen Willen gehorchend,
der nie schenkt, nur schöpft, hat gerade er die randständigen, genialisch
verfehlten Empörer magnetisch angezogen, bis auf den heutigen Tag: Geister, die
im Scheitern dieses Menschen das eigene auf immerhin stolze, heldische Weise
bestätigt sehen wollten und konnten. Deren Unvermögen, dem Vertrauten
angemessen begegnen zu können, schien im Abglanz dieses Werkes eine großartige,
posthume Entsprechung zu finden; und in den Anmaßungen und Blasiertheiten ihrer
jeweiligen Ansprüche meinten sie die Tragik des Übermenschen wieder zu
erkennen, dem auf großartige Weise an seinen Ambitionen, an einem ´zu
viel´Zugrundegehenden, der ihren
Starrsinn bestärkte und doch nichts lösen half. Falsche Hoffnungen auf
bleibenden Ruhm waren die dauernde, Trost und Balsam spendende Beruhigung,
derer sie bedurften, um nicht an den eigenen Miseren zu verenden. In der
Auseinandersetzung mit Nietzsche, seiner elitär gestimmten, bewusst
aristokratisch gehaltenen, immer problematischen Auffassung vom Leben kam und
kommt es zu einer Vermengung unterschiedlichster Intentionen, deren
therapeutische Bedeutung so schillernd wie fragwürdig scheint. Natürlich bot
die Lehre dieses einsamen Grüblers nur allzu viel Raum für unterschiedlichste,
streng widerstreitende Auslegungen. Das, allerdings, galt auch schon für die
älteren, dem Denker zeitlich noch recht nahe stehenden philosophischen
Ausnahmeerscheinungen; echte Heroen des Geistes, deren Bemühungen ebenfalls
verwirrend vielfältige Entwicklungen begünstigten. Wir wissen ja, was aus der
Hegelschen Dialekt wurde, hatten erst einmal die nachdrängenden akademischen
Heißsporne unterschiedlicher weltanschaulicher Gesinnung das goldene Füllhorn
für sich entdeckt. Den Entwürfen Schopenhauers oder Kants, in ihrer Architektur
vergleichsweise geschlossen, geordnet – gerichtet, konnte so etwas kaum
passieren. Der ´Philosoph des Pessimismus´ hat keine Irrungen und Wirrungen
gezeitigt, und die sogenannte Marburger Schule glich im Ergebnis eher einer
braven, biederen Rezeption; kaum, das sie auch nur ´etwas´ Neues schuf.
Nietzsches Aphorismen wiederum, in den grellsten Farben schimmernd, hell und
klar funkelnd und an den Rändern scharfkantig schneidend wie Diamantgestein,
provozierten eine ganz andere, schamlosere Gefolgschaft; eine Jüngerschaft, die
nach dem hehren Glanz lechzte, den der Zarathustra verhieß und aus Instinkt
doch nur hinter lauter falschen, verführerisch glitzernden Irrlichtern her
eilen konnte: Gespenster, die sich die Epigonen jeweils selbst einbildeten. In
der Betrachtung wollten sie bewundern, und in der Auseinandersetzung
verwechselten die heißblütigen Protagonisten, wie anders, Ursache und Wirkung,
Anfang und Ende – Ansporn und Vollzug. Deren Exzesse, die sie gern als Exegese
ausgaben und die doch meist nur den eigenen, heillosen Seelenzustand herunter
stammelten, gebaren folgerichtig bis auf den heutigen Tag lauter kehlige,
krampfig krakeelende Ungeheuer; echte Hydren, deren vielköpfige Monstranz
eigentlich auf den Rummel gehörte. Zugegeben: die vielgestaltige, unter
mancherlei Aspekten fortlebende Nietzschedeutung hat auf diese Weise ein
kurioses, nicht minder reizvolles Eigenleben entfaltet, dessen lange, allzu
schemenhaft huschende Schatten skuril wirken: auch hier liegt alles in der
Bewegung selbst, ganz gleich, ob sie im Kreise läuft oder steil abfällt.
Nietzsche, der sich und sein Werk als Verhängnis begriff, hätte dem Schweigen,
das ihn zeitlebens umgab, kaum eine Kontrastreichere Note abgewinnen können als
eben diese: das nämlich sein Werk als Auslöser eines öffentlich zelebrierten, in
formlosen Facetten nachschimmernden Schattentheaters fortwirkt und in gewissen
Kreisen ständig für Furore sorgt.
Da
fällt es schwer, überhaupt einen Ansatz zu finden. Was also kann man dieser
Tage über ihn schreiben, wenn man statt einer braven, unverdächtigen Abhandlung
eine echte Würdigung in Absicht stellt? Was sollte man dem unterschiedlich
lauten bis leeren Getöse entgegen halten, will man der eigenen Wertschätzung
umso ehrlicher, inniger Nachdruck verleihen? Am besten doch so wenig als nötig,
so viel aber wie möglich; falls das geht. Denn wer ihn ernst nimmt, der weiß
schon, wie leicht man sich verzettelt oder verläuft: vielleicht, das dies als
heimliche, kluge Absicht schon immer hinter etlichen seiner zuspitzenden
Schriften stand – mehr aus Instinkt denn aus Berechnung. Nietzsches Werk ist
der reinste Widerspruch, in hellsichtiger Klarheit verfasst, aber unter Wehen
empfangen; schwer, unendlich schwer erduldet. Seine Sprache scheint zu tanzen,
doch zeitlebens drückte ihn der Dämon zu Boden. Das ist nur scheinbar eine
Anomalie, wie denn das Leben als Ganzes zwiespältig, fragwürdig bleibt; bleiben
muss. Da ist man, was Deutung oder nur Verdacht betrifft, gut beraten,
vorsichtig, zögerlich zu bleiben. -
Ich
werde mich im Folgenden darauf beschränken, einen ganzheitlichen Ansatz grob zu
skizzieren; einen, der den Menschen, das Werk und seinen Einfluss bis in unsere
Zeit hinein zu fassen zu sucht, immer von wenigen, als gesichert geltenden
Allgemeinplätzen ausgehend, die dann vielleicht den einen oder anderen Blick
frei legen – wer weiß? Dies zwingt allenthalben zu Vereinheitlichung und
Verzicht, Auslese und Einsparung. Behauptete Aspekte sollen erhellend, weniger
erklärend in den Vordergrund rücken. Sie müssen als Ausgangspunkte überhaupt
erstwieder ernst genommen werden und
der Verfasser hofft, das es keine weiteren Fleischbrocken oder Filetstücke aus
der Schnellküche sind, die wieder nur zum anbeißen, runterwürgen und aus
spucken auffordern. Vielleicht sind am Ende kleine, aber scharfe Streiflichter dabei
heraus gekommen, die etwas von der eigentlichen Lehre beleuchten, indem sie den
Menschen, der darüber zugrunde ging, deutlicher spiegeln: Mensch und Werk sind
hier eben nicht zu trennen, auch wenn Jener selbst in einer seiner
letzten, schon vom Irrsinn umkicherten Schriften salopp das Gegenteil
behauptete.
