Erschienen in Ausgabe: No. 33 (3/2008) | Letzte Änderung: 03.02.09 |
Der Wahrheitsanspruch des Christentums von außen gesehen
von Sikandar Siddiqui
In
der gesellschaftswissenschaftlichen Fachzeitschrift Die
neue Ordnung ist unlängst
ein lesenswerter Artikel des Bonner Publizisten Dr.
Andreas Püttmann
erschienen, in dem diagnostiziert wird, dass der Wahrheitsanspruch
des Christentums heute von vielen Menschen als anstößig
empfunden wird.i
Der genannte Artikel nimmt eine durch viele interessante Fakten
illustrierte Standortbestimmung des Christentums in einer
pluralistischen Gesellschaft vor und reflektiert diese kenntnisreich
vor dem Hintergrund eines von vielen politischen und religiösen
Konflikten gekennzeichneten Weltgeschehens. Sein Inhalt zeugt von der
profunden Bibelkenntnis des Autors ebenso wie von dessen
umfangreichem Tatsachenwissen über aktuelle
gesellschaftliche Stimmungslagen und Trends. Um so erstaunlicher ist
daher der Umstand, dass in dem besagten Text kein nennenswerter
Versuch unternommen wird, zu ergründen, warum denn manche
Menschen den Wahrheitsanspruch des Christentums (möglicherweise)
als anstößig empfinden.
Diesem Mangel soll im
Folgenden abgeholfen werden, indem der Wahrheitsanspruch des
Christentums bewußt vom - hypothetischen - Standpunkt eines
„Ungläubigen“ aus auf seine Stichhaltigkeit untersucht wird.
Dabei wird absichtlich die Gefahr in Kauf genommen, dass dieser Text
einige seiner christlichen Leserinnen und Leser verärgern
oder irritieren könnte. Möglicherweise gibt es aber auch
Christinnen und Christen, die ein ehrliches Interesse an der Frage
umtreibt, weshalb Glaubensinhalte, deren Wahrheit für sie
unumstößlich ist, von anderen Menschen als fragwürdig
empfunden werden. Ihnen kann der vorliegende Text möglicherweise
zu einem verbesserten Verständnis der Einwände verhelfen,
die manche ihrer Mitmenschen gegen den Wahrheitsanspruch des
Christentums erheben.
Es
liegt auf der Hand, dass an dieser Stelle auch nicht annähernd
alle Argumente, die in zurückliegenden Kontroversen über
den Wahrheitsanspruch des Christentums (oder auch anderer Religionen)
auf der einen oder anderen Seite ins Feld geführt werden sind,
ausreichend gewürdigt werden können. Daher beschränkt
sich dieser Text – in bewußt selektiver Weise – auf
Überlegungen, die aus der wissenschaftstheoretischen
Position des sog. Kritischen Rationalismus – und hier insbesondere
einem einschlägigen Werk Hans
Albertsii
ableitbar sind. Eine gewisse Einseitigkeit wird hier also bewußt
in Kauf genommen. Wenn der vorliegende Text dennoch Menschen zum
Mitdenken anregt, hat er (aus Sicht des Autors) seinen Zweck trotz
dieser Einschränkung erfüllt.
Ein erster möglicher Stolperstein für den
Wahrheitsanspruch religiöser Bekenntnisse ganz allgemein
wird durch die Art und Weise konstituiert, wie das Eigenschaftswort
„wahr“ in der Alltagssprache verwendet wird. Im
alltagssprachlichen Kontext nämlich gilt eine Auffassung
dann als wahr, wenn sie in sich schlüssig ist und mit allen für
sie relevanten Erfahrungstatbeständen im Einklang steht.
