Erschienen in Ausgabe: No. 35 (1/2009) | Letzte Änderung: 21.03.10 |
von Stefan Groß
Der
ehemalige Welt-Chefredakteur und derzeitige Herausgeber des Berliner
politischen Magazins Cicero
hat 2006 in der Deutschen
Verlags-Anstalt einen bemerkenswerten philosophischen Essay
geschrieben, in dem er einem Diskurs beitritt, der nicht nur in
Cicero
mit renommierten Autoren wie Papst Benedikt XVI., Jürgen
Habermas, Robert Spaemann, Samuel P. Huntington, Peter Sloterdijk,
Rüdiger Safranski, Gianni Vattimo und Richard Rorty geführt
wird, sondern auch innerhalb moderner Medizin und im Rechtsdenken auf
der Tagesordnung einer Vielzahl von Debatten steht. Wie sehr religiös
motivierte Argumente den medizinethischen Diskurs bei
Abtreibungsfragen, Sterbebegleitung, aktiver Sterbehilfe,
Stammzellforschung, verbrauchender Embryonenforschung,
Präimplantationsdiagnostik und somatischen Klonen derzeit
begleiten, offenbart in aller Deutlichkeit ein grundlegendes
religiös-konservatives Interesse, dem durch Medizin und Technik
heraufbeschworenem Dammbruch die Türen zu verschließen.
Weimer,
studierter Wirtschaftswissenschaftler, begibt sich mit seinem Credo
auf ein Terrain, das er souverän beherrscht, was nicht nur seine
tiefen Einblicke in die gegenwärtige Diskussion um den
Stellenwert des Religiösen in der Moderne oder Postmoderne
unterstreichen. Der aktuelle Diskurs um das Phänomen der
Religion zieht breite Kreise, affirmative, regressive, auch
aggressive, wie Dawkins und Onfray mit ihren A-Theologien belegen.
Ganz anders argumentiert Weimer, für den das neue Anbrechen des
Religiösen, des Neo-Religiösen, wie er es nennt, das
Zeichen einer Moderne ist, die nicht nur dem Säkularismus seine
angestammten Orte entreißt, sondern auch schon einen leisen
Siegeszug feiert, was nicht so sehr für das durchreflektierte
Europa mit seinem durch Kant und Nietzsche geprägten kritischen
Geist gelte, aber zumindest in einem Großteil der Hemisphäre,
insbesondere in der islamischen Welt und in einigen Schwellenländern,
volle Geltung hat. „Das 21. Jahrhundert wird ein Zeitalter der
Religion. Gott kehrt zurück, und zwar mit Macht – im doppelten
Sinne des Wortes. Nicht nur als philosophische Kategorie,
revitalisierte Tradition, theologische Überzeugung oder
spirituelle Kraft. Er kommt mitten hinein in den politischen Raum.
Dieses Traktat vertritt die These, dass sich der
Säkularisierungsprozeß umkehren wird. Wir gehen vom
postmodernen ins neoreligiöse Zeitalter“ (S. 7). Maßgeblich,
so Weimer, sei es der konservative Geist des Religiösen, der im
Zeitalter des anything goes eine Wiederkehr des Religiösen
geradezu motiviert. Sicherlich ist es von ihm übertrieben, zu
behaupten, daß das Wiedererstarken des Religiösen gerade
durch die römische Kurie, was Weimer ja glaubt, gleichwohl er
auch den anti-modernen Klerikalismus nicht vergißt zu erwähnen,
auf die nahe Schwelle seiner Ankunft getreten sei. Vielmehr ist es
doch der sich selbst in vielem überlebt habende Pluralismus, der
so viele Möglichkeiten der Selbstfindung zuläßt, daß
letztendlich kaum oder nur wenige dieser Möglichkeiten
realisiert werden, der zu einer wie auch immer gelagerten
Selbstbestimmung nötigt, die nun – zur Überraschung –
nicht im Sektenwesen, sondern im Zugehörigkeitsglauben an
die fünf großen Weltreligionen kulminiert. Das diese neue
religiöse Motivation aus dem Nihilismus des 20. Jahrhunderts
samt seiner a-theologischen – entweder kommunistischen oder
nationalsozialistischen – Machtapparate erwächst und
keineswegs, wie so oft hingestellt, das Resultat der Ereignisse des
11. September 2001 sei, dies unterstreicht auch Weimar und hat damit
nur allzu recht. Die Attentate sind weder auf einen platten
Materialismus rückführbar noch handelt es sich beim