Ausgehend
von dem, was Nietzsche über sich im eingangs zitierten Brief an Overbeck
erklärte, möchte ich mich zunächst dem Leid des Denkers nähern;
seinem Elend, seiner Qual. Darob erst gebar er ja die Kraft, Umwälzungen,
Überwältigungen größten Ausmaßes (im Denken, Sinnen – Trachten) zu erzwingen;
auch und gerade zum eigenen Nachteil, den er für sich selbst geradezu
herausforderte. Über das entbehrungsreiche, hartnäckige Infragestellen fand er
Antworten, die das Neue, Ungeheure (auch Unbewältigte) endlich versprechen
durften; weil es nicht länger erklügelt oder daher geplappert war, sondern an
Leib und Seele unsäglich erlitten. Immer im Verborgenen, im Dunklen – dem
Abseits. Geistiges Kämpfen, Ringen, wie es am unerbittlichsten, am ´tollsten´
gerade in diesem stillen, nach außen so gänzlich ereignislos abgelaufenen
Gelehrtendasein kulminierte, gebot einen einsamen, trostlosen Gang, den
einsamsten, der sich überhaupt denken ließ; und er ging ihn stolz und in dem
Wissen, keines Trostes teilhaftig zu werden – von allem getrennt, was auch nur
Milderung, Besänftigung versprach. So wurde Friedrich Nietzsche endlich Wegbereiter
und Neuerer; einer, der anderen ermöglichte, die zäh erstrittenen,
unendlich mühselig erzwungenen Pfade locker zu betreten, den schieren Raum an
Möglichkeiten zu erkunden, weiter auszufüllen, die ganze Freiheit, die er
stiften half, irgendwie zu nutzen. Oft genug führte sie wiederum in die Irre,
Enge – in eine Sackgasse. Es spricht für ihn, dass er sich keinen Moment lang
in akademische Spitzfindigkeiten verrannte und den kühnen, weiten Schwung
hielt, der ihn letzthin mit sich fort riss. In wahnwitzig kurzer Zeit hat er
sein bordendes Werk zu Papier gebracht, und wiewohl er sich oft genug wiederholt
und selbst widersprochen hat: jeder einzelne Satz wog schwerer. Um noch einmal
die Epigonen zu bemühen: es ist an keinem anderen Denker so exzessiv
´fortgesponnen´ worden; über das bloße Gelehrtenpublikum hinaus. Müßig, darüber
zu spekulieren, ob ihm derlei oft heillose, hochtrabende, sich kühn oder kühl,
nüchtern oder närrisch oder sonst wie gebärdende ´Nachgeburten´ noch zugesagt
hätten. Hätte er, der Wiederentdecker der Existenz im altgriechischen, im
antiken Sinne, den ´Slogans´ der Existentialisten um Sartre folgen mögen? Er,
der gnadenlose, unerbittliche Psychologe, der die Symptome unbewusst
arbeitender Mängel täglich an sich selbst erlitt und doch mit boshafter Feder
in zeitlos gültige, in deutsche Worte setzte: hätte er in der Clique um Freud
und deren ´Populisten´ etwas anderes erblicken mögen als den zeitlebens
verachteten, verstockten Sektiererverein? Oder wäre er vielleicht doch stolz
gewesen auf das, was er gerade hier mit anstoßen half? Mir fällt auch der ganze
Rattenschwanz derer ein, die heute, auf unterschiedliche Weise, vorgeben,
Zivilisations- oder Gesellschaftskritik zu betreiben (also das, was nach zwei
Weltkriegen in kläglichen Resten im Zuge bipolarer Beschaulichkeit gedieh und
sich schon wieder im Rekordtempo abnutzt oder verflüchtigt, verwandelt oder
verpuppt). Ob deren weltanschaulicher Schlagwortekatalog ihm mehr als das
zeitlebens empfohlene zynische Lächeln abgefordert hätte? Es wäre ja auch
wirklich zum lachen: der Philosoph mit dem Hammer - ein Beispiel - als Resteverwerter
utopischer, ökologisch inspirierter Heilslehren: recht witziger Gedanke. Doch
derlei Vergleiche können einen kaum weiter bringen. Nietzsche war und blieb,
der Weite seiner oft maßlos ausufernden Gedanken zum Trotz, in allem ein Kind seiner Zeit, der Vertreter einer
zutiefst bürgerlichen, fortschrittsfrohen Epoche, dabei Abkömmling frommer,
rechtschaffener Menschen, die ihrerseits mit diesem Umfeld gerungen, gestritten
haben und so hat denn der Denker selbst gegen das eine wie das andere und
etliches mehr rebelliert; wie man als Angehöriger seines Standes seinerzeit überhaupt nur konnte oder wollte.
Natürlich mit ganzem Einsatz. Er wob sein Netz in den Winkeln und Fluchten
einer Umgebung, die eben dazu die passenden Oberflächen, die rechten
Nahtstellen bot, hoch und steil genug für einen Wagevogel wie ihn, und doch in
muffelnder, miefiger Enge geborgen, an der er stündlich zu ersticken drohte.
Der Ort, den unser Denker so einsam durchmaß, glich einer düstren, drückenden
Katakombe; auf den ersten Blick klein und kläglich, in summa jedoch kühn und
keck auslaufend, und von den protzigen, prunkenden Wänden, mit schnörkelnden
Verzierungen bemustert, bröckelte der Putz herab: lauter aufgemotzte, schön
scheinende Fassaden sanken so langsam dahin, eine bürgerliche Beschaulichkeit
repräsentierend, die ironischerweise Ausgangspunkt allerkühnster Projekte und
Monstranzen wurde. Diese zutiefst deutsche Enge bot wohl den Raum, den auch er
brauchte, um richtig ausbrechen zu können, und heute bevölkert ein schamlos bunter
Haufen den irrwitzigen Neubau, dessen Fundamente er legen, setzen half. Wie
eingangs erwähnt, wird Nietzsche ja mittlerweile von ´Allen und Keinem´
beansprucht; in diesem Zusammenhange wohl nur noch vom Meister Schönfuß
übertroffen (der sich dagegen allerdings auch nicht mehr zur Wehr setzen kann).
Wir
begreifen Nietzsche heute instinktiv als jemanden, der vieles vorbereiten half,
indem er manchen groben Stein ins Rollen brachte, der wiederum etliche Lawinen
auslösen musste, die viel von dem begruben, was längst in losen Angeln hing und
nur mehr Ruine oder Wrack sein konnte. Er lauerte im Verborgenen und gab von
dort aus Anstöße; legte Lunten oder Fährten, je nachdem. Als hochsensibler,
vegetativ arbeitender Seismograph hat er sich nicht minder bewährt. Beides
gehört ins Bild. Beides gehört auch zusammen, beschäftigt man sich mit einem,
der klagte und anklagte, der mit dem
Hammer hausieren ging und um feinstes Gehör warb. Das verleiht seinem Dasein
einen Adel, den heute keiner mehr begreift.
Wie
auch immer: die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hat Friedrich Nietzsche auf
seine Weise voraus geahnt, und vielleicht fühlte er, das vielerlei Nachbeben,
deren Vehemenz er in Worten manisch heraufbeschwor, alles – auch die Lehre
selbst – mit sich fortreißen konnten, ein verhängnisvolles Vakuum
hinterlassend, die endlose Leere und Ausweglosigkeit, der er im Gebirge selbst
schaudernd begegnete und doch so dringend bedurfte, weil nur jene Leere selbst
empfänglich macht. Dieser Denker litt einzig, um zu gebären; das unschuldige,
seltene Füllen endlich zur Welt zu bringen. Darum ging es ihm, und das reichte
dann, denn wachsen würde es ganz von selbst, um groß und stark werden zu
können: der Welt das Staunen zu lehren. Sie sollte, sie musste auch zittern vor
diesem Geschöpf, denn mit ihm konnte nur Unheil kommen. So hat er denn, als der
eigentliche Künder eines dämonischen, deterministisch abrollenden Zeitalters,
die großen Risse, Spalten und Abgründe einer beschaulichen Übergangszeit auf
beinahe wollüstige Art und Weise benannt und entsprechende Forderungen
aufgestellt; ein seltsam romantischer, im Grunde nostalgisch gestimmter, ja
ängstlich abwehrender Prophet des Unterganges; einer, der in stolzen Worten
neuen Aufgang versprach und nie aufhörte, vor der eigenen Lehre zu erschaudern.
Jedem dieser Aufgänge, sie mögen erneut in den Untergang oder nur zum
Stillstand führen, der Öde oder dem hektischen Betrieb Vorschub leisten, hat
dieser Philosoph die frische, forsche Fanfare hinzu gedichtet: denn er war im
Umgang mit Sprache ein Genius an Musikalität. Derlei Klänge verdampften früh in
den Rauchschwaden verheißener Ruinenlandschaften; und sie hüllten den
Trümmerhaufen in unruhig schimmernde, scheu werbende Schemen ein, seltsam
unwirklich und echt zugleich. Man hat ihn mit vollem Recht einen dichtenden
Philosophen genannt.
Er
litt, gebar und bahnte Wege – die Routenplaner konnte er nicht mehr kennen.
Nietzsche also der Leidende, der Umwälzer – der Wegbereiter: das sei für die
restlichen Zeilen bedruckten Papieres mein bescheidenes kleines Thema. Wohlan!
Auch wenn man selbige Schlagworte mühelos mit anderen Geistesgrößen in
Verbindung bringen könnte: der Fall Nietzsche reizt gerade hier - auf seine Art. Das zählt am Ende. Und das
bleibt.
Der Leidende
„So stranger, get wilder still Probe
the highlands“
Jim Morrison
Aus
jenen trostlosen Worten Nietzsches an Overbeck, die ich der Einleitung voran
gestellt habe, klingt viel von Einsamkeit und Stille, Schmerz und Trauer, Gram
und Trübsinn an; bis hin zum Überdruss, der die heroischen Anstrengungen immer
wieder begleitend konterkariert und als dämpfendes Korrektiv den sporadischen
(aber heftigen) Überschwang in Turmhohe Schranken setzt. Ein Pistolenlauf, so
versichert der Denker in einem anderen Brief aus schwerer Zeit, sei ihm noch
Quell relativ angenehmer Gefühle. „ Nein, dieses Leben!“ klagt er.“ Und ich bin
der Fürsprecher des Lebens!“ Er hat seinem ´Frust´ auf diese Weise oft Ausdruck
verliehen, in Korrespondenz mit Freunden, die ihm Nächste waren. Derlei
Wehklage, die immer auch Anklage sein musste, mag etwas stärken, leidig
stützen; bringt aber kaum die mächtigen Blöcke zum Umsturz, die wie stählernes
Mauerwerk das weite Feld schirmen und den rastlosen, manischen Geist
verfinstern, der in ihrem Schatten leidig fiebert und nach etwas Entfaltung, ein
klein wenig Befreiung strebt. Es ist dieser schwere, wiewohl schweifende Geist,
der immer in die Ferne will und mit jedem kühnen Schwung den steilen Aufgang
probt; willens, weiter fort zu kommen als irgendwer ehedem. Und doch ist er
beständig der eigenen Schwerkraft ausgeliefert, die umso stärker drückt, je
kühner es ihn aus der gängigen Umlaufbahn drängt. Auch Nietzsche macht diese
eine schmerzliche Erfahrung: Freiheit, im Übermaß ersonnen, verfinstert; und
neue Strahlkraft bricht sich an den Monumenten der Vergangenheit, deren
mächtige Umrisse zusätzliche, schwere Schemen werfen. Sein Ungestüm in Denken
bremst sich immer wieder selbst aus; weniger aus Respekt, mehr aus einem vagen
Instinkt heraus, der ahnt, das man nicht ungestraft Zäune einreißt, die der
Herde Schutz und Obhut bieten. Unser Philosoph nennt es sein unheimliches,
verborgen gehaltenes Leben, hinter dem also, fortlaufend und unerbittlich, das
Leid steht, zu physischen und psychischen Qualen verdichtet, die nie aufhören,
den stillen Empörer zu martern; die selten gemildert, gedämpft – gezügelt
werden können, darob wie ein schmerzendes Kontinuum Leben und Werk des
dichtenden Philosophen begleiten: tatsächlich, als gehörten sie dazu.
