Erschienen in Ausgabe: No. 33 (3/2008) | Letzte Änderung: 03.02.09 |
von Arslan Topakkaya
Bergson
nennt Kant den größten Gegner der Metaphysik. Kant habe
die Möglichkeit der Metaphysik geleugnet und sie für
eine leere Spekulation und eine unsinnige Beschäftigung
gehalten. Bergson will dagegen das Recht der Metaphysik
erweisen. Bergson schreibt seiner Philosophie die neue Konstitution
der Metaphysik zu. Nach seine Überzeugung soll die unmittelbare
Erfassung der Realität die Absicht der Metaphysik sein.
Bevor
wir mit dem Thema anfangen, möchten wir kurz auf die
Metaphysiklehre Kants eingehen, um Bergsons Position gegen Kants
Metaphysik besser zu verstehen.
Die
Schlussfolgerung der „Kritik der reinen Vernunft“ ist, dass
Metaphysik im dogmatischen Sinne, nämlich als apriorische
Erkenntnis der Dinge an sich, nicht möglich ist. Wir erkennen
die Dinge durch die Formen der Anschauung. Eine alle Erfahrung
übersteigende Metaphysik ist eine Illusion der natürlichen
Dialektik unserer Vernunft. Die Metaphysik als Wissenschaft ist nur
als System der apriorischen Voraussetzungen, Bedingungen der
Erfahrung selbst, als ‚Transzendentalphilosophie’ möglich.
Solche kritische Metaphysik ist eine sichere, fest begründete
Vernunftwissenschaft, das System der allen Wissenschaften
zugrunde liegenden apriorischen Grundsätze und Begriffe, der
synthetischen Urteile a priori als eines organischen, innerlich
zusammenhängenden Ganzen, welches allein Metaphysik möglich
macht. Aller Metaphysik muss Erkenntniskritik, Kritik der reinen
Vernunft vorangehen (Eisler 1930:334). Ihre Analyse führt uns
auf die ‚ersten materialen Grundsätze der menschlichen
Vernunft’, die in der Tat unerweislich sind, aber die
Anfangsgründe aller anderen Wissenschaften enthalten. Sie
sind für unseren Verstand unmittelbare Augenscheinlichkeiten.
Kant stellt fest, dass die metaphysischen Sätze von aller
Erfahrung unabhängig und wahr sein müssen.
In
diesem Zusammenhang stellt Kant seine kritische Frage, ob die
Metaphysik a priori im Gebiet der materialen Erkenntnis möglich
ist. Die Antwort lautet: Die Metaphysik muss in erster Linie eine
Wissenschaft von den Grenzen
der menschlichen Vernunft
sein. Die„Kritik
der reinen Vernunft“ legt ausführlich dar, dass die drei
Disziplinen der Metaphysik, nämlich Psychologie, Kosmologie und
Theologie, auf Fragen beruhen, die das Vermögen der menschlichen
Vernunft übersteigen. Infolgedessen führt der
unkritische Gebrauch des Verstandes unausweichlich in den
dialektischen Schein und macht das Gebiet der Metaphysik zu einem
Kampfplatz von ‚endlosen Streitigkeiten’. Deswegen nennt Kant
solche Metaphysik, die ‚ohne vorangehende Kritik’ durchgeführt
wird, ‚Dogmatismus’.
Kant fordert für seine Zeit die ‚Wiedergeburt’ der
Metaphysik durch eine gründliche und vollendete Kritik der
Vernunft (Kant 1923:B21). Solche Kritik verhalte sich zur
gewöhnlichen Schulmetaphysik gerade wie ‚Chemie zur Alchemie’,
oder wie ‚Astronomiezur
wahrsagenden Astrologie’. Die Transzendentalphilosophie, die Kant
„Kritik der reinen theoretischen
Vernunft“ nennt und nicht das Übersinnliche berührt, sei
also eine Halle oder der Vorhof der eigentlichen Metaphysik. Die
Transzendentalphilosophie bleibe als allgemeine theoretische
Metaphysik der eigentlichen speziellen theoretischen Metaphysik
vorgeordnet. Deswegen wird sie von Kant als „Ontologie“
charakterisiert, weil sie die Lehre von den Gegenständen unserer
Erkenntnis überhaupt oder vom Seienden als Solchem vor aller
Spezifizierung enthält. Diese erkenntnistheoretisch
reflektierte Ontologie lehrt, im Gegensatz zu allen Formen des
Dogmatismus, dass nur die Gegenstände der Erfahrung, nämlich
solche, die in Raum und Zeit als den Formen unserer Anschauung,
sinnlich gegeben werden können. Kritische theoretische
Metaphysik müsse sich also immer auf Gegenstände der
Erfahrung beziehen.