Mit dieser elementaren
Setzung soll nicht behauptet werden, dass Logik und Erfahrung als
mögliche Quellen menschlicher Erkenntnis über jeden
prinzipiell denkbaren Zweifel erhaben seien. Schließlich
besitzen schon die Begriffe, Symbole und Zeichenketten, mit denen
Menschen konkrete oder abstrakte, erfahrene oder gedachte Objekte (im
weitesten Sinne) zu bezeichnen pflegen, vermutlich eher den Charakter
informeller, durch Wiederholung und Bestätigung erlernter
Konventionen, als dass für sie im strengen Sinne objektive
Geltung beansprucht werden könnte. Gleiches dürfte auch für
die grammatikalischen, formal-logischen und mathematischen Regelwerke
gelten, nach denen sie zu Aussagen und diese wiederum zu komplexeren
Hypothesen, Theorien und Modellen verknüpft werden. In Bezug auf
den Wahrheitsgehalt von Erfahrungstatbeständen muss auf die
Möglichkeit individueller und kollektiver Sinnestäuschungen
ebenso hingewiesen werden wie darauf, dass die Prozesse des Erinnerns
und Vergessens – ebenso wie die Berichterstattung über
zurückliegende Ereignisse – wahrscheinlich oft selektiv
ablaufen und nicht frei von subjektiven Deutungen sind.
Andererseits
aber liegt die Vermutung nahe, dass die symbolische Codierung
wahrgenommener oder gedachter Objekte, der Gebrauch logischer
Schlußregeln und der Rückgriff auf eigene oder
tradierte Erfahrungen zu den Strategien gehören, die in der
Jahrtausende alten Entwicklungsgeschichte der Spezies Mensch einen
erheblichen Beitrag zu deren Überleben geleistet habeniii.
Trotz aller berechtigten Skepsis an einem allzu „naiven Realismus“
erscheint es daher zumindest voreilig, die Möglichkeit einer
Korrespondenz zwischen Erfahrenem und Gedachtem einerseits und dem
jeweils betreffenden Wirklichkeitsausschnitt andererseits
grundsätzlich auszuschließen. Ein universeller
Skeptizismus, der Logik und Erfahrung als mögliche Quellen
menschlicher Erkenntnis nicht nur einzellfallbezogen, sondern
ganz allgemein in Zweifel zieht, ist zwar letztlich nicht
widerlegbar; scheinbar kommt jedoch kein Versuch, ihn argumentativ zu
rechtfertigen, ohne eine Bezugnahme auf (ausgewählte)
Erfahrungstatbestände und ohne die Verwendung logischer
Schlussfolgerungen aus, deren grundsätzliche Validität doch
gerade in Frage gestellt werden sollte.
Deswegen wird an dieser
Stelle – in Kenntnis der geschilderten Einwände - aus
pragmatischen Gründen an der obigen Definition des
Wahrheitsbegriffs festgehalten. Der so beschriebene
alltagssprachliche Wahrheitsbegriff legt dann drei Schlussfolgerungen
nahe:
Erstens
ist es möglich, konkrete Kriterien für die Unterscheidung
zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu benennen, ohne dass hierfür
die Existenz eines oder mehrerer übernatürlicher Wesen
vorausgesetzt werden müsste. Die Behauptung, ohne den
Gottesglauben müsse alles Streben nach Erkenntnis letztlich in
einen universellen Relativismus münden, für den die
Kategorien „wahr“ und „falsch“ leere Worthülsen sind,
muss vor diesem Hintergrund als voreilig zurückgewiesen werden.
Zweitens
aber kann über
Wahrheit bestimmter Auffassungen oft nur ein vorläufiges Urteil
gefällt werden. So ist es bei Aussagensystemen, die komplexe
logische oder mathematische Ableitungen enthalten, durchaus möglich,
dass sie unzulässige Verallgemeinerungen oder Fehlschlüsse
enthalten, die nur bislang noch nicht entdeckt worden sind.
Insbesondere aber kann oft nicht ausgeschlossen werden, dass
Erfahrungswerte, durch die bestimmte, bislang für wahr
gehaltene Auffassungen widerlegt oder in Frage gestellt werden, erst
in der Zukunft gewonnen werdeniv.
Drittens
schließlich kann über die Wahrheit oder Unwahrheit von
Auffassungen, die einer vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters
unabhängigen Überprüfung auf logische
Widerspruchsfreiheit und empirische Plausibilität überhaupt
nicht zugänglich sind, nicht einmal vorläufig entschieden
werden.