Untrennbar und unaufhörlich weben sie mit am feinen, dünnen Stoff; und jeder
einzelne, seidene Faden droht das ganze Gewand zu zerreißen.
Nun
ist die Krankengeschichte Nietzsches hinreichend bekannt. Wir brauchen in
dieser Sache nicht die zahlreichen Migräneanfälle, das andauernde Erbrechenmüssen
und derlei Symptome mehr nachzitieren; er selbst hat in zahlreichen Briefen das
Elend zu Genüge beschrieben. Wichtiger vielmehr, noch einmal zu erwähnen, wann
diese Torturen ihren Anfang nehmen, das sie eine Vorgeschichte haben und dem
Wesen dessen entsprechen, der das Denken als Wagnis und Vollstreckung begreift
- gnadenlos.
Der
sich ankündigende Bruch mit Wagner, dem hochverehrten, zunächst noch peinlich
umhimmelten Meister, ist Achsenpunkt, Wendemarke – geistige Zäsur. Das
Abschiednehmen von ihm führt Nietzsche härter an sich selbst heran und leitet
unumkehrbar die verhängnisvolle Kette körperlicher und geistiger Überreaktionen
ein. Wollen und wissen, können und müssen, sein und sehnen sind je zweierlei,
kaum miteinander in Einklang zu bringen, stets in Fehde. Das spürt Nietzsche so
recht in der Auseinandersetzung mit dem Meister, der ihm wohl auch weiterhin
einer sein möchte, es aber nicht mehr sein kann. Die Freiheit im Denken, im
Zuge einer konsequenten, radikalen Abkehr von solchen, die halfen, weiter zu denken, führt Nietzsche in die
eigene, endlose Krankheit hinein. Wagner war vor allem für´s Gemüt zuständig.
Nietzsches rigorose Abkehr von der selbstherrlichen, im Zuge erster Erfolge
sehr viel unbekümmerter agierenden Bayreuther Eminenz wird endgültig jene
dämonischen Energien in seinem Innersten freisetzen, die ihn bald hemmen und
stoßen, drücken und drängen: immer weiter von der Gralsgestalt fort. Das
schmerzt. Das tut richtig weh. Wagner war im Grunde Schützenhilfe, Sprungbrett,
Vorhut für die eigene, wilde Jagd; unseliges Glockengeläut. Banaler formuliert:
er war die Vatergestalt dessen, der ohne einen eigenen auskommen musste. Das,
was in den stürmischen und vorwärts drängenden Jahren seiner reifen Jugend in
dem verehrten älteren Freund die ideale elterliche Entsprechung fand – ihm und
seiner alles andere als selbstlosen Sache wollte er zunächst noch willig dienen
– verpufft in Schüben und entlädt sich alsbald in Formen schwerster
gesundheitlicher Erschütterung. Als Wagner zu christlichen Allgemeinplätzen
zurück findet, gärt und rumort es in dem jungen Bewunderer, der lieber alle
Jahre einen Schritt nach vorn tut, als deren etliche zurück. Wo ehedem der
freudige Überschwang das tiefe Beben übertönte, grollt nun der verhaltene
Donner umso mächtiger. Nun kündigt sich die Last, die ganze schwere Bürde an,
die jeder auf sich nimmt, der wirklich Abschied nimmt von Idealen, deren Pathos
nicht mehr verfängt. So also Nietzsche. Er hat sich vom falschen, weil grell
übermalten, auf schnelle Wirkung zielenden Glanz verführen lassen, so empfindet
er es jedenfalls, und nun ist er untröstlich, dessen gewahr werden zu müssen
und er kann nicht mehr anders als gegen diese Art Betrug zu polemisieren.
Ausdauernder und innbrünstiger als gegen Wagner hat der Denker wahrlich gegen
keinen gewettert, den er überhaupt für würdig hielt, solcherart gemaßregelt zu
werden. Mit dem Ende der Freundschaft zum Meister beginnt jener zu ahnen, dass
er wirklich allein sein wird; ganz und gar. Er stößt nicht nur den Bayreuther
Übervater vom hehren Sockel; er reißt in Folge manches mehr zu Boden, was
ehedem festen Halt, innere Gewissheit versprach. Wir wissen, dass Nietzsche von
seiner ganzen Art her nicht dazu angetan war, Kompromisse ein zu gehen, die
sein sanftes Gemüt ihm doch immer wieder kläglich anschmeichelte. Das verzögert
den Prozess, hemmt ihn ein wenig, gleich einem vielfach nach geschichteten
Damm, der das Drängen der Fluten umso mörderischer erzwingt und daher
irgendwann mit starker Wucht auseinander brechen muss. Bis zum Zerwürfnis mit
Wagner hatte Nietzsche, immerhin, ein wenig Hoffnungen aufgespart, die sich
indes durch die Bank weg als trügerisch erwiesen.
Der
Student. Er ist schon damals einer, der es nirgends lange aushält und überall
nach einer Weile geselligen Aufgehobenseins das eigene Geworfensein fühlt oder
ahnt und folglich früher oder später das Weite sucht. Der Kreis von
Gleichgesinnten und Freunden ist bereits zu dieser Zeit, auch schon in der
Schule, vergleichsweise bescheiden. Außer einiger weniger Kontakte zu einer
Handvoll Personen unterhält er kaum zwischenmenschliche Beziehungen, innerhalb
derer er ohnedies hilflos höflich, kaum je offenherzig oder ungezwungen agiert.
Da ist schon so vieles, was er auf dem Herzen hält, etliches, woran er zu
tragen hat; heimliche Bürden, die er sich zumutet. So bleibt er stets
distanziert, zugleich aber freundlich und zuvorkommend. Vereine und
Burschenschaften können ihm kaum das ersehnte, geistige Ambiente bieten. Die
´Frankonia´ etwa bekommt dem sensiblen Studenten gar nicht; er tritt bald
wieder aus. Es ging ihm da wohl ganz ähnlich wie Jahre später dem
Rompreisträger Debussy, der in der Villa Medici, ´dieser Spleen – Fabrik´ (wie
jener spöttisch bemerkte)förmlich
verschmachtete, der eifersüchtig und mit letzter Reserve sein Innerstes in der
drückenden, konformen Enge verteidigte, bevor er ihrer floh; fliehen musste. So auch Nietzsche. Ein
Einzelgänger und einsamer Wolf ist und bleibt er; einer, der die harmlose
Behaglichkeit einer Gemeinschaft, die dem Einzelnen das sichere Herdengefühl
vermittelt, stets nach einer Weile ausschlägt, ohne dies auf Anhieb gewollt zu
haben. Daran wird sich bis zu seinem Tode nichts mehr ändern. Früh nähert er
sich also dem Leide dessen, der allein, der verlassen bleibt; auf ausweglosem
Posten stehend, den es mit Klauen und Zähnen zu verteidigen gilt. Noch wärmen,
wie zum schwachen Troste, die Schriftsteller und Philosophen, derer er auch
zukünftig bedarf, um den eigenen Standpunkt focussieren, irgendwie klären zu
können. Entlegener, abseitiger als in seinem Falle lässt sich dieser Ort
geistigen Ringens kaum denken. Er gleicht einem einsamen Fixstern; von
finsteren, schwarzen Räumen endlos umklammert. Etwas kosmischer Staub, ein
wenig ´Weltraum-Müll´, streift gelegentlich die Bahn. Wenn Nietzsche, im Mai
des Jahres 84 nach der Lektüre Bruno an H. v. Stein schreibt, das nur noch
selten etwas Stärkendes von Außen zu ihm käme, so ist dies gewiss eine
Übertreibung: derlei Ansporn und Stärkung hatte er – Schopenhauer voran – schon
in den Zwanzigern seines Lebens im Wesentlichen aufgebraucht. Er drückt,
sinnbildlich gesprochen, letzte, saure Tropfen aus alten Zitronen heraus. Die
schmecken dennoch süss genug, um das Leben umso bitterer ertragen zu müssen.
