Erschienen in Ausgabe: No 71 (1/2012) | Letzte Änderung: 06.02.13 |
Antinatalismus in Georges Poulets unbekanntem Meisterwerk „Nichts ist...“
von Karim Akerma
Existenzverwünschung
und Existenzvorwurf
Kaum ein Thema ist stärker tabuisiert, als die Frage: „Warum
haben wir Kinder?“ Das soeben erschienene philosophie-Magazin ist nicht
nur deswegen zu beglückwünschen, weil es gleich in der ersten Ausgabe, für
Januar 2012, dieser im deutschen Denken unterbelichteten Frage das Dossier
widmet, sondern zumal auch deshalb, weil darin von Wolfram Eilenberger das
Gebot des philanthropischen Antinatalismus („Kinderlosigkeit ist die
Nächstenliebe unserer Zeit“) bedacht wird: „Du sollst nicht zeugen!“ In der Tat
ist „Du sollst nicht zeugen!“ das Urgebot aller Ethik, da bei seiner Befolgung
alle weiteren ethischen Gebote alsbald überflüssig würden: Hielten sich alle an
das Urgebot, so gäbe es in circa 100 Jahren keine Menschen mehr, um
derentwillen etwa an das Gebot „Du sollst nicht töten!“ zu erinnern wäre. Aller
Unmenschlichkeit und aller Ethik – deren raison d’être die Unmenschlichkeit
ist, als deren Korrektiv sie ja auftritt – wäre der fruchtbare Boden entzogen.
Aber – so lautet der Lieblingseinwand gegen den
philanthropischen Antinatalismus: Sind nicht alle Personen froh und ihren
Eltern dankbar, dass ihnen das Leben „geschenkt“ wurde? Keineswegs. Wer in der
Lage ist, Urlaub von sich selbst zu nehmen und sich in Gedanken ungeworden zu
machen – Dichter und Denker also –, gelangt zu erstaunlichen Ergebnissen, ja:
mitunter zu Appellen und Vorwürfen! Lassen wir an dieser Stelle die geläufige
und eher adressatenlose antike Existenzverwünschung eines Euripides oder
Sophokles (mit ihrer Hochhaltung des μὴ φῦναι – Nichtgeborenseins – als
dem Besten) außer Betracht; dem Schicksal kann man schlecht einen Vorwurf
machen. Und schenken wir drei Großdichtern ein wenig Aufmerksamkeit, denen
existenzerhellend klar wurde, dass Existenzgründer ihre Geschöpfe ungefragt (!)
hervorgehen lassen.
Dante
In Dantes Göttlicher Komödie findet sich eine
Existenzverwünschung, deren Adressaten gleichermaßen Gott und Eltern sind:
„Sie lästerten auf Gott und ihre Eltern,
Die Menschheit und den Ort, die Zeit, den Samen,
Aus welchem sie erzeuget und geboren.“
(Dante, Göttliche Komödie, Bechtermünz Verlag o. J., Die Hölle, dritter Gesang,
S. 24)
John Milton
Miltons Adam schleudert seinem Schöpfer, Gott, den Vorwurf
entgegen:
„Bat ich dich etwa, Schöpfer, mich aus Ton
Zum Menschen zu gestalten, aus dem Dunkel mich zu erheben
oder mich hierher
Ins Paradies zu setzen? Nein, ich war,
Ward ohne meinen Willen; drum wär’s billig,
Ich würde wieder Staub auf meinen Wunsch.
Nimm alles hin, was ich empfing; zu schwer
Sind die Bedingungen, die mir ein Glück,
Nach dem ich nicht gestrebt, verbürgen sollten!“
(John Milton, Das Verlorene Paradies, zehntes Buch, 743ff,
Zweitausendeins, Ff/M 2008, S. 501)
Mary Shelley
Auch in Mary Shelleys Frankenstein ist der Topos
bloßer Existenzverwünschung überschritten, und es kommt zur Anklage gegen den
Schöpfer. Dabei ist sich Shelley der Existenzanklage im Werk ihres berühmten
Vorgängers Milton bewusst und rekurriert auf den von Adam gegen seinen
göttlichen Schöpfer gerichteten Vorwurf, um die Daseinsnot des von Dr.