religiösen Fanatismus um ein „Phänomen zurückgebliebener
Kulturen“. Nicht sozio-ökonomische Ursachen sind für das
Neuerstarken des Fundamentalismus verantwortlich, sondern eben tief
motivierte und zu oft auch falsch verstandene Religiosität. „Das
neue Zeitalter der Religio-Politics wird nicht von den Peripherien,
sondern von den Kraftzentren der Globalisierung beschleunigt. Damit
wird klar, warum die Religion auch ohne den islamischen Terror als
gesellschaftliche und politische Macht zurückkäme. Denn
selbst die säkularisiertesten Kulturen registrieren seit einigen
Jahren jenes Phänomen, das William James als ‚Wille zum
Glauben’ beschrieben hat. Damit ist ein meßbares Bedürfnis
nach moralischer Letztbegründung, nach ‚Wertorientierung’
gemeint“ (S. 20). Aus der Gottesferne wächst die Gottesnähe,
aus dem Relativen, Unbestimmten, der Wunsch nach absoluter
Unbedingtheit. Der Wunsch nach einer neuen Sinnhaftigkeit hat ja
nicht nur den Zusammenbruch der führenden Machtssysteme im
europäischen Osten mit veranlaßt, was auch die nur Zahlen
belegen, die Weimer in vielen Statistik-Tabellen zur
sozio-empirischen Untermauerung seiner Thesen im Buch plaziert. Das
Neuerstarken des Religiösen, der Wunsch, es in die Politik
tiefgreifender zu integrieren, hat sich bereits schon in den 80er
Jahren in Amerika abgezeichnet, einem Land, das trotz mehrerer
Invasionen im Irak und in Afghanistan, ein „Comeback der
Religionen“ feiert. Auch in Europa befindet sich nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs die Religion im Vormarsch, was sich auch darin
zeige, daß 80 Prozent religionsoffener Europäer nur 20
Prozent Atheisten gegenüberstehen.
Ein Schlagwort hat in
den letzten Jahren immer wieder Aufsehen erregt, der vielzitierte
Clash of Zivilisation von Samuel P. Huntington, der „Kampf der
Kulturen“. Weimer sieht aber darin nicht mehr als eine lasche
Befriedungsstrategie ohne impulsive Wirkkraft, einen „Fetisch der
Selbstberuhigung“, eine „rhetorische Anästhesie“, die
er metaphorisch in das Bild kleidet, daß das Kind, das in die
Schlangengrube gefallen ist, nun vorschlägt: „Wollen wir nicht
lieber reden als beißen?“ Kurzum: Dem Dialog der Kulturen muß
eine Mobilisierung der eigenen Kultur zugrunde liegen, die die
nationale Identität betont, gleichsam heraufbeschwört. Es
ist aber nicht nur der Kampf der Kulturen, der attackiert wird, auch
der sich im Pluralismus aussprechende Relativismus sei eine rein
negative Kraft.
Mit Safranski und
Spaemann unterstreicht Weimer die These, daß die Rede vom
Gerücht Gottes nicht den Gläubigen in die Pflicht nimmt,
die Spuren Gottes zu beweisen, sondern all jene, die diesen Gedanken
radikal negieren.
Daß das Religiöse
weiter an Durchschlagskraft gewinnt, liegt, wie Weimer betont, in der
Ambivalenz von Wissen und Glauben, am neuen Zweifel, der sich in den
Naturwissenschaften selbst ausspreche, der im Umkehrschluß den
Glauben impliziere. „Gerade die rationalisierte Moderne erzwingt
ein ständig wachsendes Maß an Glauben“ (S. 42). Je mehr
das Wissen ungeahnte Räume erobert, desto mehr wächst der
wissenschaftliche Glaube, was letztendlich zur Folge hat, daß
das Prinzip der Verifikation durch das Prinzip der Falsifikation
ersetzt werde. „Wenn aber am Anfang und am Ende unseres Wissens
Mutmaßungen, Modelle, Hypothesen stehen, die der Prüfung
auszusetzen sind, dann ist die Moderne zum Credo-Prinzip
zurückgekehrt“ (S. 43). Das Religiöse – dies ist keine
neue These, sondern eine der Dialektik der Aufklärung immanente
– kehre letztendlich durch die Hintertür wieder zurück.
So sehr hier mit Pathos das Neuankommen des Religiösen vertreten
wird, Weimers Essay wird hier utopisch, denn es gibt nicht viele
Naturwissenschaftler vom Schlage eines Albert Einstein.