Nietzsche
ahnt, das er über sich selbst hinauswachsen muss, will er vor der eigenen
Person bestehen, und jenseits begleitender Erbauung, etwa in der Musik (später
ein wenig Bizet oder heiterer Offenbach) hat er die Gegenwart - diese, seine
zeitgenössische Welt - zu überwinden, um der folgenden voran gehen zu können,
ja zu dürfen: das macht den Kern seiner Selbstüberwindung aus, die ihn weiter
in die Fremde, ins Exil treibt. Im Ergebnis bedeutet das die totale
Abschottung; eine monastisch anmutende, umfassende Weltflucht. Ganz anders
aber, als die Herren Kant oder Descartes, Montaigne oder Spinoza diese in die
Tat umsetzten; konsequenter nämlich, letztgültig – absolut. Wer denkt hier
nicht an das in späteren Briefen verzweifelt zum Ausdruck gebrachte Gefühl
dauernden Verlassenseins, die so schmerzlich empfundene Gewissheit, im
entlegenen Exil zu verschmachten; weit oben, in den doch als rettend
empfundenen Bergen, von weiten, die Außenwelt abschneidenden Höhentälern
geschirmt. Aber er wollte das so. Auch im eigenen Äußeren, das er der
Öffentlichkeit so zäh und ausdauernd vorenthält, wird dies transparent: Der
Denker verbirgt sich, nicht ungeschickt, hinter einem mächtigen, grotesk
wallenden Schnurrbart. Man halte sich selbst einmal den eigenen Mund mit dem
ganzen, auch noch die Kinnpartie verbergenden Handteller zu, trete vor den
Spiegel und
Zähle
langsam die Sekunden: man schaut dann in ein Gesicht, das sich jeder auch nur
oberflächlichen Deutung konsequent entzieht und zum Phantom erstarrt. Schon auf
einem Bilde, das den Jüngeren im Kreise harmloser Burschenschafter zeigt, wird
die schüchterne, wohlmeinende, höflich und herzlich sich gebende Attitüde auf
Anhieb deutlich, als wolle er sagen: nur immer nett bleiben und brav den
Abstand wahren! Ob er schon damals ahnt, dass der bloße Wuchs seiner Hände den
Charakter verrät? So hätte er die wohl auch noch irgendwie versteckt.
In
den Briefen kommt seine angenehme, wiewohl hochmütige, jedoch in tapferem Stolz
ertragene Abwehrhaltung noch am ehesten zum Ausdruck, dem er hier auch die
entsprechenden Wendungen in verkrampfter Beiläufigkeit abringt, wiewohl sie
allzu oft nach vorne drängen und zur Anklage (Wehklage?) führen. Das unter den
Jetzigen weit und breit keiner sei, der ihm gleiche, erfüllt ihn, schreibt er,
mit Schaudern. Anfällen lähmenden Entsetzens und tiefer Erschütterung folgen
immer öfter Schübe abrupten, nahezu euphorischen Erregtseins. Die große
geistige Gärung mündet stets in Erstarrung; Versteinerung. Banger Beklommenheit
folgt bordende Wucht, und im Wechselbad der Gefühle verzehrt er sich und seinen
Geist, der eifersüchtig Hof hält und an seiner Mission fest hält, überhaupt:
die Stellung hält. Er weiß dem Drängen seiner Dämonen kaum Einhalt zu gebieten
(das forderte die Vernunft) und unter leisen Klagelauten gewährt der Denker
etlichen weiteren unruhigen Geistern Einzug – eben das fordert einfach die
Radikalität seines Denkens, der er sich rückhaltlos unterworfen hat. Da mochte
ehedem die Lektüre der Spinoza, Montaigne oder Marc Aurel noch trösten: deren
Schriften waren ihm doch nur periphere Entsprechung und/oder kritische
Anregung; seinen Weg hatte er im eigenen, mühseligen Schlepptau zu bestreiten.
Im Gepäck trug der Denker, als stete Erblast, seinen Wagner mit sich herum,
ernst und schwer und drückend, ´urdeutsch´, und es nimmt nicht Wunder, das ihm
die Leichtigkeit bestimmter Musik (etwa der bereits erwähnte Bizet) gerade
recht kam, mit dieser Bürde vorauseilend ab zu rechnen: „Noch klingt fremd die
Lehre, das die Erde eine Leichte sei…“
Er
war einer, der mit seinen gedanklichen Konzeptionen aus einer Zeit ragte, die
zwischen scheu nachempfundener Romantik und forsch exerzierter Moderne,
zwischen gelehrter Gemütlichkeit und gelebter Geschäftigkeit, forschem
Fortschritt und verschämter Nostalgie pausenlos hin und her pendelte. Und war
ihm das Gewesene ein Verwesendes,
etwas Absterbendes – längst Vernichtetes, dem folglich auch kein Tropfen Balsam
mehr abzugewinnen war, so konnte einen wie ihn nur schaudern vor der Zukunft,
die er - ein im Herzen immer noch gefühlvoll, eben: romantisch empfindender Mensch
- als Heraufkunft eines nihilistischen Zeitalters begriff. Wenn er vorgab,
diese ´brave new world´ zu begrüßen, ja ihre Konsequenzen zu feiern, dann
graute ihm in Wahrheit davor. So fühlte, fand er es. Das warf ihn aus der Zeit,
aus der Mitte, aus der Bahn. Ähnliches haben vor und nach ihm etliche dulden,
leiden, einfach hinnehmen müssen: das er oder sie den gängigen Lehrmeinungen,
den Verhältnissen, den Vorurteilen nicht entsprach – ist ein alter Hut. Bei
Nietzsche aber verdichtet sich dieses Anderssein um jeden Preis zu einer
Rebellion gegen die gesamte tradierte Überlieferung (über den abendländischen
Kulturkreis hinaus); ein Aufbegehren, welches im Gegensatz zur Empörung derer,
die das Heil, den Glauben – den Höchsten ihren Stern nennen, ohne transzendente
Gewissheiten auszukommen hat: statt Trostspendender Leuchtmarken am Himmel nur
mehr die kalte, abweisende Wüstennacht. So träumte Nietzsche den Übermenschen,
dessen scharfe, unnachgiebige Züge er am allerwenigsten am eigenen Leibe
ertrug. Den Zarathustra hat er sich als Boten eines fernen Mittags zurecht
gedichtet, mit ewiger Wiederkehr in einem fortgesetzt sinnlosen Spiel, das sich
in allen Fragwürdigkeiten selbst genießt. So kann kein Mensch leben; das konnte
am allerwenigsten er selbst. Die knappen, in seltener Gelöstheit ausgekosteten
Triumphe, fatalistischer Verzückung geschuldet, zeitigten ständig neue
Ermattung, weil die Entsprechungen fehlten, derer es bedarf, um aus einem
starken, stets innigen Gefühl etwas Kaltes, Indifferentes, eben: ein Dauerndes,
Waltendes heraus zu destillieren. Auch diese Gefühlskälte gab er nur vor. Als
ein zäher, unnachgiebiger Denker umfasste er Welten; und sank, als eine im
Grunde sanfte, zarte Seele, vor jeder Konsequenz in die weichen Knie. Der
Denker wusste, das er nicht stark genug sein konnte, vor der eigenen Lehre zu
bestehen, das es auch ihm am Ende erginge, wie den um so viel Stärkeren; wie
weiland Diokletian, Alexander oder Napoleon, die eher an den Verhältnissen denn
an sich selbst scheiterten. Daher: “ Sprich dein Wort und zerbrich!“
Nietzsches
widersprüchliche Natur, sein vieldeutiges Wesen kennt keine Demut vor den
Verhältnissen, wie denn überhaupt das Widersinnige, welches den Menschen im
allgemeinen auszeichnet, bei ihm im Speziellen die ständigen Gegensätze
befeuert und mit jener extremen, unerbittlichen Verdichtung im Denken
einhergeht, die ihn ständig zu zerreißen droht, ihm keine Atempause gönnt und
den gedanklichen Fatalismus auf die letzte Spitze treibt. Er soll ein ruhiger,
langsam und leise sprechender Mensch gewesen sein. Aber im Innern rumorte es.
Er hörte nie auf, zu bohren und zu meißeln, zu schürfen und zu graben, und als
ein ganz der sinnenden Muße verschriebener Mensch, hatte er alle Zeit der Welt,
so zu leben, wie es ihm gemäß schien; seinen Manen anheimgestellt, die ihn nie
zur Ruhe kommen ließen. Da war dann kein Moment, der wirklich Entspannung
geboten hätte, Abstand oder lindernden Ausgleich – gespannt wie eine Bogensehne
richtete er den nächsten, brennenden Pfeil, ohne ein dauerndes Ziel kennen zu
wollen. Dies wiederum hatte zur Folge, das er, denkend, schaffend, den
Schonraum derer verliess, die eben doch noch an einer heilen Welt teilhatten,
die den gängigen, arretierten Lehrmeinungen nie zur Gänze widerriefen, die eben
alle noch ´unter einem bestimmten Kommando standen´, wie er in Bezug auf einen
bestimmten englischen Philosophenschlag spottete. Es machte eben keiner von
ihnen je restlos ernst, und das hat sich bis heute gehalten, wo selbst
Chaostheoretiker und Urknallforscher in den endlosen Weiten des Alls, in der
bis ins Kleinste auseinander dividierten Materie wieder nach dem alten Gott
fahnden, den Nietzsche längst für tot erklärte. Sie alle leisten also einem
Befehl Folge, wo jener schon in die Schwärze, hehre Dunkelheit hinaushorcht, wo
keiner spricht, geschweige denn regiert; sie vertrauen wispernden, werbenden
Stimmen, wo jener das große Schweigen auskundschaftet – sie alle beugen sich
beinahe in Demut, wo Nietzsche der letzten Deutung harrt, die ohne Grund
bleiben muss. Er konnte nicht anders, als so zu tun. Es war sein Schicksal. Das
löste ihn aus Bayreuther Banden und trieb ihn weit fort, aus der ´Familie´, den
schützenden Schonräumen heraus.