Zu den konstituierenden Merkmalen vieler Religionen –
einschließlich des Christentums - gehören aber gerade
bestimmte Fundamentalaussagen, deren Inhalt sich einer solchen
intersubjektiven Überprüfbarkeit entziehen. Damit erscheint
ein für derartige Aussagen erhobener universeller
Wahrheitsanspruch - aus der Außenperspektive betrachtet - weder
begründet noch begründbar.
Die vorangegangene Überlegung wird mitunter mit der
Entgegnung zurückgewiesen, ohne den Glauben an einen
gütigen, allmächtigen Schöpfergott entbehre jeder
Versuch einer rationalen Erschließung der Wirklichkeit
letztlich einer tragfähigen Grundlage.
Diese
Behauptung enthält einen wichtigen Hinweis auf die Grenzen des
menschlichen Erkenntnisvermögens: In der Tat kann nämlich
von jedem noch so plausiblen Argument, das zur Begründung
bestimmter Auffassungen getroffen wird, gefordert werden, es müsse
seinerseits durch eine andere, noch grundlegendere Begründung
untermauert werden. Eine unendliche Fortführung einer
derartigen Begründungskette ist aber offensichtlich unmöglich.v
Doch
das Problem, dass es mit den Mitteln der Logik und der Erfahrung
allein nicht möglich ist, zu einer letztgültigen Begründung
vorzudringen, wird (entgegen dem ersten Anschein) auch mit den
Verweis auf einen gütigen, allmächtigen Schöpfer
als letzten Grund alles Seienden nicht wirklich gelöst.
Vielmehr wird auf diesem Wege die vergebliche Suche nach einem
letzten Grund auf diesem Wege lediglich an einer bestimmten Stelle
dogmatisch abgebrochen, wodurch die faktische Unlösbarkeit
dieses Problems zwar vielleicht verschleiert, nicht aber
aufgehoben werden kann.vi
Dabei ist durchaus
zuzugestehen, dass es nicht wenige Menschen gibt, denen nicht nur das
Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte, sondern das Leben
insgesamt ohne den Glauben an eine übernatürliche, gute
Macht letztlich halt- und sinnlos vorkäme. Aber aus dem
bloßen Wunsch, dass dieser Glaube mehr sein möge als eine
– möglicherweise durch religiöse Indoktrination,
individuelle oder kollektive Autosuggestion genährte - Illusion,
kann keineswegs schon auf die Richtigkeit dieser Überzeugung
geschlossen werden.
Aus
der soeben festgestellten Unmöglichkeit einer letzen Begründung
folgt vielmehr lediglich, dass kein Versuch, zu plausiblen
Auffassungen über bestimmte Teilbereiche der Wirklichkeit zu
gelangen, ohne die Setzung bestimmter Grundannahmen auskommt, deren
Richtigkeit letztlich nicht garantiert werden kann. Soll der Versuch
einer rationalen Erschließung von Teilen der Wirklichkeit in
unvoreingenommener Weise erfolgen, so dürfen diese Grundannahmen
– anders als es mit religiösen Fundamentalaussagen mitunter
geschieht - nicht in den Rang unverrückbarer Dogmen erhoben
werden. Stattdessen sind sie lediglich als behelfsmäßige
Prämissen anzusehen, deren Wahrheitsgehalt beurteilt werden
kann, indem sie und die aus ihnen abgeleiteten Schlußfolgerungen
auf logische Widerspruchsfreiheit und die Übereinstimmung mit
den für sie relevanten Erfahrungstatbeständen untersucht
werden. Sollte sich dabei herausstellen, dass diese Prämissen
und Schlußfolgerungen einer derartigen Prüfung nicht
standhalten, so kann das zum Anlaß genommen werden, mindestens
eine unter ihnen zu revidierenvii.