Frankenstein geschaffenen Kunstmenschen drastisch hervortreten zu lassen:
„Like
Adam, I was apparently united by no link to any other being in existence; but
his state was far different from mine in every other respect. He had come forth
from the hands of God a perfect creature, happy and prosperous, guarded by the
especial care of his Creator; he was allowed to converse with, and acquire
knowledge from, beings of a superior nature: but I was wretched, helpless, and
alone.” (Shelley, Frankenstein, Könemann 1995, S. 126) „Accursed creator! Why
did you form a monster so hideous that even you turned from me in
disgust? God, in pity, made man beautiful and alluring, after his own image;
but my form is a filthy type of yours, more horrid even from the very
resemblance. Satan had his companions, fellow-devils, to admire and encourage
him; but I am solitary and abhorred.” (A.a.O., S. 127)
Darin Adam vergleichbar, ist der todunglückliche Kunstmensch
des Dr. Frankenstein ein erster seiner Art. Anders jedoch als Adam, wird er
auch der einzige bleiben. Denn den Wunsch nach einer glücksverheißenden
Gefährtin verwehrt ihm Dr. Frankenstein, indem er den ersten weiblichen
Kunstmenschen kurz vor der Fertigstellung in seinem Labor zerstört.
Daseins-Anklage bei Georges Poulet
Die weitausgreifenden Forschungen des bedeutenden
Antinatalisten und Privatgelehrten Guido Kohlbecher haben mit Georges Poulets Rien
n’est... einen Roman zutage gefördert – und somit die raison d’être für den vorliegenden Text
zuallererst bereitgestellt –, in dem der altüberlieferte, die gesamte
europäische Kulturgeschichte durchziehende Topos der Existenzverwünschung
einen literarischen Kulminationspunkt erreicht und neue Gestalt annimmt: in
einer gegen die eigenen Eltern gerichteten Daseins-Anklage (für eine
Zitatensammlung siehe Heinz Rölleke: „O wär’ ich nie geboren!“ Zum Topos der
Existenzverwünschung in der europäischen Literatur, B. Kühlen Verlag,
Mönchengladbach 1979)
Vielleicht ist Georges Poulet der erste, der in seinem nicht
ins Deutsche übersetzten Entwicklungsroman Rien n’est... von 1913 die
Topoi einer bislang eher ohnmächtigen Existenzverwünschung und des
Existenzvorwurfs literarisch überschreitet und jene verrechtlichte und gegen
die eigenen Eltern gerichtete Personalisierung der Existenz-Anklage konturiert,
die in vergangenen Jahren weltliche Gerichte die bis dato rechtsferne metaphysische
Frage eines Rechts auf Nichtexistenz behandeln ließ.
In seinem vom belgischen Literaturnobelpreisträger
Maeterlinck hoch gelobten – Romanführt Poulet vor, wie die Substanz für
eine Daeins-Anklage aus der Logizität des französischen Code Civil
gewonnen werden kann. Aller Daseinsdankbarkeit den Rücken kehrend – die den
meisten Menschen wohl schon mit der nährenden Muttermilch verabreicht wird
(sofern sie nicht zu den Millionen Kindern gehören, die seit Menschengedenken
alljährlich verhungern oder an einfachen Infektionen sterben) –, zieht Poulet
gleichsam einen Korken aus dem Napoleonischen Code Civil. Der
Flaschengeist entweicht, offenbar ohne zu Lebzeiten Poulets auf die forma
mentis Einfluss zu nehmen. Nach rühmender Erwähnung durch Maeterlinck findet
sich erst in unseren Tagen ein später Widerhall dessen, was bei Poulet
vorgezeichnet ist: eine Verrechtlichung und Personalisierung der
Existenzverwünschung. Notwendigerweise ungefragt gezeugte und geborene,
unverlangt existierende Menschen mit schweren Behinderungen begreifen sich als
Opfer einer Untat und setzen sich heute in einigen Fällen gegen die Gründer
ihrer Existenz oder gegen ärztliche Fehldiagnosen (Präimplantations- oder
Ultraschalldiagnosen, bei denen schwere Krankheiten oder Missbildungen
übersehen wurden) mit Mitteln zur Wehr, die im französischen Code Civil
vorgebildet sind.
Vermittelt über Poulets diesbezügliche Ausführungen hätte
mit dem Code Civil ein bedeutendes neuzeitliches Rechtskorpus für
tatsächlich vorkommende Daseins-Anklagen unserer Gegenwart zum Vorbild und
Movens werden können. Anders gesagt: Ausgerechnet in einem der maßgeblichen
neuzeitlichen Immunsysteme, mit denen eine zivilisierte Zukunft der Menschheit
garantiert werden soll, entdeckt Poulet unter den Auspizien von Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit eine Schwachstelle unserer kaum hinterfragten
gesellschaftlichen Synthesis, die es jedem gestattet, gegen die Gründer der
eigenen Existenz zu klagen. In der rechtsmetaphysischen Fluchtlinie einer
Menschheit, deren Individuen über den Nötigungscharakter ihrer Existenz
aufgeklärt sind, liegt nichts Geringeres als eine Klagewelle, die zur
Existenzgründung entschlossene Paare von ihrer Entscheidung Abstand nehmen
ließe und somit zum Verebben menschlicher Existenz auf Erden führte.
