Erschienen in Ausgabe: No 75 (5/2012) | Letzte Änderung: 13.02.14 |
von Heike Geilen
Die Unverhülltheit menschlicher Gefühle oder Auf der Suche
der wahren Welt hinter dem Schein
"Es ist mir das Gleiche, woher ich ausgehe; denn dort werde ich auch
ankommen." Dieses, dem Roman vorangestellte Zitat des griechischen
Philosophen Parmenides, drückt in einem Satz den Duktus des epochalen Opus
Maximus von Péter Nádas aus. Der ungarische Autor hat sich in seinen
"Parallelgeschichten" wirkungsvoll der Denkweisen dieses Vorsokratikers
bedient. Denn genau wie Parmenides geht es Nádas darum, die Alltagswahrnehmung
der Welt als eine Scheinwahrheit aufzudecken, während die wirkliche Welt ein
unveränderliches, ungeschaffenes, unzerstörbares Ganzes sei. 18 Jahre schrieb
der ungarische Autor an diesem Dickicht aus Lebensgeschichten, die in ein
globales Ganzes eingewoben sind. Der Leser trudelt aus dem Berlin der
Wendezeit, nach Budapest ins Jahr 1961, fällt zurück in grausam-erschütternde
Schilderungen der letzten Tage des 2. Weltkrieges oder findet sich gar in der
k. u. k.-Zeit Österreich-Ungarns wieder. Als "gehörten zu jeder Einzelheit
weitere hundert Einzelheiten, als erheische jeder Satz eine Erklärung und als
enthülle er mit jeder Erklärung ein hochbrisantes Geheimnis, während er seine
eigenen Geheimnisse für sich behielt." Alle Personen, die auf latente Art
durch ihre Vergangenheit miteinander verbunden zu sein scheinen, leiden an
unterschiedlich ausgeprägten Arten von Verfolgungswahn. Ihr zwanghaftes
Sichverstecken, ihre berechtigte oder ungerechtfertigte Angst oder
Rastlosigkeit haben nur ein Ziel: den Wunsch nach Spurenlosigkeit, spurlos
unter den Menschen zu verschwinden. Dabei ist der Tod immer allgegenwärtig. Sei
es der gleich zu Beginn des Romans von einem jungen Mann gefundene Tote, die
Verbrennenden eines hektisch aufgegebenen Konzentrationslagers oder aber die
Niedergeknüppelten des ungarischen Aufstands von 1956.
Ein weiteres wichtiges Augenmerk richtet Péter Nádas auf Körperlichkeiten,
gepaart mit einem sensiblen olfaktorischen und visuellen Gespür. Manche
Beschreibung rund um das männliche Geschlechtsorgan oder aber die minutiöse
Beschreibung eines Beischlafes über 70 Seiten mögen den Leser irritieren.
Allerdings gleiten sie niemals ins Pornographische ab, sondern gleichen eher einer
Offenlegung tabuisierter Ästhetik: Lust und Schmerz als Einheit, sich kreuzende
Qualen und Glücksgefühle, "kein Unterschied mehr zwischen Innen- und
Außenwelt (...) im chaotischen Reich der unbekannten Handlungen und heimlichen
Antriebe". Nádas zeichnet eine ungeheure Neugier aus, auf das, was den
Menschen verbindet, "und ob das, was sie verbindet auch haltbar ist und
sie vor der zähneklappernden Einsamkeit bewahrt". Zumeist bleiben die
Schicksale seiner oftmals egozentrischen Figuren im wahrsten Sinne des Wortes
Parallelgeschichten. Nicht Liebe und Erfüllung wird ihnen zugegen, sondern
Leere und Sehnen. Einzig Klára und Kristóf (das offensichtliche Alter Egodes
Autors, bei dessen Schilderungen von der ansonsten auktorialen Form abgewichen
und in die Ich-Form gewechselt wird) können sich aus dem lähmenden
zwischenmenschlichen Befremden herauslösen.
"Ich trage Leute in mir, die nicht ich sind, und blicke mit ihnen in
Zeiten und auf Orte zurück, die es für mich gar nie geben konnte, oder ich
blicke in Zeiten voraus, die ohne mich für niemanden kommen würden." Péter
Nádas beschreitet viele ineinander verschlungene, verkettete Pfade. Wege, die
sich manchmal kreuzen, manchmal nur berühren, mal vertraut, dann wieder völlig
fremd sind, letztendlich aber trotzdem von einem Menschen zum anderen
hinüberführen. Er offeriert eine "Topographie der unverständlichen
Sehnsüchte, der auf dieser dreckigen Erde hinterlassenen Spur gehätschelter
Phantasien und unerfüllter Wünsche." Am besten kann man die Struktur des
Romans vielleicht mit einem Film vergleichen, der manchmal reißt, dann wieder
an ganz anderer Stelle aufblitzt und weiterläuft. Ein Film über das vergangene
Jahrhundert, über die Menschheit, über "verflochtene Iche".
Der Text liest sich trotz dieses Figurenkonglomerates, der mitunter mitten in
einem Satz wechselnden Zeit- und Handlungsebene, ausnehmend gut. Mit ein
bisschen Konzentration verliert der Leser auch niemals die Orientierung. Dies
ist zu einem nicht unerheblichen Anteil das Resultat der hervorragenden Übersetzung
durch Christina Viragh, die dafür völlig zu Recht den Preis der Leipziger
Buchmesse 2012 erhielt. Ihre kongeniale Übertragung erhält die feinen
Spannungen und Schattierungen des Tonfalls, das "Summen und Rauschen der
klatschenden Erfülltheit, Leere, Dichte, Fläche der Welt", mit der der
Autor das epochale Werk durchzogen hat. Vielleicht sollte sich der Leser ganz
auf die Fühler seiner Fantasie verlassen, um die situativen Wechsel einer Szene
"unbeschadet zu überstehen". Wer allerdings "ungeschützt"
in diesen literarischen Koloss hineinsieht, gerät unweigerlich in ein
Labyrinth, aus dem er, wenn er nicht aufpasst, nicht wieder herausfindet. Denn:
"So viele aufeinanderfolgende, sich berührende Veränderungen vermag der
Blick nicht aufzunehmen. Und das Bewusstsein schnappt leer nach Luft, wenn es
über der schaurigen Tiefe nichts zum Erfassen hat."
Péter Nádas' "Parallelgeschichten" zeigen die "Schönheit und
Schrecklichkeit der zwischenmenschlichen Osmosen, des Identitätstausches und
der wechselseitigen Zersetzung". Es ist ein Buch, das den Zusammenhang
zwischen dem Individuellen und Geschichtlichen erspürt. Ein Buch, das das
Fühlen und Denken gleichermaßen anregt. Denn vielleicht ist das ganze Leben
nichts anderes als eine spezifische Sinnestäuschung, da "sich die Welt in
noch sovielfältiger und reichhaltiger Gestalt präsentieren mag, sie ist
letztlich doch einfach ein Gesamt, ein Haufen immer gleicher
Materialien..." Oder um noch einmal mit Parmenides zu sprechen: "Das
Sein ist ungeworden, und unzerstörbar ... es war nicht und wird nicht sein,
denn im Jetzt ist es als Ganzes, Zusammenhängendes."
Péter Nádas Parallelgeschichten
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Titel der Originalausgabe: "Párhuzamos történetek"
RowohltVerlag, Reinbek bei Hamburg (2012)
1728 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3498046950
ISBN-13: 978-3498046958
Preis: 39,95 EURO
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.