Trotz dieser kritischen, aber nicht
völlig verneinenden Haltung Kants, nennt Bergson Kant den
größten Gegner und Zertrümmerer der Metaphysik. Kant
habe die Möglichkeit der Metaphysik geleugnet und sie für
eine leere Spekulation und eine unsinnige Beschäftigung
gehalten. Bergson will dagegen das Recht der Metaphysik erweisen,
indem er die ‚Bodenlosigkeit’ der Kantischen Beweisführung
für die Unmöglichkeit der Metaphysik zu zeigen versucht.
Bergson schreibt sogar seiner Philosophie die neue Konstitution der
Metaphysik zu. Nach seine Überzeugung soll die unmittelbare
Erfassung der Realität die Absicht der Metaphysik sein.
Bergsons
Kritik an Kant bezieht sich auf seine Aussage, dass wir keine
Möglichkeit hätten, die Realität unmittelbar an sich
zu begreifen. Wir könnten die an sich seienden Dinge als
sinnliche Mannigfaltigkeit, als zusammenhangslose, ungeordnete
Daten von Empfindungen nur durch den Intellekt und durch dessen
Kategorien erfassen. Wenn wir die Grenzen unserer menschlichen
Erkenntnis überschritten und wenn wir wagten, „eine Behauptung
über die Realität aufzustellen, so spring[e] unmittelbar
auch die entgegengesetzte Behauptung hervor“ (Bergson 1912:209),
die dieselbe Beweiskraft hätte. Jeder solche Versuch führe
uns zu unlösbaren Antinomien. Die Antinomien zeigten uns, dass
eine klare Auskunft über die Realität unmöglich sei.
Also sei es unmöglich, dass die menschliche Vernunft durch ihre
Erkenntnisvermögen die absolute Realität zu fassen bekomme.
Kant wolle zeigen, dass es eine Ungleichartigkeit von Intellekt
und metaphysischer Wirklichkeit gibt. Das sei ein Grund, warum Kant
Metaphysik für unmöglich hält. Jede metaphysische
Erkenntnis laufe immer nur auf die Feststellung zweier gleich
möglicher, entgegengesetzter Behauptungen hinaus. Die
Metaphysik sei durchtränkt von, lebt und stirbt in Antinomien.
Solche Antinomien hinderten uns, die Möglichkeit einer absoluten
Realität zu erfassen. Bergson ist der Meinung, dass der Ursprung
der Antinomien in der Annahme einer in ihren Teilen total
zusammenhangslosen Materie liegt. Diese Annahme wird
verfälscht, sobald man ein vollständiges Zusammenfallen von
Materie und Raum voraussetzt. Diese Antinomien können
verschwinden, wenn man durch eine Bemühung der Intuition zum
Unmittelbaren zurückgeht und sich in das Innere der fließenden
Realität begibt.
Bergson
nennt als weiteren Grund seiner Ablehnung der Kantischen Metaphysik,
Kants Verneinung der Existenz der transzendentalen Fähigkeit des
Menschen. Bergson faßt für ihn die tiefsten und
wichtigsten Grundgedanken der „Kritik der reinen Vernunft“ so
zusammen: Wenn Metaphysik möglich wäre, so müßte
sie nur durch die Intuition, nicht durch die Dialektik erfaßt
werden. Die Dialektik führt uns zu einander wiedersprechenden
Standpunkten. Bei der Dialektik sind sowohl Thesis als auch
Antithesis gleich zu beweisen oder zu verneinen. DerAufbau
der metaphysischen Wirklichkeit würde nur durch eine höhere
Intuition, die Kant intellektuelle Anschauung nennt, durch eine
direkte Wahrnehmung der metaphysischen Wirklichkeit möglich
sein. Das klarste Ergebnis der kantischen Kritik,
betont
Bergson, besteht in dem Nachweis, dass man in den Bereich des
Transzendentalen nur durch eine direkte Schau eindringen könnte.