Beispiele.
Die tradierten Torsen der Erkenntnis verbannt er ins Reich der Illusion: die
sind ihm lauter Totgeburten, deren letztes Keuchen wie falscher Voodoo tönt –
alles verkehrt. Alles Aberglaube, Sinnestäuschung – Volkes Wahn. Es lohnte
nicht mehr, in den Eingeweiden einer uralten, keck verpuppten Illusion die
Zukunft vorhersagen zu wollen: dort riecht er nur ihr Ende, wie Leichenmoder.
Der Samtpelz der Moral gleicht einem löchrigen Lappen und kann einen wie ihn
nicht länger wärmen. Eisig kalter Wind schleicht schon durch den abgewetzten
Überzug. Es bleibt müßig zu spekulieren, ob die Auseinandersetzung mit dem, was
unter Moral verstanden wurde und wird, ein weiterer Ausgangspunkt oder nur
Katalysator, Anstoß oder Verstärker war. Nietzsche ist, da er sich ihrer
privatim entledigt, indem er sie, schreibend, einfach abschafft, ohne Schutz,
Obdach oder Zuflucht – ´some are born to
the endless night´. Hier schließt sich der Kreis um Leid und Alleinsein,
Marter und Isolation. Der Kreuzzug endet im Irrsinn: Nietzsche selbst ist der
Gekreuzigte, dem er Dionysos gegenüber stellt. Die Gefährlichkeit seiner
Affekte, von denen er in einem Brief spricht, führt in äußerste Randbezirke, in
Grenzregionen dessen, was menschlich überhaupt zumutbar ist. Das ist nichts,
was man sehen oder hören, schmecken oder riechen, fassen oder lassen könnte –
das alles spielt sich auf dem inneren Schlachtfeld ab, wo die Waffen niemals
schweigen und die Attacke stets von neuem geritten wird. Eine
Auseinandersetzung, die weder zu einem Ausgleich noch zu einem Ende kommt. Es
ist diese geistige Krankheit, nicht jene folgende, rein körperliche welche, die
den Zwiespalt nährt und einen ihr schutzlos Ausgelieferten rücksichtslos
vorwärtsdrängt, in immer neue, fein oder grob geflochtene Netze hinein, in die
er sich heillos verstrickt. Das ist es, was ihn dauernd krank macht – machen
muss:
„Ich bin den grausamsten Zufällen immer ausgeliefert
gewesen – oder vielmehr: ich bin es, der aus allen Zufällen sich
Grausamkeiten gemacht hat.“
Und:
„Was kann ich dafür, das ich einen Sinnmehr habe
und eine neue furchtbare Leidensquelle!
Selbst so zu denken ist schon eine Erleichterung – so
brauche ich doch nicht die Menschen als Ursache meines Elends anzuklagen.
Obwohl ich dies könnte! Und nur zu viel auch thue!“
So
weit Nietzsche in selbigem Brief an Overbeck.
Er
baute nicht mehr auf gesichertem Grund, wie wir das im Grunde alle ständig tun.
Er sprengte diese Fundamente einfach weg; raubte ihnen selbst jeden Grund und
suchte verzweifelt nach einem eigenen, der folglich in der Schwebe bleiben
musste. Noch einmal: der Philosoph sei Gesetzgeber; er schafft erst neue
Formen. Diese zu festigen sei Aufgabe jener, die folgen; wann immer. -
Was
blieb dem Tollkühnen, dem Zertrümmerer, dem Philosophen mit dem Hammer
schlussendlich übrig? Nichts Höheres ließ sich für Nietzsche denken, als am
wahrhaft Großen zugrunde zu gehen. Noch einmal: „Sprich dein Wort und
zerbrich!“ Ihm lag daran, diesen Anspruch, als ein finsteres Omen, an sich
selbst zu vollstrecken.
Bemerkenswert
bleibt im Falle Nietzsche, wie sein persönliches Leiden mit der gleichzeitigen,
eher unbewusst gefühlten Krisenhaftigkeit einer aufgeklärten Menschheit
korrespondiert; einer Fragilität, die hinter Fortschritt und Optimismus noch
nicht ganz kenntlich werden wollte. So ahnte er Tumulte voraus, deren Nachwehen
schon den nächsten Orkan heraufbeschwören. Es bleibt staunenswert, wie ihm
eigene subjektive Befindlichkeiten Tür und Tor öffneten, objektive ´Ist-
Zustände´ im Gesellschaftlichen zu erkennen, die entsprechenden Reaktionen zu
erraten und je nach Besonderheit trennscharf voneinander zu scheiden. Es war
dies ja gerade damals, ein halbes Jahrhundert vor der Urkatastrophe des 20.
Jahrhunderts, eine Gesellschaft, die im wachen Dämmerzustand, im lauen Fieber
den kommenden Erschütterungen in wahrsten Sinne Traumwandlerisch ´entgegen schlief´.
Kaum ist dieselbe heute schon erwacht: wir reiben uns, etwas übertölpelt, die
vom Schlummer umnetzten Augen. Der Samtpelz wärmt vorzüglich, noch immer, doch
scheint er aus der Mode zu kommen, wirkt austauschbar, zum Verwechseln anderen
´Modellen´ ähnlich. So muss man in Nietzsche endlich auch den Diagnostiker
eines immer wieder schwankenden, unsicheren Menschseins erblicken. Hieran
anknüpfend, möchte ich das bisher gesagte gern zusammenfassen, indem ich auf
Äußerungen Franz Kafkas zurückgreife.
Das
mag auf Anhieb ein wenig gewagt, vielleicht gar abwegig scheinen. Nietzsche und
Kafka? So verblüffend es klingt: hier lassen sich Zusammenhänge herstellen, die
dazu beitragen, gewisse Eigentümlichkeiten noch etwas deutlicher, anschaulicher
heraus zu stellen. Denn diese beiden so gegensätzlichen Naturen müssen in
bestimmten Punkten einen ähnlichen ´Riecher´ gehabt haben; hatten sie doch
beide den einen oder anderen Sinn mehr
in petto.
Halten
wir fest:
Nietzsche
passte nicht in die Zeit; weder in die eigene noch in deren andere welche,
wiewohl das geistige Erbe aller Zeiten
Erblast blieb und darob stets Anlässe bot, Anstöße lieferte - Aufbegehren
erzwang. Im Kleinen wie im Großen, je nach dem. Übrig blieb kaum etwas, an
allem musste er früher oder später verzweifeln. Der Denker setzte mit seinem
berühmten ´Gott ist tot´ einen Schlussstrich, nicht bloß unter jene zweitausend
Jahre zählende Geschichte christlicher Erbauung; er wollte, glaubte er, den
ganzen Götterglauben meucheln, und rief doch verzweifelt nach neuen Göttern,
verkörpert im Übermenschen, den er mehr träumte als dachte; als ein gewaltiges
Versprechen, als erlösendes ´Danach´, das er den Menschen ohne jede Gewähr
versprach. Ob er wirklich dran glaubte? Kafka, dessen tragische Helden vom
Irrwitz, von einer unpersönlichen, gespenstischen, seltsam real anmutenden
Groteske genarrt werden, kennen ein Davor so wenig wie ein Danach – auch ihnen
sind alle Wege abgeschnitten. Kafka sprach von sich selbst als einem ´Anfang
oder Ende´. In seinen Erzählungen macht beides keinen Sinn mehr, weil alle
Handlung sich fortlaufend im Kreis dreht, dem die jämmerliche Kreatur zur Gänze
ausgeliefert ist. Auch Nietzsche lief sich tot; in der Wüste, nicht unähnlich
dem geschmähten, am Ende aber glücklicheren Gottessohn oder Erlöser, dessen
Existenz er so hartnäckig leugnete. Um es zu wiederholen: der Denker hat sich
mit all jenen, denen seine ganze Ablehnung galt, so intensiv wie exzessiv, so
ausdauernd wie ermüdend beschäftig und herum geschlagen: vom Sokrates über
Luther und Kant bis hin zum alten Wagner. Er lernte gerade von Solchen das
Meiste, denen er rasch oder mit gehöriger Verzögerung den Laufpass gab; denen
er so oder so nicht folgen mochte oder konnte, und selbst der stickstaubige
Pessimismus eines Eduard von Hartmann,dessen weltanschauliches Konstrukt schon zu Lebzeiten nach raschem
Erfolg zügig verblasste, war ihm Anlass genug, den eigenen, gegensätzlichen
Standpunkt umso deutlicher, schärfer zu betonen. Er las gerade ihn intensiver
als Kant oder Hegel; beide gewiss nur in Auszügen oder Monografien. -
Nietzsche
litt unter vielerlei Widersprüchen; solchen, die der eigenen Person zugrunde
lagen und denen, die er der erlebten (erlittenen) Gegenwart abschaute, aus
deren Untiefen er immerzu schöpfte, deren brach liegende Potentiale er im
Gedanklichen mächtig blähen, bauschen half. Bei Kafka drängt dieser Widerspruch
in merkwürdig transzendente Welten, denen nun wirklich jedes Heil abgeht und
die wir heute als entfremdetes oder übersteigertes Zerrbild, eine in
stocksteife Schemen gepresste Wirklichkeit interpretieren. Vielleicht darf man
sie als eine Art geistiger Antimaterie begreifen, ein chiffriertes
´Parallel-Universum´, das die erlebte Wirklichkeit auf unbekannte Weise
spiegelt.