Der Fortschritt von der altüberlieferten
Existenzverwünschung antiker Provenienz hin zur modernen Daseins-Anklage
ereignet sich in nachstehender, dem jungen Andoche in den Mund gelegten –
seinen Vater, Galipiat, lästernden – Passage, die ich parallel im französischen
Original und in deutscher Übersetzung biete:
Je sais bien que j'ai l'air de dire une bêtise quand je
déclare que je n'ai pas demandé à naître. C'est cependant vrai. Connais-tu l’article 1382 du Code civil? – Non, fis-je, surpris de l’arrivée de Code civil dans cette histoire. – L’article 1382 dit textuellement: «Tout fait quelconque de l'homme, qui cause à autrui un dommage, oblige celui par la faute duquel il est arrivé à le réparer.» Eh! bien, Galipiat a pu prendre un certain plaisir, le jour où ma mère a consenti à le distraire; mais c’est moi qui ai payé la casse, si j’ose ainsi parler. Il y a eu de sa part dommage causé à ma personne, puisqu’il m’a transmis la vie et, avec cette servitude douloureuse, toutes les maladies que lui, sa femme et leurs ascendants à l’un et à l’autre ont recueillies et collectionnées au cours de leurs débauches, de / leurs aventures et de leurs fatigues, sans compter celles que je vais gagner moi-même dans mes propres excès et mes catastrophes personnelles. Tu crois que c'est par imprudence ou par négligence que mon père m'a laissé tomber dans ce monde; [...] Dans son for intérieur, il a décrété ma naissance. Il a dit°: moi, Blaise-Isidore-Anastase Galipiat, épicier et propriétaire à Javeau -le-Fleuri, de par et pour mon bon plaisir, je condamne le futur Andoche, mon fils légal et légitime, à toutes les peines, fatigues, tourments, travaux vulgaires, obligations sociales, servitudes mondaines, souffrances corporelles, tortures morales, à tous les fléaux, tristesses et misères, râles, affres et hoquets que comporte l'existence en ce bas monde [...], et cela en dernier ressort, sans appel, sans qu'il puisse s'y soustraire ni protester, et jusqu'à ce que mort s'en suive. (Georges Poulet, Rien n'est..., Librairie Ollendorf, Paris 1913, S. 87ff) |
Ich
weiß sehr wohl, dass es wie eine große Dummheit klingen muss, wenn ich jetzt
erkläre, dass ich nicht darum gebeten habe, geboren zu werden. Aber dem ist tatsächlich so. Kennst Du Artikel 1382 des Code Civil? – Nein, sagte ich, überrascht, dass der Code Civil in diese Geschichte hereinspielt. – Artikel 1382 sagt wörtlich: „Jede Handlung eines Menschen, von welcher Art sie auch sei, verpflichtet, wenn sie einem anderen Schaden verursacht, denjenigen, durch dessen Verschulden dies geschah, zur Entschädigung.“ Also: An jenem Tag, an dem meine Mutter zustimmte, ihn ein wenig zu unterhalten, hatte Galipiat seinen Spaß; doch bin gewissermaßen ich es, der für den Schaden aufkommen muss. Er ist der Urheber eines mir zugefügten Schadens, da er in leidschwangerer Dienstbarkeit das Leben an mich ebenso weitergegeben hat wie all die Krankheiten, die er, seine Frau und ihre Vorfahren im Laufe ihrer Ausschweifungen gesammelt haben, ihrer Abenteuer und Strapazen, ganz zu schweigen von denen, die ich mir im Zuge meiner eigenen Exzesse und persönlichen Katastrophen zuziehen werde Du meinst, dass ich in diese Welt geworfen wurde, geht auf die Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit meines Vaters zurück; [...] In seinem Innersten hat er meine Geburt verfügt. Er sagte: Ich, Blaise-Isidore-Anastase Galipat, Besitzer einer Kolonialwarenhandlung in Javeau-le-Fleuri, verurteile den künftigen Andoche, meinen legalen und legitimen Sohn, um meines reinen Vergnügens willen zu allen Kümmernissen, Strapazen, Qualen, niederen Tätigkeiten, sozialen Verpflichtungen, gesellschaftlichen Zwängen, körperlichen Leiden, Gewissensmartern und liefere ihn jeglichen Plagen aus, aller Trübsal und Misere, dem Todesröcheln, Grauen und Aufstoßen, die mit dem Dasein in dieser niederen Welt einhergehen [...] und ich tue dies in letzter Instanz, ohne Möglichkeit zum Einspruch, ohne dass er sich alledem entziehen oder protestieren könnte, bis dass der Tod eintritt. |
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