Erschienen in Ausgabe: No 71 (1/2012) | Letzte Änderung: 03.01.12 |
von Alexander Kissler
Konsumrausch und Bekenntnisscheu, organisierte
Vorfreude ohne echte Festfreude, Rührseligkeit statt Anspruch,
Herausforderung, Heiterkeit: Damit dürfte die in weiten Teilen der
spätmodernen Gesellschaft vorherrschende Weihnachtskrise, geboren aus Unwissenheit oder echter Gegnerschaft,
beschrieben sein. Dass unlängst ein Kandidat bei einer TV-Quiz-Show
ausschied, weil er den vierten Advent auf die Zeit nach Heiligabend
verlegte, passt ins Bild. Vielleicht als Fest der Familie oder des
Friedens scheint die Geburtsstunde des Christentums noch konsensfähig.
Mancherorts stellt man multireligiöse Krippen unter den Baum.
Gilbert Keith Chesterton (1874 – 1936) hat all dies
wie so vieles kommen sehen – auf typisch chestertonische Art, mit Witz
und Verve, ohne sich die Freude, ja den Spaß am Christfest
vergällen zu lassen. Wer vom geistreichsten Schriftsteller, den England
im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, nur die Detektivgeschichten um
Father Brown kennt, kennt Chesterton nicht.
Der Essayist und Erzähler, Lyriker und Dramatiker,
Journalist und Romancier war ein Gedankenvulkan von ebenso einnehmendem
wie ausladendem Wesen. Er stritt als „Apostel des gesunden Menschenverstandes“
gegen alle Verrücktheiten seiner Zeit. Diese leichthändige
Vielgestaltigkeit zeigt sich besonders an jenem Thema, dem er die
meisten Betrachtungen und Einwürfe widmete in seinen rund 80 Büchern und
4000 Essays, der Weihnachtszeit.
Die Gefahren für das Hochfest waren damals, zwischen
1910 und 1935, schon ganz ähnlich gelagert wie heute. Dennoch ließ
Chesterton sich nicht beirren: Die wahre Weihnacht ist unbesiegbar.
In einem Aufsatz von 1933 über das Wesen des
englischen Weihnachtspuddings, der als eine bekanntlich sehr feste
Köstlichkeit genug Substanz besitze, um in einer substanzlosen Welt des
„Materialismus und Massenmechanismus“ ein Widerspruch zu sein, finden
sich klare Sätze gegen „die futuristische Mode unserer Zeit“, wie
sie auch den Advent befallen habe: Der Mensch sei mittlerweile daran
gewöhnt, „das Glück nicht im Heute, sondern im Morgen zu suchen. Während
es einen unaufhörlichen (…) Wirbel gibt anlässlich der herannahenden
Festlichkeiten von Weihnachten, herrscht weit weniger Wirbel als nötig,
wenn es darum geht, aus Weihnachten selbst ein Fest zu machen. Der
moderne Mensch hat das unbestimmte Gefühl, mit dem Fest sei auch gleich
das Ende des Festes erreicht. Durch moderne kommerzielle Gepflogenheiten
sind die Vorbereitungen so sehr in die Länge gezogen, wie das Erleben
des Festes kurz ausfällt.“
Die Unfähigkeit, alles zu seiner Zeit zu feiern oder
aber zu betrauern, ist nicht geschwunden. Wer widersteht heute der
Spekulatiusseligkeit, die schon im Oktober in den Supermärkten
verbreitet wird? Wer greift nicht zu, wenn bereits in der Woche vor
Heiligabend die sogenannten Weihnachtsartikel verbilligt werden? Und wer
hat sich das Wissen bewahrt, dass man sich erst nach dem 24. Dezember
„Frohe Weihnachten“ wünschen kann, dann aber mindestens bis Epiphanie?
Chesterton erinnert uns daran, dass einst „die Vorbereitung die Form einer strengen Adventszeit hatte, mit Fasten am Heiligen Abend.