Auch
Kafka gab sich dem Werk mit Haut und Haaren hin; nahm an, dass sein Leben
ansonsten im Irrsinn enden müsste, dem Nietzsche dann auch tatsächlich infolge
luetischer Infektion verfiel. Auch Kafka ist sich keines sichernden Schonraums
mehr gewiss Er blieb Einzelgänger ein Leben lang, Kinder- und Ehelos (was er
indes unter krampfhaftem Bemühen zu verhindern suchte: selbst auf Brautschau
noch dieser heilige, unverrückbare Ernst, der alles vereiteln muss). Auch bei
Kafka ist schließlich die Krankheit ein notorischer, nie weichender, unruhig
flimmernder Schatten, der ihm auf Schritt und Tritt folgt und zu ernsten,
unwiderruflichen Entscheidungen drängt. Das führte auch ihn in die Isolation.
Die einsame Auseinandersetzung mit sich selbst, der er nie entrinnen konnte,
schuf vollendete Tatsachen im Innern, das man sich einerseits als hermetisch
verriegeltes, der Masse unendlich fernes Exil denken könnte; andererseits weit
und offen genug, um jeder Gefahr Einlass zu gewähren. „Er ist,“ schreibt Milena
Jesenska an Brod,“ ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach. Darum ist er allem
ausgesetzt, wovor wir geschützt sind.“Wie sehr Krankheit und Werk einander ergänzen, bedingen – befeuern, das
wird auch bei Kafka deutlich, wenn er in einem Brief an Max Brod seinElend
zu Papier bringt:
„Als ich heute in der schlaflosen Nacht alles immer
wieder hin- und hergehen ließ zwischen den schmerzenden Schläfen, wurde mir
wieder, was ich in der letzten genug ruhigen Zeit fast vergessen hatte,
bewusst, auf was für einem schwachen oder gar nicht vorhanden Boden ich lebe...“
Bezeichnend,
das Kafka freimütig bekennt, das er nicht mehr von der schwer sinkenden Hand
des Christentums ins Leben geführt worden sei. Gott ist tot? Oder unendlich
fern und unverstanden? Gleichwie: ihn wird das angestammte Judentum nie los
lassen, wie denn Nietzsche den schwärmerischen Protestantismus seiner Vorfahren
bis zum Schluss mit sich herum trug. Der Verächter des Mitleides umarmte am
Ende einen geschlagenen Droschkengaul. -
Somit
blieb auch Kafkas Existenz in der Schwebe, ohne Grund – gewagtes, ernstes
Experiment. Bei Nietzsche führte das geistige Ringen endlich zum ´Willen zur
Macht´, der gleichsam Torso blieb. Das Unbestimmte, Unvollendete,
Fragmentarische – die Aphorismen deuten bei Nietzsche immer wieder auf den
Schwebezustand ernst gefasster, klarsichtiger Meinungen hin – das ist dem Werke
Kafkas ebenso eigentümlich wie dem des um ein halbes Menschenleben älteren
Denkers.
Wenn
Nietzsche behauptet, das der Mensch ein Versprechen sei, eine Brücke, wer weiß
wohin, dann könnte man sich ohne weiteres vorstellen, das Kafka dem zugestimmt
hätte, mit der ängstlich nachgeschobenen, vom anderen sofort verstandenen
Frage:“ Wozu nur...“
Der Umwälzer
„Die
Definition des Schriftstellers, eines solchen Schriftstellers,
und die Erklärung seiner Wirkung, wenn es eine
Wirkung überhaupt gibt: Er ist der Sündenbock der Menschheit,
er erlaubt den Menschen, eine Sünde schuldlos zu genießen,
fast schuldlos.“
Franz
Kafka in einem Brief an Max Brod
05.07.1922
Es
wird mir in der folgenden, kurzen Betrachtung nicht darum gehen, diverse
Inhalte erschöpfend zu behandeln, indem ich zugrunde liegende Einzelaspekte
summarisch offeriere. Auch dieses Kapitel begnügt sich damit, Bruchlinien und
Eckpunkte auf zu zeigen, rote Fäden zu verfolgen, dunkle Flecken zu beleuchten
– überhaupt: die Schemen und Konturen gewisser Eigentümlichkeiten zu erhellen.
Eine liegt im Falle Nietzsche stets auf der Hand und kann gar nicht oft genug
wiederholt werden: das nämlich sein Denken auf nahezu verwirrende Art und Weise
vielfältig, mehrdeutig - zwiespältig gewesen ist und damit ein deutliches
´Mehr´ an Möglichkeiten in Aussicht stellte; hauptsächlich, indem er entlarvte
und ertappte. Dabei schuf der Philosoph kein System im herkömmlichen Sinne
mehr. Er glänzte stattdessen mit einer Fülle forscher, ja frecher Gedanken und
Anregungen, deren verführerisch werbende Wendungen den Ernst und die Tiefe
seines geistigen Ringens wortmächtig, beinahe feierlich in den rechten Rang
heben und trotz ihrer Transparenz jeder einheitlichen Festlegung geschickt
widerstehen. Diesen auf den ersten Blick willkürlich waltenden Geistsblitzen
ist eine heimliche, mehr unterirdisch waltende Einheit eigentümlich; eine, die
als Fundament mehr trägt als stützt. Alles blieb in Bewegung. In der
Vereinzelung deuten die Aphorismen auf eine Sammlung, die sich nicht mehr in
den üblichen Formen umsetzen ließ: ein philosophisches Gedankengebäude als System konnte in der Nachfolge Kants
oder Hegels im Eingang zum 20. Jahrhundert kaum mehr befriedigend realisiert
werden, da es bereits an allen Vorraussetzungen für eine solchen Auftrag
mangelte. Die Lotze, Fechner oder Wundt, Hartmann, Natorp, Vaihinger oder Cohen
kamen spät, allzu spät; und schnörkelten als echte Epigonen nur leidige
Verzierungen auf alte Tapeten, schufen Vorgärten und Hofeinfahrten im Schatten
alter, bröckelnder Gemäuer, über deren rostroten Zinnen schon die schwere
Abrissbirne schaukelte.
Wie
anders Nietzsche. Wir hatten es eingangs ja schon angedeutet. Er plünderte die
Bestände, nahm sich, was er kriegen konnte und stampfte den Rest einfach ein.
Mit welchem Ziel? Eines ist gewiss: An einer weiteren Auslegung oder Deutung
der Welt, die sich fälschlich ´Wille zur Wahrheit´ schimpfte, war ihm, der sie
als kraftstrotzendes, grenzenlos Grenzen schaffendes und wieder zerstörendes
Ungeheuer begriff, nicht mehr gelegen. Keine ´klassische´ Lehre bot er; noch
gründete er irgendeine Schule. Er räumte auf, um wieder etwas mehr Platz zu
schaffen, der Freiheit willen und um Aussicht auf ein Neues, das er versprechen
durfte, weil er es schon gedacht, und das heißt in seinem Falle: gelebt und
gelitten hatte. Intensiver als er hat kaum einer mit Themen gerungen, die nach
Wahrheit schreien und am Ende nur ein weiteres Verstummen zeitigen. Eine Sache
´fort spinnen´ hieß: etwas fort stoßen, es los werden – frei werden. Dieses
´Aus dem Wege räumen´ alter Vorurteile mittels provokanter Zuspitzungen,
Thesen, Kernaussagen: es bedurfte keiner bindenden Systematik mehr, denn über
die schonungslose Kritik an einem mit Haut und Haaren durchlebten, nach allen
Regeln der Kunst durchleuchteten Problem, rechtfertigte er seinen Standpunkt
auch dort, wo er sich, aufrichtig wie kaum ein Denker vor ihm, selbst
wiedersprach. Gegensätze galt es nicht zu einen, ihr Widersprüchliches war kein
Argument gegen den Zwiespalt allen
Seins, der sämtliche Divergismen band und gerade so zu Einsichten, ja:
Fernsichten zwang; so weit das stolze Auge blicken konnte. Ihm war die Lüge
göttlich, in einer gottlos waltenden, ewig wartenden, immer sinnlosen und damit
eines Sinnes tief bedürftigen Welt. Es ist bezeichnend, das der Versuch, über
den ´Willen zur Macht´ dann doch ein schlüssiges, wegweisendes System zu bauen,
scheitern musste. Die Welt als Wille und Vorstellung begriff er als einziges,
ewiges Spiel; nicht mehr, nicht weniger. Dem musste, sowohl inhaltlich als auch
rein sprachlich, entsprochen werden. Dem Nivellement einer blutleeren, mühselig
konstruierten Systematik setzte Nietzsche zeitlebens die sinnstiftende Form
einer bewusst polemisch gehaltenen Prosa entgegen, die gerade ob der geballten
Form, ob des kurzen, kalkulierten Umfanges bestach und herausforderte
(Nietzsche sprach davon, das man seine Aphorismen ´widerkäuen´ müsse: „Lernt
mich gut lesen!“). An diesen Miniaturen musste und muss man sich reiben, sie
zwingen zur Stellungnahme und lassen gleichzeitig vieles offen; in der Schwebe
eben. Umwälzend hat Nietzsche also schon in punkto Form und Stil gewirkt. So
schrieb in Deutschland nie einer; auch Lichtenberg nicht. Umwälzen hieß ferner:
Ballast loswerden. Dieser ´eine Schritt alle sechs Jahre´, das bedeutete wieder
und wieder das elende ´Drüber weg kommen´, ein mühsames, zähes Abschütteln
dessen, was noch leben will und doch halb tot ist. Man lasse sich nicht
täuschen von der ungeheuren Vielzahl seiner Aphorismen: diese
Häufungen,
als dauernde Anläufe, waren Ausgeburten eines Fieberkranken, nur Mittel zum
Zweck, Resultat eines fortgesetzten Prozesses, der ihn erleiden, erdulden,
erzwingen – erbrechen ließ; um endlich wenigstens etwas loswerden zu können. Er schuf weniger – er schöpfte. Er baute
kaum – er brach sich Bahn. Und dann, als Mensch, endgültig zusammen.