Menschen können
folglich bei dem Versuch, eine valide Erklärung bestimmter
Zustände oder Vorgänge zu erhalten, ihren Überlegungen
sehr unterschiedliche Prämissen zugrunde legen und, darauf
aufbauend, sehr verschiedene Theorien entwickeln, die zwar alle
logisch konsistent und empirisch plausibel sind, sich
möglicherweise aber untereinander widersprechen oder gar
wechselseitig ausschließen.
Diese
Feststellung wirkt zunächst vielleicht unbefriedigend, weil sie
abermals vor allem die Grenzen der menschlichen Vernunft
verdeutlicht. Dieser Eindruck relativiert sich jedoch, wenn die
Alternative in Betracht gezogen wird: Immer dann nämlich, wenn
es nur eine einzige Theorie gibt, die als allein mögliche
Erklärung für etwas akzeptiert wird, besteht die Gefahr,
dass diese eine Theorie die Wahrnehmung der beteiligten Personen so
stark prägt, dass diese alle ihr entgegenstehenden
Erfahrungstatbestände entweder zu ignorieren oder im Sinne
dieser Theorie umzuinterpretieren geneigt sind.viii
Befinden sich dagegen mehrere untereinander rivalisierende Theorien
und ihre jeweiligen Anhänger im Wettstreit um die möglichst
plausible Erklärung eines Sachverhalts, steigt die
Wahrscheinlichkeit, dass einseitig theoriegeleitete Wahrnehmungen und
Interpretationen als solche erkannt und korrigiert werden.
Dies alles legt den
Schluß nahe, dass weder die Notwendigkeit, Kriterien für
die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Auffassungen zu
benennen, noch der Wunsch, die menschliche Suche nach Wahrheit und
Sinn möge in einer letzten, nicht mehr zu hinterfragenden
Instanz ihren sicheren Grund haben, als tragfähige Argumente für
die tatsächliche Existenz eines gütigen, allmächtigen
Schöpfers angesehen werden können.
Ein
anderer, ebenfalls sehr interessanter Versuch, die Notwendigkeit des
Gottesglaubens für eine vernunftgeleitete Erschließung der
Wirklichkeit nachzuweisen, wird von dem Münchener
Philosophen Robert Spaemannix
unternommen. Der entsprechende Gedankengang lässt sich mit
Hilfe der folgenden vier Kernaussagen zusammenfassen:
1. Jeder Zustand oder
Vorgang, der in der Gegenwart vorliegt oder sich ereignet, ist in
der Zukunft – und bis in alle Ewigkeit – unverrückbar und
unbezweifelbar Teil der (historischen) Wirklichkeit.
2. Die Wirklichkeit
vergangener Zustände oder Vorgänge bleibt durch die
Erinnerung an sie existent.
3. Wenn irgendwann einmal
die Erinnerung an bestimmte vergangene Zustände oder Vorgänge
unwiederbringlich verloren geht, oder gar die Menschheit als Ganzes
eines Tages nicht mehr existieren sollte, ändert sich an der
objektiven Wirklichkeit dieser vergangenen Dinge dennoch nichts.
4. Also muss ein
absolutes Bewußtsein existieren, in dem alles, was geschieht,
für immer aufgehoben ist.
Diese
Aneinanderreihung von Überlegungen wirkt bei oberflächlicher
Betrachtung überzeugend. Tatsächlich aber setzt sie
die unbegründete Annahme voraus, dass es keine objektive
Wirklichkeit gibt, die unabhängig davon existiert, ob und wie
sie (durch den Menschen oder sonst irgendjemanden) wahrgenommen oder
anderweitig erkannt wird. Sobald die Möglichkeit zugelassen
wird, dass eine Sache existieren oder existiert haben kann, ohne im
Bewußtsein eines menschlichen oder anderen, womöglich
„höheren“ Wesens präsent (gewesen) zu sein, wird der
oben genannte „Beweis“ hinfällig oder zumindest
zweifelhaft.x
In den bis hierhin
angestellten Überlegungen ist ein bedeutender Einwand
unberücksichtigt geblieben, dem in der Debatte darüber,
inwieweit der Gottesglaube vernünftig sein kann, oft ein
besonderes Gewicht beigemessen wird. Ein Wahrheitsbegriff, der sich
ausschließlich an den Kriterien der logischen Konsistenz und
empirischen Plausibilität orientiere, sei – so wird
argumentiert - allenfalls für die Lösung mathematischer
oder naturwissenschaftlich-technischer Fragestellungen und die
Bewältigung vergleichsweise trivialer Alltagsprobleme
ausreichend. Sobald aber die Menschen selbst als allein oder
gemeinsam handelnde, hoffende oder sich ängstigende,
existenziellen Sinn und ethische Orientierung suchende Wesen es
sind, über die Erkenntnisse gewonnen werden sollen, erweise
sich der alltagssprachliche Wahrheitsbegriff mit seiner inhärenten
Trennung zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt als
defizitär.