Eine Lehre auf diesem Gebiet hat nur soweit Wert, als sie eine
direkte Wahrnehmung enthält. Man bekommt diese Wahrnehmung, man
zerteilt sie und setzt sie wieder zusammen. Man wendet sie hin und
her nach allen Richtungen. „So wird man doch niemals mehr aus ihr
herausziehen können, als was von vornherein in ihr war; soviel
in ihr steckte, soviel wird man in ihr wiederfinden, und das
Raisonnement wird uns nicht einen Schritt über
das
hinausführen, was man zuerst wahrgenommen hatte“ (Bergson
1948:159-160). Kant hat das ins helle Licht gestellt. Nach Bergsons
Ansicht ist es der größte Dienst, den Kant der
spekulativen Philosophie erwiesen hat. Kant hat festgestellt, dass
eine Metaphysik nur durch die Anstrengung der Intuition möglich
wäre. Einschränkend fügte er allerdings dazu, dass
diese Intuition unmöglich sei (vgl. ebd. 160).
Warum
hält Kant die Metaphysik für unmöglich?, fragt
Bergson. Weil er sich eine Intuition der Wirklichkeit an sich
vorstellte, wie Plotin und andere, die sich auf die metaphysische
Intuition berufen, sie sich vorgestellt haben. Sie haben unter der
Intuition eine Erkenntnisfähigkeit verstanden, die sich sowohl
von unserem Intellekt als auch von unseren Sinnen unterscheide. Sie
haben daran geglaubt, „dass die Abwendung vom praktischen Leben die
Abwendung vom Leben überhaupt bedeute“ (Bergson 1948:160).
Bergson
versucht zu erklären, warum Kant und seine Anhänger so
gedacht haben. Sie sind davon überzeugt, dass unsere Sinne und
unser Bewusstsein uns unmittelbar die Bewegung erfassen lassen. Sie
haben angenommen, dass wir mit unseren Sinnen und unserem Bewusstsein
die Veränderungen in den Dingen und in uns wahrnehmen können.
Es ist für sie ganz deutlich, dass es auf dem Gebiet der
Spekulation unlösbare Widersprüche gebe, wenn wir die
gewöhnlichen Gegebenheiten unseres Bewusstseins und unseres
Sinnes verfolgen. Dann kamen sie zum Schluss, dass „der
Widerspruch der Veränderung selber innewohnte, und dass man, um
sich ihm zu entziehen, die Sphäre der Veränderung verlassen
müsse, um sich über die Zeit zu erheben.“ (Ebd.) Das sei,
nach Bergson, der Grundgedanke derjenigen, die mit Kant die
Möglichkeit der Metaphysik leugneten. In der Tat sei die
Metaphysik aus den Argumenten des Eleaten Zenon mit Blick auf die
Veränderung und Bewegung hervorgegangen. Er wies darauf
hin, dass eine Annahme von Bewegung und Veränderung zu
Widersprüchen führe. Das Resultat dieser von Parmenides und
Zenon begründeten Skepsis gegenüber der Dynamik des
Geschehens ist der sich bis heute durchsetzende Wunsch, das Wahre im
Bereich des Statischen zu finden. Dieser Wunsch beeinflusste das
Denken der letzten zweieinhalbtausend Jahre und bewirkte ein
Ungleichgewicht in der Berücksichtigung des philosophischen
Denkens zugunsten des Festen, Unbeweglichen, Statischen,
Unveränderlichen.