Ging man aber zum Weihnachtsfest über, setzte es sich fort (…) in einer
ununterbrochenen Festzeit der Freude von wenigstens zwölf Tagen.“ Kein
Luxus also, ließe sich sagen, ohne vorbereitende Askese, keine Erlösung
ohne Buße.
Warum aber überbieten die Menschen sich noch immer
darin, die Zukunft möglichst phantastisch auszumalen, immer mit der
Politikerfloskel „nach vorne zu schauen“, statt die Vergangenheit zu
ehren, um aus ihr zu lernen und an ihr Halt zu gewinnen? Chesterton hat
eine Antwort parat. „Die Zukunft“, schreibt er in „Was unrecht ist an
der Welt“ (1910), sei nun einmal eine „leere Wand, auf die jeder seinen
Namen schreiben kann, so groß er will; die Vergangenheit finde ich schon mit unentzifferbarem Gekritzel bedeckt,
wie Plato, Jesaias, Shakespeare, Michelangelo, Napoleon. Die Zukunft
kann ich so enge werden lassen wie mein eigenes Selbst; die
Vergangenheit muss so weit und mannigfach bleiben wie die ganze
Menschheit.“
Chesterton, der reaktionäre Demokrat und liberale
Katholik, stimmt nicht ein in den billigen Singsang von der Gegenwart
als dem jeweiligen Gipfelpunkt der Zivilisation. Sein Blick auf die
Vergangenheit ist realistischer. „Es gab so viel flammenden Glauben“,
konstatiert er, „den wir nicht wahren, so viel strenges Heldentum, das
wir nicht nachahmen können (…). Die Zukunft ist eine Zuflucht vor dem grimmigen Wettbewerb unserer Vorväter.
(…) Diese ganze moderne Pose ist am Ende nichts anderes, als dass die
Menschen neue Ideale erfinden, weil sie sich an die alten nicht
heranwagen. Sie sehen mit Begeisterung in die Zukunft, weil sie Angst
haben, zurückzusehen.“
Ein Widerspruch gegen die geschichtsblinde Feier des
Zukünftigen, diesen Triumph des Ausgedachten über das Wirkliche und
damit der Vorstellung über die Vernunft, ist Weihnachten auch insofern,
als es sich auf ein einmaliges, ganz konkretes Geschehen in der
Vergangenheit bezieht. Die Feier dieses Ereignisses lässt sich nicht je
nach Konjunktur vorverlegen oder verschieben. Es bleibt mit stählernen
Seilen an den fixen Termin gebunden.
Weihnachten mitsamt seinen Bräuchen ist, so
Chesterton 1935, ein Muster für ein Ritual, und Rituale bedeuten,
„gewisse sinnlose Dinge zu tun, weil sie etwas bedeuten. Das Prinzip der
modernen Routine dagegen ist es, gewisse sinnvolle Dinge zu tun, (…)
sie aber so auszuführen, als ob sie bedeutungslos wären.“ Das moderne
Weihnachten ist demnach vom guten Ritual zur schlechten Routine geworden.
Durch den vermeintlich egalitären Verzicht auf
„bestimmte Jahreszahlen, Jahreszeiten und symbolische Handlungen“ habe
der Mensch sich freiwillig neu versklavt, sich „im alten griechischen
Sinne des Wortes (…) zum Idioten gemacht“, zum Menschen ohne
besondere Bedeutung, zum Mann ohne Eigenschaften. Allein das wahre
Weihnachten in seinem bedeutungsvollen Ritual kann laut Chesterton die
Selbstverzwergung verhindern: „Jeder Mensch, der Weihnachten in seinem
eigenen Zuhause hochhält, widersteht der tragischen Umformung seines
Hauses in einen Bienenstock.“
Wodurch vollbringt das wahre Weihnachtsfest diese
Leistung, abseits seines Charakters als Senkblei in die Vergangenheit
und individualisierendes Ritual? Weihnachten hat zunächst die Botschaft,
dass „etwas geschehen ist“. Diese schlichte Tatsache deutet
Chesterton 1925 als Veto gegen die damals wie heute grassierende, sich
zum dernier cri der Aufklärung aufputzende „evolutionäre Ethik“. Deren
Grundannahme, vertreten und verteidigt etwa von Neoatheisten und
Hirnforschern und Evolutionsbiologen und Utilitaristen, besagt, dass es
im Fluss der Zeiten keine festen Punkte gibt, sondern nur Abstufungen,
keine Ereignisse, nur Prozesse und ergo auch keine feste Moral, nur eine
flexible Ethik.