Um
zu einem Verständnis dieses Teils der Wirklichkeit zu gelangen,
so heißt es, müsse die jeweilige Person die Position des
distanzierten Zuschauers aufgeben und sich als sich als
teilnehmender Beobachter den inneren Erfahrungen ausliefern, welche
die betreffende Situation oder Entwicklung in ihm auslöst. Wenn
diese Feststellung aber schon auf relativ elementare
(zwischen)menschliche Zustände und Vorgänge zutreffe,
so wird weiter argumentiert, wie viel mehr gelte sie für die
Beziehung, in welche der glaubende Mensch zu Gott treten könne,
indem er sich diesem gütigen, allmächtigen letzten Grund,
Sinn und Ziel alles Seienden vertrauensvoll ausliefere und just
dadurch einer tieferen Wahrheit teilhaftig werde, als sie eine
kritische Prüfung auf logische Konsistenz und empirische
Plausibilität je ergeben könne.xi
Seine augenscheinliche
Plausibilität erhält dieses Argument dadurch, dass auf
diesem Wege jedem Einwand, den jemand gegen die Geltung bestimmter
religiöser Fundamentalaussagen erhebt, mit der Behauptung
begegnet werden kann, die betreffende Person habe sich in
Wirklichkeit nur (noch) nicht vorbehaltlos genug dem zu
Erkennenden ausgeliefert und verfüge folglich gar nicht über
die Voraussetzungen dafür, hierzu ein qualifiziertes Urteil
abzugeben.
Doch
die so vollzogene argumentative Abschottung religiöser
Glaubensinhalte gegen Kritik von „außen“ kann allenfalls im
Binnenverhältnis der Gläubigen untereinander Einwände
und Zweifel wirksam zerstreuenxii.
Sie stößt immer dann an ihre Grenzen, wenn auch
Andersdenkende von der Richtigkeit dieser Glaubensinhalte überzeugt
werden sollen, ohne dass auf Zwang, bloße Suggestion oder gar
mehr oder weniger subtile Formen der Gehirnwäsche
zurückgegriffen werden muss. Keine Auffassung, zu der jemand im
Wege des inneren Erlebens gelangt ist und die nicht durch logische
Folgerungen und allgemein zugängliche Erfahrungstatbestände
untermauert werden kann, ist nämlich dagegen gefeit, von
Menschen mit einem anderen biographischen Hintergrund unter Berufung
auf ihre eigenen, möglicherweise gegenteiligen inneren
Erfahrungen angezweifelt oder verworfen zu werden. Dies gilt auch und
oft gerade dann, wenn diese anderen Menschen ebenfalls als
teilnehmende Beobachter in – äußerlich betrachtet -
gleiche oder vergleichbare Situationen oder Vorgänge involviert
(gewesen) sind.
Da es bei derartigen
Auffassungen unmöglich ist, eine vom Standpunkt des jeweiligen
Betrachters unabhängige Grundlage für die Beurteilung ihres
Wahrheitsgehalts zu schaffen, kann über ihre Richtigkeit
nicht einmal ein vorläufiges Urteil gefällt werden. Diese
wichtige Feststellung wird verschleiert, wenn solchen Auffassungen
dennoch in dogmatischer Weise das Wahrheitsprädikat verliehen
wird. Im Interesse der begrifflichen Klarheit dürfte es daher
zweckmäßiger sein, sie nicht als Wahrheit(en),
sondern als subjektive Überzeugungen zu bezeichnen. Das
gilt auch dann, wenn es sich bei den betreffenden Inhalten um
Fundamentalaussagen einer bestimmten Religion handelt.