Uneingeschränkt kann man dagegen der These Weimers zustimmen,
daß die Mediengesellschaft eine Glaubensgemeinschaft ist, wobei
hierbei allerdings der Begriff des Glaubens fragwürdig ist. Daß
Glaube nicht mehr sei, als ein der Interaktion zugrunde liegendes
Prinzip, mag nicht zu überzeugen. Sicherlich trägt die
Medialisierung als Missionswerkzeug dazu bei, daß die Thematik
von Religion und Religiosität die Fernsehzimmer erobert, aber
die Medialisierung als ein „gewaltiges Verstärkeorgan der
religiösen Kommunikation“ hinzustellen, bleibt fragwürdig.
Die Ausblicke zum
Combeback der Religion, vom Dialog der Religionen bis hin zum
„philosophischen Zusammenhang“, kulminieren in Weimers These:
„Warum die Rückkehr der Religion gut ist“, die mittels eines
kulturellen, politischen und ethischen Arguments plausibel gemacht
werden soll. Wider den Befürchtungen, die nicht nur Ralf
Dahrendorf und Jan Philipp Reemtsma formulieren, die in der
beschworenen Ankunft des Religiösen eine Bedrohung der Freiheit
sehen, sondern auch kritisch gegen die Philosophen Richard Rorty und
Gianni Vattimo gewendet, die das Ende der Aufklärung befürchten,
ist Weimer überzeugt, daß „die Wiederkehr der Religion
ähnlich auf unsere Gesellschaft wirkt wie die überraschende
Rückkehr eines verschollenen Vaters für die Familie“, sie
sei letztendlich ein großer Gewinn (S. 51). Das kulturelle
Argument, das hier zur Plausibilisierung von Weimer herangezogen
wird, besser ist sicherlich der kulturelle Effekt, ist eher
empirischer Natur, er schließt aus der Summe individueller
Prägungen darauf, daß die Ankunft des Religiösen
letztendlich die Verflachung der Kultur auflöse, sie zumindest
bändige. Mehr als die These, daß die Kultur den
„spirituellen Kern“ der Gesellschaft ausmache, ihn befördere,
wird hier argumentativ nicht geleistet. Daß Kulturen dann in
ihrer Blüte stehen, wenn sie von der machtvollen Kraft der
Religion durchdrungen sind, ist uralt und klingt in einem Essay, der
für die Ankunft des Religiösen wirbt, geradezu antimodern.
Hier hätte man sich tiefergehende Argumente gewünscht, als
nur den Ausblick, daß sich in Bayern besser Urlaub machen läßt
als in Sachsen-Anhalt, wobei hier ganz übersehen wird, daß
dieser mitteldeutsche Landstrich die Wiege des Protestantismus und
damit der aus dem Geist des Christentums erneuerten Religion ist. Von
größerer Überzeugungskraft ist da schon das zweite,
das politische Argument, das nicht nur von Carl Schmitts Gedanken
ausgeht, daß die Politik nur säkularisierte Religion sei,
sondern gerade auch die Bedeutung des Religiösen für das
Politische hervorhebt. Nicht das Ökonomische regiere und
funktionalisiere die Welt, wobei an diese Aussage ein großes
Fragezeichen anzufügen ist, sondern ein religiös tradiertes
Wertebewußtsein sei letztendlich der ausschlaggebende Funke,
der das Pendel wieder zurückschlagen läßt, der für
die neue Vitalität der großen Gemeinschaft steht, die sich
eben auch ihrer religiösen Werte versichert, sich diese wieder
in Erinnerung holt. Der Laizismus wird auf Dauer nicht durchzuhalten
sein.
Auch im Blick auf die
„geordnete Dynamik“ religiöser Gesellschaften sieht Weimer
die Chance der Religion genau dann, wenn sie nicht in der
„Besitzstandswahrung“ verharre, sondern sich als Gaspedal
betätigt, dazu motiviert, aller Kassandra-Rufe und
demographischer Niedergangsprognosen zum Trotz, dem extremen
Kulturpessimismus, insbesondere in Deutschland, entgegenzusteuern.
Ein Land, dem die religiöse Sinnperspektive abhanden gekommen
ist, hat auch kein gesteigertes Interesse an seinem zukünftigen
Weiterbestehen – was sich letztendlich, so Weimer, darin zeige, daß
die Geburtenzahlen stetig zurückgehen. „Max Weber hat einst im
Protestantismus die Ur-Kraft für den modernen Kapitalismus
erkannt. Vielleicht liegt heute eine Ursache für die
Lahmhaftigkeit des erodierenden Europas gerade in seinem Nihilismus.
Eine Gesellschaft, die an nichts glaubt, kann auch nicht an ihre
Zukunft glauben, geschweige denn an sich selber“ (S. 61).