Aber
bei Nietzsche ist niemals der Weg das Ziel gewesen. Der Weg glich eher einem
Opfergang, durch wildes, unwegsames Gelände hindurch, und die Spuren, die der
schwere Gang zeitigte, führen oft genug in ein Terra Obscura. Dort verblassen
auch die Wegmarken, und auch die begehbaren Pfade selbst verwildern, muten wie
unwegsames Gelände an. Ein echter Eroberer hat sich das Terrain schon selbst
frei zu kämpfen. Dem geneigten Leser müssen Nietzsches Schriften immer
Fallstricke, Labyrinthe und auch Sackgassen sein. Das gute Lesen, das
widerkäuen versteht jener als einen umständlichen, zähen Akt der Aneignung. Man
verschluckt sich leicht und das geht auf den Magen. Das kapieren heute auch die
wenigsten. Das hat schon damals kaum einer begreifen wollen. Seiner Schwester
gegenüber klagte Nietzsche, durchaus milde gestimmt, im Blick auf den Zarathustra:“
Du glaubst also auch, ich hätte ein Buch geschrieben?“ Er wollte damit eben
mehr; viel mehr.
Das
Ziel des Weges – die Geburt – kam einer Katastrophe, einem Todesstoß gleich.
Das musste unser Denker etwa nach rascher Vollendung des ersten Teiles vom
Zarathustra spüren, wo er in einem Brief darüber klagt, dass wieder Nacht um
ihn sei. Er glaube, schreibt er ferner, als habe der Blitz eingeschlagen; ihm
ist, als müsse er unfehlbar zugrunde gehen. Stand er doch wieder vor dem
Nichts. Der schöpferischen Kraft folgte ein Fall ins Bodenlose (siehe Kafka),
dass er auf diese Weise stets von neuem herausforderte. Und von gähnender Leere
umklammert, lag jener allzu oft wie gelähmt; wie tot. Wer umwälzt, kommt nicht
umhin, zu zerstören, zu zerbrechen – am Ende zerbricht so jemand an sich
selbst.
Die
Sünde, die er litt – er hätte niemals von einer gesprochen – geriet
solcherart zu einem bequem konsumierbaren Lesestoff. Es ist, wie schon erwähnt,
ein leichtes, sich das eine oder andere da rauszupicken; die Rosinen. Ihm war
jedes neue Werk nur ein einziger, in mühseligen Anläufen wiederholter, unter
Qualen abgerungener – hart erkämpfter Schritt. Rührend, wie er im letzten
Aphorismus der ´Morgenröte´ von jener Luftschifffahrt des Geistes sprach: die
war eben doch nur Voraussetzung für diesen einen Schritt, auf den es ankommt, auf
den alles hin will; nur fort. Und wie er die nagende Einsamkeit zu mildern
suchte, indem er sich damit tröstete, das es ja noch andere kühne Vögel gäbe,
die immer weiter und weiter flögen, um endlich doch auf einem verlorenen,
fernen Fels zu landen; das rührt. Die Höhe, die er hier Weite nennt, war ihm
Anlass genug, das Äußerste zu wagen. Das fordert einen kühnen Blick. Und den
bekannten Sprung ins kalte Wasser. Wem wachsen schon auf Anhieb Schwingen?
Tumbe Geier und trächtige Turteltauben umkreisen bis heute, aufgeplustert und
eifersüchtig schnarrend, den einsamen Klotz und fechten flügge um ein wenig
Aas.
Der Wegbereiter
„Bei weiterem Absinken der Kultur könnte der Nachruhm
als Ergebnis negativer Auslese sogar Zu
fürchten sein.“
Ernst Jünger
Nun
sind wir wieder an einem Punkt angelangt, dem ich nicht ohne Grund bereits in
der Einleitung einen gebührenden, wiewohl fragwürdigen Platz einräumte; als
Anregung sozusagen. ´Die Revolution frisst ihre Kinder´ - das könnte man so
auch im Falle Nietzsche sagen, der ganz gewiss Revolte gemacht hat. Im
Feuilleton einer Lokalzeitung hat man ihn just einen ´Pechvogel der
Philosophie´ genannt.
Ganz
gleich, wie man zu ihm steht, ob man im Einzelnen zustimmt oder nicht:
Nietzsche wirkt bis heute vor allem im persönlichen, im privaten Bereich; als
weltanschauliches Therapeutikum, das auf Anhieb berauscht und auf Dauer kaum
bekommt. Den ewig Unzufriedenen und Unbehausten, den freien Geistern und
Künstlernaturen, den ´Christenketzern´ vor dem Herrn, überhaupt all jenen, die
sich genötigt sehen, im Verborgenen hausen zu müssen – ist er ein dankbarer
Hirte gewesen: einer, der ins vermeintlich gelobte Land führt. Das betont
Heroische, Unbeugsame, das in seinen Schriften, trotz aller Sensibilität und
Romantik (nebst grell konterkarierender Eisesschärfe!) so verführerisch wirbt,
schmeichelt solchen, die selbst im Stillen darben, etwas meckern und bocken und
unter Krämpfen auf Entfaltung pochen. Das galt schon für jene überragenden
Geister, die noch zu Lebzeiten oder unmittelbar darauf langsam aufhorchen
ließen. Ein George oder Benn, auch Thomas Mann und etliche unterschiedliche,
unsichere Kantonisten mehr: sie alle bedienten sich seiner, um, wie jener,
angemessen zu sich selbst finden zu können. Aber täuschen wir uns nicht über
einen grundsätzlichen Tatbestand hinweg: uns allen – den Verfasser dieser
Betrachtung inbegriffen – ist er bloß ein schnelles Narkotikum, ein kurzfristig
betörendes Rauschmittel gewesen; als Zweck, der unsere Mittel heiligt, indem
wir ihn, den Heilsbringer oder Unheil kündenden Herold, geradewegs ´erledigen´
- mittels einseitiger Beschlagnahme, die nur das Eigene kennt. Er hat das
provoziert, geradezu herauf beschworen. Jeder zieht sich das aus ihm heraus,
was ins jeweilige Konzept passt. Er hat uns doch einen solchen Reigen an
Einfällen hinterlassen. Sein Werk provoziert den geschmähten Kompromiss, weil
es eben besagter Widerspruch geblieben ist – aus vielen Nöten geboren, etliche
Zweifel provozierend, ´neue Reiche´ kündend, die freche Aneignung immer wieder
herausfordernd. Ein Kraftstrotzender Vulkan, dieses Werk; aber auch der
gravitätisch gebietende Abgrund, der als unruhiger Malstrom unaufhörlich reißt
und vernichtet. Die schiere Fülle forsch hingeworfener Fragmente berauscht. Der
´Dusel´ bemächtigt sich gern junger, unreifer Seelen, wie denn das
Erweckungserlebnis Nietzsche vor allem als gesellschaftliches Phänomen gewertet
werden muss: jugendlicher Erbauung zu Diensten, was dem Denker sicher gehörige
Verachtung abgenötigt hätte – er wollte viel mehr. Ihm war schon zu Lebzeiten
dass bloße, oberflächliche Gehimmel ein Graus, die Anwesenheit berauschter
Jünglinge machte ihn, der nach Gefolgschaft lechzte, zusätzlich krank. Er
brauchte dann umso mehr seinen einsamen Felsen, die versprengte Klippe – das ferne,
schroffe Exil. In irgendeinem Brief bittet der einsame Philosoph irgendwen, er
möge ihn in Zukunft vor diesen lästigen jungen Menschen bewahren. Sicher: das
soeben wie Irrsinn um sich greifende ´Deutschtümeln´ kann ihm, dem ewigen
Dünnhäuter, nur Ausschlag und Krätze verursacht haben.