In Chestertons Worten: „Weil die Bestie nur langsam
Mensch wird, argumentieren sie, dass eine Bestie zu sein nur langsam
unmenschlich macht.“ Alles werde eine Frage des Graduellen, wenn es
keine absoluten Maßstäbe gibt. Die „dramatische und krisenhafte Seite“
von Weihnachten schütze vor diesem Trugbild. Die konkrete und
unwiderrufliche Menschwerdung Gottes habe schlagend bewiesen, dass
einmalige Ereignisse, Haltepunkte im ewigen Werden, dieses Werden
dauerhaft zu wandeln vermögen. Es ist eben nicht alles im Fluss, manches
stockt auch oder springt. „Etwas ist geschehen. Und lesen wir die
Geschichte richtig, ist seither vielleicht gar nichts mehr geschehen.“
Das antievolutionäre Ereignis zu Betlehem ist für
Christen in erster Linie Grund zur Freude. An der Freude solle man die
Christen, Weihnachtsmenschen allesamt, erkennen. Chesterton erklärt in
seinem theologischen Hauptwerk, dem „Unsterblichen Menschen“ (1925), „eine ganz unnatürliche Freude“ zum Erkennungszeichen der ersten Christen.
Diese nämlich, „eine bunt zusammengewürfelte
Gesellschaft von Barbaren und Sklaven und armen belanglosen Leuten“,
waren in ihrer Freude nicht zu erschüttern, obwohl sie zugleich
erklärten, „dass Gott tot wäre und dass sie selbst ihn hätten sterben
sehen.“ Etwas „im Ton der Verrückten“ ließ aufhorchen, diese
Leute meinten wortwörtlich, was sie sagten, „ein neues Meteorgestein
schien auf die Erde herabgefallen zu sein. Mit seltsamer Plötzlichkeit
(…) schienen sich in Gegenwart dieser Menschen die Proportionen aller
Dinge zu verschieben.“ Mit Weihnachten und mit Ostern war die Welt eine
andere geworden. Tod war nicht mehr Tod und die Freude darüber
unüberwindlich.
Zu Bethlehem im Stall – in einer Höhle, wie
Chesterton seit seiner Reise ins Heilige Land nicht müde wurde zu
betonen, – geschah tatsächlich Wunderbares, eine „Umwälzung der Welt
(…) Mit voller Berechtigung darf man behaupten, dass es von der Sekunde
an keine Sklaven mehr geben konnte. (…) Zukünftig konnte ein Mensch
nicht mehr bloßes Mittel zum Zweck sein, auf keinen Fall Mittel zu eines
anderen Menschen Zweck.“
Gott war schließlich herabgestiegen „wie ein Ausgestoßener“, hatte sich den Hirten in einer Höhle gezeigt, nicht an einer Akademie.
So entstand das Christentum als Religion der kleinen Dinge und der
kleinen Leute. Genau so musste es kommen, denn Gott ist der Mittelpunkt
aller Welt, „und ein Mittelpunkt ist unendlich klein.“
Papst Pius XI. verlieh Chesterton, diesem modernen
Kirchenvater, posthum den Titel Defensor fidei, Verteidiger des
Glaubens. Die kaum zu zählenden Weihnachtsbetrachtungen Chestertons
zeigen auf das Schönste, warum er diesen Titel verdient.
(erschien zuerst in der Tagespost vom 22.12.2011)
Quelle: www.Alexander-Kissler.de
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