Anschließend
fügt Bergson weitere Gründe Kants hinzu, weshalb er die
Metaphysik für unmöglich gehalten hat. Kant meinte, „dass
unsere Sinne und unser Bewusstsein sich in einer wirklichen Zeit
betätigen, (...) in einer Zeit, die sich unaufhörlich
verändert, in einer Dauer, die dauert.“ (Bergson 1948:161) Das
ist der erste Grund. Zweitens hat er sich von der Relativität
unserer gewöhnlichen Sinneserfahrung und unseres
Bewusstseins Rechenschaft abgelegt. Deshalb hielt er die Metaphysik
„durch eine ganz andersartige Intuition als die unserer Sinne und
unseres Bewusstseins für unmöglich, denn von dieser
Intuition glaubte er beim Menschen keine Spur anzutreffen“ (Ebd.)i
Bergsons Unterscheidung lässt die Frage entstehen, inwiefern
sein Begriff der Intuition sich von der Intuitionsauffassung anderer
Philosophen unterscheidet. Ist die Frage hier berechtigt, ob ein
Philosoph die Fähigkeit besitzt, die wir Intuition nennen
möchten? Es geht auch darum, durch eine gewisse Verschiebung der
Aufmerksamkeit zu einer ausgedehnten Wahrnehmung der Wirklichkeit zu
gelangen. Man wendet sich hier von dem ab, was uns praktisch im
Universum interessiert, und richtet sich auf das, was in praktischer
Hinsicht zu nichts dient. Soll man sich in eine andere Welt
versetzen, z. B. in die Welt der platonischen Ideen, in eine
unbewegte, ewige, außerzeitliche Welt? Bergsons Antwort ist
Nein. Er ist der Meinung, dass die Intuition sich auf unsere eigene
Erfahrung, auf die Veränderung, auf die Zeit, auf die Dauer, in
der unser Wesen besteht, richtet. Bergson betont aber gleich, dass
dies eine schwere sogar mühsame Anstrengung verlangt. In
Verbindung mit dem Gedanken der Dauer zeigt sich, dass die Intuition
eine geistige Erfahrung ist, deren Gehalt freilich durch das
rationale Denken niemals ausgeschöpft werden kann. Bergson will,
dass wir uns in das Innere des Gegenstandes hineinversetzen, um mit
der erzeugenden Kraft des Lebens (dem Lebensstrom) eins zu werden.
Nur dadurch kann man die wirkliche Zeit begreifen. Sie ist ein Strom
von wechselnden, ungleichartigen Qualitäten, ohne das geringste
Verhältnis zu der messbaren, wissenschaftlichen Zeit. Durch
diese unräumliche Zeitauffassung kann die Metaphysik eine neue
Beziehung zum Leben gewinnen. Das Wesentliche für die
Philosophie ist die durch eine einfache Rückwendung innerhalb
des gewöhnlichen Bewusstseins erreichte Intuition der
eigentlichen Dauer. Diese Intuition der Dauer hat Lebensbedeutung;
sogar „unser alltägliches Leben wird davon erwärmt
und erleuchtet“ (Bergson 1948:147)
Durch
diese intuitive Auffassung der Zeit streitet Bergson wider aktuelle
wissenschaftliche Thesen, die Assoziationspsychologie und den
Determinismus.
Bergson
wirft Kant vor, dass er das platonische Gedankengut übernommen
habe. Bergson sieht eine Ähnlichkeit zwischen Kant und dem
Platonismus, weil sein Streben, jede mögliche Erfahrung in
vorher bestehende Formen zu gießen, eigentlich einem
verwandelten Platonismus gleich kommt. Nach Bergson bemüht sich
Kant in der KrdrV
die platonischen Ideen vom Himmel auf die Erde zurückzuholen.
„Kurz, die ganze Kritik der reinen Vernunft läuft auf die Behauptung hinaus, dass der Platonismus, der illegitim ist, solange die Ideen Dinge sind, legitim wird, wenn die Ideen zu Beziehungen werden, und dass die fertige Idee, nachdem man sie einmal vom Himmel auf die Erde herabgeholt hat, genau wie Platon es wollte, der gemeinsame Grund für das Denken und für die Natur ist. Aber die ganze Kritik der reinen Vernunft beruht auch auf dem Postulat, dass unser Denken unfähig ist, über die platonische Art des Philosophierens hinauszukommen.“(Bergson 1948:222)
Dies
bedeutet, dass jede mögliche Erfahrung in präexistente
Formen gegossen werden müßte, um Existenz zu gewinnen.