Der
stolzen Abgeschiedenheit, die er sich – immer irgendwie auf der Flucht –
räumlich erkämpfte, gleicht das zerklüftete, kühn in den wüsten, schroffen
Stein gehauene Werk. Herausfordernd und abweisend zugleich, wortselig leuchtend
und doch dunkel in seinen Andeutungen und Versprechen, reizt es zur direkten
Auseinandersetzung und stösst oft unmittelbar ab. Zugänglich ist es jedem, der
am gewandten, artistischen Spiel mit Worten Gefallen findet. Aber wirklich
zutraulich und im Letzten empfänglich kann es nur den wenigsten werden. Es
lohnt, immerhin, mit dem Feldstecher sondiert zu werden, aus sicherer
Entfernung.Um noch einmal den einsamen
Felsen zu bemühen, der kecken Wandervögeln als Raststatt dient: den sehen die
wenigsten und das hat seinen Grund, denn hier schneidet man sich an den kalten,
von Sturm und Wind gegerbten Kanten tief ins Fleisch. Und rasch vereinsamt, wer
staunend der endlosen Weite erliegt, die wie ein einziger Schauder ringsum
gähnt. Solche, die auf eine bloße Besichtigung aus sind, haben es besser, die
können schnell wieder ´einpacken´ und weiter segeln. Viele wird der Ausblick
kurzfristig betören; sie mögen sich, tiefinnerst, am Pathos der grenzenlosen
Weite ´entzünden´, entzückt vom Klatschen der Wellen, dem ewigen Gleichtakt des
Äons: die Distanz aber bleibt bestehen. Zu beunruhigend, zu verwirrend
vielgestaltig bleibt auch das, was unter der wogenden Oberfläche waltet, indem
es dauernd wütet; ewiglich. Nietzsche hat diesen Akt ewiger Verzweiflung, die
dem ´Ungeheuer Welt´ geschuldet ist, so licht in ´leichte´ Worte gezwungen, wie
ihm dies nur möglich schien. Das ging nicht ohne Gewalt, ohne Brüche
vonstatten. Das unterscheidet ihn gleichsam von den Altvorderen; etwa einem
Kant, der in Demut und Bescheidenheit ein gleichsam stattliches, in summa aber
schlüssiges, unmissverständliches, das heißt: verdächtiges Werk schuf. Schwer
zu lesen, weil umständlich und verknöchert geschrieben; langatmig bis
stickstaubig, logisch und ohne Brüche oder Kanten. Da ist nichts, was den
Menschen ´an sich´ spiegelt. Die Kreatur bleibt seltsam unberührt, abstrakt –
abgeleitet. Im Grunde bläht sich in diesem Werk das pedantische Wesen seines
Verfassers: bürgerlich und blutleer, gründlich und grau, blass und breit –
kleinlich und sauber. Das brachte gleichsam Erkenntnisgewinn, denn er sezierte
in bescheidenen, kleinen Schüben, ohne Unterlass, stur der eigenen Fährte
folgend. Die Kritik der reinen Vernunft ist das Ergebnis einer gewaltigen
Anstrengung des Denkens; zugleich liest sich das alles ganz brav und bieder –
fast langweilig. Sie führte zu einem Umdenken und zeitigte keine Umbrüche oder
Eruptionen. Dieser Denker hinterließ kein Dynamit. Und wenn Schopenhauer -
schon als junger Mensch ein alter, vorzeitig ergrauter Ober-Oberlehrer - die
Nichtigkeit des Daseins konstatierte, sein Werk damit beschloss und darüber
noch einmal so richtig alt und zynisch wurde, ohne noch irgendwem wirklich weh
tun zu müssen, dann fing bei Nietzsche die Krise überhaupt erst an; die
Krankheit, der Schaffensdrang – am Ende der Irrsinn. Gemein ist diesen dreien
wohl nur das dauernde und geduldig durchgehaltene abseits stehen; jeder tat das
freilich auf seine Weise. Und alle großen Denker sind am Ende borniert, verbissen – in
etwas verrannt gewesen. Jeder seinem Dämon gemäß. Jeder im Grunde für sich.
Jeder allein.
Nietzsche
blieb zeitlebens ein vielfach gespaltenes, sich mit nichts zufrieden gebendes,
ewig suchendes Wesen. Kurzum: ein Mensch in Reinkultur. In ihm kulminierte
dieses zutiefst europäische Ideal, das man nicht zu Unrecht ein faustisches
genannt hat. „Sprich dein Wort und zerbrich!“ Er sucht seinesgleichen in der
Geschichte, die ihn kaum entdeckt hat, da sie noch umständlich schwätzt, wo sie
ihn zu würdigen meint. Das gilt für uns alle, und es geht einstweilen wohl
nicht anders, um seiner wenigstens in Ansätzen Herr zu werden. Heute, bei aller
Entfremdung, die er prognostizierte, ist man, seinem Werke gegenüber,
aufgeschlossener denn je; gleichzeitig stehen wir so fern wie nie. Der Übermensch,
den er sich ausdachte, lässt sich kaum mehr (be)greifen; die Zeit gehört bis
auf weiteres noch den tölpenden Titanen und hastenden Heloten; der tumben
Masse, in welcher der Einzelne neuerdings als konsumgeiler Individualist
kapituliert, dem alle anderen – die Gemeinschaft – so egal sind, wie dies
Nietzsche, in einem gänzlich anderen Sinne, ersann. Da lässt sich die Vision
vom Donnerer nur mehr träumen. Die Krise, die der Denker vorausahnte, hat sich
schon wieder gelegt und insgesamt noch nicht jene Zerstörungen gezeitigt, die
ihm angemessen, weil konstituierend schienen. Es kann und es darf kein Zufall
bleiben, dass Nietzsche in dem, was er kündete, ein tragischer Held blieb. Ein
Ikarus des geistigen Überschwanges, zu stolz und stark für eine Welt, an der er
scheitern musste. Ein Übermensch, der sich in allem selbst übernahm; zu zart
besaitet, um gerade das zu zermalmen, was ihn im Innern still beseelte. -
Fazit
Fassen
wir noch einmal zusammen.
Der
Tragik des Leidens im Wollen und Werden folgte bei Nietzsche unweigerlich die
Tragik einer unbedingt einsamen Geburt. ´Keiner hat etwas durch mich erlebt´
drückte er diese Erfahrung in einem Brief aus. Da ist kein Publikum, kein Kreis
– kein einziger Leser weit und breit. Werk und Menschen bleiben isoliert. Beidem
indes, dem Leid und dem Werk, werden positive, durchaus versöhnlich stimmende
Züge abgewonnen: die ´Schwangerschaft´ bindet ans Leben, die Geburt schenkt
wiederum neues Leben: der Abkömmling soll in die Welt kommen. So lag dem
´Gebärenden´, der unter Qualen nach ´Entbindung´ strebte, nichts mehr am Glück.
Er glaubte daran – er musste daran glauben.
Tragisch
dann das kraftlose Erschlaffen nach schaffendem Vollzug. Da blieb als einziger
Trost, etwas in der Zeit vollbracht zu haben; gleich, ob die Welt es schon
verstand oder nicht.
Aber
keine Reaktion ist vielleicht noch besser als irgendeine. Die Tragik, von
nachfolgenden Generationen in schamloser Weise ´vergewaltigt´ zu werden
übertrifft, dem Grade nach, eventuell noch alle vorangegangene, persönlich erlittene.
Die meisten derer, die das Werk besichtigen, trotten, gleich einem Tross
lärmender Pauschalreisender, als echte Barbaren ein Kuriositätenkabinett ab.
Vielleicht
wäre viel damit getan, Nietzsche wieder als jemanden zu begreifen, der
zeitlebens ein Rätsel blieb und bis auf weiteres bleiben muss. Wer liest aber
heute noch, wie jener es forderte? Ein Mestize meditiert still und hartnäckig
über den heiligen Schriften - ist es zu viel verlangt, auch an unseren Denker
wieder mit etwas mehr Ehrfurcht heran zu treten? Wir sollten weiter an ihm
rätseln; so, wie wir auch den Überlieferungen Heraklits oder den Sinnsprüchen
Hamanns manches Geheimnis abringen, indem wir uns wieder Zeit nehmen - leisten
wir eben dieser Maxime Folge.
Sein
Weg, sein Leben – sein Werk: wer vermag denn restlos daraus schlau zu werden?
Er ist nicht leicht zu begreifen. Ihn schwer zu nehmen, um es vielleicht doch
etwas leichter mit ihm zu haben – wäre ein Weg.
Wohlan.
Anmerkung:
Dieser Beitrag erschien erstmals zum neuen Jahrtausend aus Anlass des
hundertsten Todestages Friedrich Nietzsches (Renovatio Imperii. Zeitschrift
für einen geladenen Leserkreis. Ausgabe II, 2000). Der Stil, betont ausgrenzend und elitär, entspricht einem Anspruch,
den der Verfasser in dieser Zuspitzung heute kaum noch für nötig hält.
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