Die
vorstehenden Argumente legen den Schluss nahe, dass, aus der
Außenperspektive betrachtet, ein absoluter
Wahrheitsanspruch des Christentums - wie auch vergleichbare Ansprüche
anderer Religionen – angesichts der eng gesteckten Grenzen des
menschlichen Erkenntnisvermögens letztlich unbegründet und
unbegründbar sind. Sie sollen und können jedoch nicht als
Rechtfertigung für einen „Fundamentalismus der Aufklärung“(Timothy Garton Ash)
dienen, der jede Form religiösen Glaubens als naiv oder
intellektuell rückständig abtut. Auch für die
Nicht-Existenz Gottes (oder anderer übernatürlicher
Entitäten) gibt es schließlich keine letztgültigen
Beweise. Vielmehr münden die hier angestellten Überlegungen
in ein Plädoyer dafür, im Umgang mit den Anhängern
anderer Religionen und Weltanschauungen als der jeweils eigenen
Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Dialogbereitschaft walten zu
lassen.
Dies impliziert
keinesfalls einen Verzicht auf jegliche Kritik an den Auffassungen
anderer. Im Interesse der intellektuellen Redlichkeit sollte diese
Kritik jedoch eine Form annehmen, die ihren jeweiligen Adressaten zum
Mitdenken ermutigt und nicht zuletzt auch von dem Wissen um die
jeweils eigene Irrtumsfähigkeit geprägt ist. Günstigenfalls
kann so ein kleiner Beitrag dazu geleistet werden, das hohe
Konfliktpotenzial, welches die Absolutheitsansprüche
untereinender rivalisierender Religionen oder Weltanschauungen in
sich bergen, zumindest punktuell einzudämmen.
i
Anstößiger
Wahrheitsanspruch. Zehn Thesen zum Standort des Christentums.
S. 31-42 in: Die neue Ordnung, 62 (1), Bonn 2008;
http://web.tuomi-media.de/dno2/Dateien/NO108.pdf
ii:
Albert, H.,:
Traktat über die
kritische Vernunft, 5.
Auflage, Tübingen 1991.
iii
So etwa argumentiert auch Michael Schmitt Salomon, in: Was ist
Wahrheit? Das Wahrheitskonzept der Aufklärung im
weltanschaulichen Widerstreit; in: Aufklärung
und Kritik, Nr. 2/2003.
iv
Eine Ausnahme von dieser Regel sind formal-logische oder
mathematische Tautologien; durch welche vorgegebene Inhalte
lediglich kombiniert oder transformiert, nicht aber um zusätzliche
Informationen angereichert werden. (Jedenfalls dürfte es den
meisten erwachsenen Menschen schwer fallen, sich eine Welt
vorzustellen, in der z.B. 2+2 = 5 sind oder ein Kreter, der
behauptet, dass alle Kreter immer lügen, die Wahrheit sagt).
v
Albert,
a,a.O., S. 15
vi
Albert,
a.a.O., S. 16
vii
Albert,
a.a.O., S. 90
viii
Albert,
a.a.O., S. 88
ix
in: Der Gottesbeweis;
in: DIE WELT, 26. März 2005
x
vgl. hierzu ausführlicher G.
Keuschnig, Um
Gotteswillen; in
Glanz@Elend - Magazin für Literatur und Zeitkritik;
http://www.glanzundelend.de/glanzneu/gottesbeweis.htm
xi
Dies in etwa dürfte beispielsweise der protestantische Theologe
Paul Tillich
gemeint haben, als er schrieb, alles Reden über göttliche
Dinge sei sinnlos, wenn es nicht im Zustand letzten Ergriffenseins
geschehe; vgl. Paul Tillich,
Wesen und Wandel des
Glaubens,
Frankfurt/Berlin 1961, S. 20
xii
Albert,
a.a.O., S. 128
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