Dass diese Vorstellung mit Bergsons Idee der schöpferischen
Kraft kollidieren muss, dürfte klar sein. Eine Philosophie,
die auch nur an eine platonische Ideenlehre angelehnt ist, schließt
eine unendliche schöpferische Kraft, wie es der élan
vital Bergsons
ist, aus.
Bergson
kritisiert Kant, dass er den Metaphysiker und den Wissenschaftler
beim Worte nimmt und Wissenschaft und Metaphysik bis an die äußerste
Grenze des Symbolischenii
treibe, wohin sie übrigens von selbst gelangen, sobald der
Verstand eine Unabhängigkeit voller Gefahren für sich in
Anspruch nimmt (vgl. ebd. 220). Aufgrund der Tatsache, dass er die
wurzelhafte Verbindung zwischen Wissenschaft und Metaphysik
durch den „intuitiven Verstand“ verkannt hat, wird es nicht
schwer, eine These darauf aufzubauen, dass unsere Wissenschaft ganz
relativ und unsere Metaphysik ganz künstlich ist. Da er die
Unabhängigkeit des Verstandes überspitzt und „die
Metaphysik und die Wissenschaft um ihr inneres Schwergewicht gebracht
hat, (...), stellt sich ihm die Wissenschaft mit ihren Beziehungen
nur noch als eine oberflächliche Form dar und die Metaphysik mit
ihren Dingen als eine oberflächliche Materie“ (ebd.) Bergson
meint, dass Kant unserer Wissenschaft und unserer Metaphysik harte
Schläge versetzt hat, von denen sie sich bisher nicht erholt
haben.
Unser
Geist neigt dazu, dass er in der Wissenschaft eine bloße
relative Erkenntnis und in der Metaphysik eine reine Spekulation
sehen will. Wenn die Metaphysik sich auf den Begriffen, die wir schon
gehabt haben, aufbauen will und wenn sie in einer geistreichen
Anordnung von fertigen Ideen besteht, kurz, wenn sie etwas anderes
ist, als die beständige Ausweitung unseres Geistes, „die immer
erneute Anstrengung, über unsere gegenwärtigen Ideen
hinauszukommen und vielleicht auch über unsere einfache
Logik, so ist es zu evident, dass sie künstlich wird, wie alle
Werke des reinen Verstandes“ (Bergson 1948:221).
Wenn
man die „Kritik der reinen Vernunft“ genauer liest, sagt Bergson,
bemerkt man, dass das, was Kant unter der Wissenschaft versteht, eine
Art von Universalmathematikiii
ist, während für Kant die Metaphysik ein kaum
überarbeiteter Platonismus
sei. Die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft bestehe darin, diese
Mathematik zu begründen, nämlich zu bestimmen, was zur
Intelligenz und was zum Objekt gehört, damit eine lückenlose
Mathematik sie miteinander verbinden könne. Dass sich jede
mögliche Erfassung in die schon festgelegten Formen unseres
Verstandes einfügen muss, ist nur möglich, indem unser
Verstand selbst die Natur organisiert und sich in ihr wiederspiegelt
(sofern man nicht eine prästabilierte Harmonie annehmen will)
(Bergson 1948:222). „Daher die Möglichkeit der Wissenschaft,
die ihre ganze Wirksamkeit ihrer Relativität verdankt, und die
Unmöglichkeit einer Metaphysik, weil diese nichts weiter zu
tun findet, als an Phantomen von Dingen die Begriffsarbeit, die die
Wissenschaft ernsthaft vollzieht, zu parodieren“ (ebd.).