Aber nicht nur der
Beschleunigungseffekt, sondern auch der Entschleunigungseffekt,
wie der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa eindrücklich gezeigt hat,
spielen – gerade im Zeitalter der Globalisierung – für das
religiöse Bewußtsein eine große Rolle. Die
Entschleunigung erweist sich als „Abwehrreflex auf die
Beschleunigung der Globalisierung“, was für Weimer zur Folge
hat, daß das entschleunigte religiöse Bewußtsein
seine Kraftressourcen aus der wiedergefundenen kulturellen
Identität beziehen kann, daß es sich aufgrund dieser der
modernen Raserei verweigert. „Man darf also davon ausgehen, dass,
je mehr die Globalisierung voranschreitet, das Bedürfnis steigt,
der damit einhergehenden Entfremdung einen Widerpart in Form einer
geistigen Heimat zu bieten“ (S. 62) – was sich nicht dem Geist
der Linken, sondern einem Wertekonservatismus verdanke, der dem
globalisierten Kapitalismus entgegensteuert. „Die Bewahrung der
Schöpfung ist letztendlich kein emanzipatorisches linkes,
sondern ein national konservatives Anliegen. In einer Sphäre
beschleunigter Globalisierung, in einer Welt des
Veränderungsfanatismus sind die Konservativen die
eigentlichen Revolutionäre unserer Zeit – vor allem die
religiös bewußten Konservativen.“
Daß das Religiöse
auch die außer Fugen geratene Demokratie korrigieren könnte,
daran glaubt Weimer, gerade dann, wenn die postsäkularisierte
Gesellschaft zwischen Naturalismus und Religion schwanke, wie
Jürgen Habermas formulierte. Hierbei beruft sich Weimer auf
Denker wie Paul Kirchhof und den Staatsrechtler Ernst-Wolfgang
Böckenförde, die davon ausgehen, daß sich eine
demokratische Gesellschaft nicht selbst begründen kann, sondern
es dazu Wertgrundlagen bedarf. Voraussetzungen also, die sie selbst
weder geschaffen noch gewährleisten könne, was aber der
Religion letztendlich eine „Fundamentalfunktion“ für den
Staat zukommen läßt, so daß sie schließlich
der geschwächten Demokratie zur Hilfe eilen kann. Dieses
verzahnte Ineinandergreifen von Religion und Politik will Weimer
dabei nicht auf Deutschland reduziert wissen, sondern stellt es als
Leitbild einem neuen Europa voran, das seine integrativen Kräfte
nicht nur aus ökonomisch-praktischer Vernunft in Stellung
bringen sollte, sondern auch und insbesondere vor dem Hintergrund der
gemeinsam prägenden abendländischen Geist- und
Wertetradition. Der Kraft des Religiösen, die den marxistischen
Dogmatismus aufgebrochen hat, obliegt es auch, die europäische
Kultur als Bollwerk gegen den fanatischen Fundamentalismus
islamischen Terrors zusammenzuschmieden und in Stellung zu
bringen.
Daß das Ethische
und Normative zum Wesen der Religion gehöre, ist eine
Selbstverständlichkeit, die sich aus allen Weltreligionen
herausfiltern läßt. Auf sie zielt das dritte, das ethische
Argument, das das Scheitern der individualistischen Religionen
von New Age oder Esoterik darin begründet sieht, daß alle
diese Aussteiger-Religionen einen fragmentarischen philosophischen
Hintergrund haben und ihnen die Tragkraft sowohl des ethisch
Allgemeinen als auch die gesellschaftspolitische Bindungskraft fehlt.
Weimers Glaubensbekenntnis in die integrative und innovative
Kraft, die der Religion, insbesondere dem Christentum eignet,
beschwört gerade jene Werte des Neuen Testaments, wie die
Nächstenliebe, das Mitleid und die Vergebung, die einzig dazu in
der Lage sind, einer totalen Laissez-Faire-Haltung, einer Vernutzung
des Individuums im Zeitalter des Machbarkeitswahns, der ausgeprägten
Sinnenleere entgegenzusteuern. Auf die reflektierende Kraft der
Religion gilt es sich zu besinnen. An der Religion wird man künftig
nicht vorbeikommen, denn sie ist die sich zur Wehr setzende Bastion
gegen einen zunehmend bedrohlicher werdenden Sinn- und Wertezerfall.
Kurzum: Weimers Buch
beeindruckt. Es nimmt den Leser ein Stück weit mit in die
Religionsgeschichte, es eröffnet einen kritischen Blick in die
Moderne, verstärkt das leise Vertrauen in die gesunde Kraft des
Religiösen. Nicht zuletzt ist es ein sehr gut geschriebenes
kleines Buch, das in aller Kürze die wesentlichen Probleme der
Religion, ihre Grenzen, aber auch das ihr zugrunde liegende Potential
nachzeichnet.
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