Bergson
findet Kants Auffassung von der wissenschaftlichen und
metaphysischen Erkenntnis nicht zutreffend. Bergson hatte
festgestellt, dass „die Kritik der reinen Vernunft“ auf dem
Postulat beruht, dass
unser Denken unfähig ist, über die platonische Art des
Philosophierens hinauszukommen,
d.h., dass jede mögliche Erfahrung in bereitliegende Formen
gegossen werden muss (vgl. ebd.). Das ist aber ein wichtiger Punkt:
Wenn die wissenschaftliche Erkenntnis so verstanden werden muss, wie
Kant sie verstanden hat, dann gibt es eine einfache, präformierte
und selbst präformulierte Wissenschaft in der Natur, von der
Aristoteles meinte, „von dieser den Dingen immanenten Logik lassen
die großen Entdeckungen Punkt für Punkt die schon im
voraus skizzierte Linie aufleuchten“ (ebd.)Wenn
die metaphysische Erkenntnis so verstanden werden muss, wie es Kant
gewollt hat, dann reduziert sie sich auf die Möglichkeit zweier
Grundpositionen. Sie manifestiert sich in willkürlichen und
immer sich verändernden Stellungnahmen zwischen zwei von
Ewigkeit her formulierten Lösungen; sie lebt und sie stirbt an
den Antinomien. In der Tat „stellt sich weder die moderne
Wissenschaft in dieser einlinigen Einfachheit dar, noch auch die
Metaphysik in diesen unreduzierbaren Antinomien“ (Bergson
1948:222f.). Die moderne Wissenschaft ist weder einheitlich noch
einfach. Bergson stellt fest, dass die Wissenschaft nicht durch
regelmäßige Einschachtelung von Begriffen fortschreitet,
die gleichsam vorherbestimmt wären, sich genau ineinander
einzufügen (Bergson 1948:223). Auf der anderen Seite liefert uns
die Metaphysik der Moderne nicht derartige radikale Lösungen, so
dass sie in unreduzierbaren Antinomien endigen müssten. „Ohne
Zweifel wäre dem so, wenn es kein Mittel gäbe, die Thesis
und Antithesis der Antinomien zu derselben Zeit und auf derselben
Ebene anzuerkennen“ (ebd.) Nach Bergson bestehe aber Philosophie
darin, dass man sich durch eine Anstrengung der Intuition in das
Innere der Wirklichkeit versetzt. Demgegenüber nimmt die Kritik
von dieser Wirklichkeit nur von außen her zwei
entgegengesetzte Ansichten, Thesis und Antithesis, auf.Man
kann sich gar nicht vorstellen, wie das Weiße und das Schwarze
sich gegenseitig durchdringen, wenn man nicht das Graue gesehen hat.
Aber wenn man das Graue gesehen hat, dann begreift man ganz leicht,
wie dieses vom doppelten Gesichtspunkt des Weißen und des
Schwarzen aussehen wird. „Die Lehren, die auf der Intuition
gründen, entgehen der kantischen Kritik genau in dem Maße,
wie sie intuitiv sind; und diese Lehren bilden das Ganze der
Metaphysik, vorausgesetzt, dass man nicht die in Thesen
erstarrte und tote Metaphysik heranzieht, sondern die lebendige
der Philosophen“ (Bergson 1948:223f.).
Kant
hat richtig gesehen, so formuliert Bergson, als er sagte, dass keine
dialektische Anstrengung des Denkens uns jemals zu einem
Jenseits führen werde, und dass eine wirksame Metaphysik
notwendigerweise eine intuitive Metaphysik sein müsste. Er fügte
gleich aber hinzu, dass diese Intuition uns fehle, und diese
Metaphysik unmöglich sei (Bergson 1948:147). Kant hat die
fundamentale Bedeutung der Intuition für eine Metaphysik richtig
gesehen, aber er hat die Existenz einer solchen Fähigkeit beim
Menschen bestritten,iv
und deshalb die Konstitution der Metaphysik für unmöglich
gehalten. Bergson hingegen schreibt diese Fähigkeit dem Menschen
zu und hält deshalb die Metaphysik für möglich. Er
wendet dazu ein, dass eine Metaphysik, die auf Intuition beruht,
nicht möglich wäre, wenn es keine andere Zeit und keine
andere Veränderung als solche im Sinne der kantischen Auffassung
geben würde, „an die wir von Natur aus gebunden scheinen, denn
unsere gewöhnliche Wahrnehmung vermag nicht aus der Zeit
hinauszutreten, noch etwas anderes als Veränderliches [zu]
erfassen“ (ebd.) Kant sieht aber in der potentiellen Intuition ein
Erkenntnisvermögen, das von den Sinnen und dem Bewusstsein
radikal unterschieden ist.
Diese
Kritik Bergsons ist unserer Meinung nach unzutreffend. Kant war
jedoch gegen die bestimmte Form der überlieferten Metaphysik,
deren Dogmatismus und Methodik er abgelehnt hat. Trotzdem kann man
sagen, dass die ganze Kantische Philosophie Folge der
Auseinandersetzung mit der Metaphysik ist. Kant betont mehrmals, wie
wichtig und unerfüllbar die Metaphysik für uns ist. Es ist
zu sagen, dass es bei Kant nicht um die Vernichtung der Metaphysik,
wie Bergson meinte, geht. Kant sagt gerade das Gegenteil, dass der
Metaphysik gänzlich zu entsagen unmöglich sei. Die wahre
Metaphysik soll nach Kant ihre eigene Grenze kennen und die Vernunft
nicht verleugnen.
BERGSON, H. (1912)
Schöpferische
Entwicklung
(L`Évolution
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BERGSON, H. (1948)
Denken
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Aufsätze und Vorträge, Meisenheim am Glan.
BEGSON,
H. (1991) Materie
und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung
zwischen Körper und Geist (Matiére
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mit einer Einleitung von Erik Oger, Hamburg.
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M. (1966). Bergson
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Berlin 1930.
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Kants Werke, hrsg. von A. Görland, Berlin.
KANT, I. (1956) Kritik
der reinen Vernunft,
hrsg. von R. Schmidt, Hamburg.
i
"Il n`y aurait de métaphysique que si nous avions avec
le supra-sensible un contact analogue à celui que l`intuition
sensible soutient avec la diversité empirique. Or, cette
intuition n`existe pas. Mais la métaphysique, si elle pouvait
être, serait intuitive. C`est le mérite de Kant de
l`avoir proclamé (..)." Barthélemy-Madaule,
M.: Bergson adverse de Kant, Paris 1966, S. 86.
ii
Bergson schildert etwas näher, was er mit dem Symbolischen
gemeint hat. „Aber auch diese Metaphysik [der modernen
Philosophie], wie auch diese Wissenschaft, hat um ihr reiches
inneres Leben einen dichten Schleier von Symbolen gewoben und oft
vergessen, dass, wenn auch die Wissenschaft zu ihrer analytischen
Entwicklung die Symbole nicht entbehren kann, es doch die
Hauptaufgabe der Metaphysik ist, mit den Symbolen zu brechen.“
(Bergson 1948:219)
iii
Bergson fasst die Lehre einer Universalmathematik als eine Erbschaft
des Platonismus auf. „In der Tat ist der Traum einer
Universalmathematik bereits eine Erbschaft des Platonismus. Die Welt
der Ideen wird zu einer Universalmathematik, wenn man annimmt, dass
die Idee in einer Beziehung oder einem Gesetz besteht und nicht mehr
in einer Substanz: Kant hat diesen Traum einiger modernen
Philosophen
für Wirklichkeit gehalten; noch mehr, er hat geglaubt, dass
jede wissenschaftliche Erkenntnis nur ein losgelöstes Fragment
oder vielmehr ein Provisorium der Universalmathematik wäre.“
(Bergson 1948:221).
iv
Bergson verteidigt gegen diese Auffassung Kants die These, dass um
zu dieser Intuition zu gelangen, „es nicht notwendig , sich
aus dem Bereich der Sinne und des Bewusstseins hinaus[zu]versetzen.“
(Bergson 1948: 147) Kant war im Irrtum, „wenn er das glaubte.“
(Ebd.)
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