Erschienen in Ausgabe: No 77 (7/2012) | Letzte Änderung: 12.02.13 |
von Heike Geilen
Literatur
und Laute für besinnliche Stunden offerieren die aktuellen Zeilen von Matthias
Zschokke nicht. Dafür passt der Text des in Berlin lebenden Schweizer Autors
einfach zu wenig in ein zur Muse animierendes literarisches Genre. "Lieber
Niels" ist die Veröffentlichung des E-Mail-Wechsels zweier exzessiver
Kommunikatoren und Lebensfreunde. Hinter dem titelgebenden Namen verbirgt sich
übrigens der Dramaturg, Kritiker und Publizist Niels Höpfner. Jener überredete
Zschokke, seine Tausende von elektronischen Briefen zu sozialisieren und zu
publizieren.
Nun
hört sich dieses Unterfangen alles andere als interessant und eher nach einer
hageren Anthologie, einem epischen Rinnsal an. Denn was bitte, wird man sich
fragen, geht einem die private Korrespondenz zweier Männer an. Auch wenn die
Texte, wie Niels Höpfert im Vorwort erläutert, "formal geglättet und
orthografisch gebügelt, (...) auf ihren Kern konzentriert & destilliert und
manchmal auch in bewährter Elisabeth-Förster-Nietzsche-Manier gekürzt"
wurden, so bleibt doch fraglich, was einen unidirektionalen Mailverkehr (nur
die Mails von Matthias Zschokke an Niels Höpfner sind abgedruckt) für die
Öffentlichkeit so unterhaltsam macht, dass diese gewillt ist, ein derartiges
Buch zu konsumieren?
Allen
Vorurteilen zum Trotz kann diesem, in seinem Format qualitativ und quantitativ
eigene Wege gehenden Erzählband nur eine große Leserschaft gewünscht werden.
Denn Zschokkes exzentrische, egomanische, "fahrig, verfuchtelt,
zufällig" zu Wörtern und Sätzen geformte Gedankengänge präsentieren sich
als ein literarisches Feuerwerk par excellence. Seine
"Auseinandersetzungen mit Literatur, Theater, Musik, Kunst und Alltag;
irdischen Befindlichkeiten; Geld- und Mietsorgen", sein verzweifelter
Kampf mit dem PC nebst diversen Kollegenbeschimpfungen, jeder Menge
eingestreuter Reiseberichte und "sogar politischer Marginalien"
zeugen von einer unglaublichen Spontaneität und Frische. Zschokkes Texte - man
ist gewillt sie beinahe Bonmots zu nennen - schillern in den allerschönsten
Farben zwischen Wut, Zorn, Spott, Sarkasmus sowie Begeisterung, Jubel und
stillen Glücksmomenten. Der Wahlberliner der eben noch frech, keck,
schwärmerisch und gutgelaunt berichtet, offenbart schon wenig später seine
"petrolige Art zu schreiben". Dann hasst, verurteilt, grummelt er mit
der gleichen Emphase wie zuvor und präsentiert sich als gehöriger Misanthrop.
Gleichzeitig wartet das Buch mit einer Fülle an Literaturempfehlungen auf.
Auf
Grund dieses Lesevergnügens der Extraklasse verzeiht man den Schweizern doch
glatt, dass sie die Deutschen verächtlich "Horste" nennen, denn, so
Zschokke: "Wir leiden darunter, keinen Kleist hervorgebracht zu haben.
Überhaupt: Die Bachs und Hölderlins nehmen wir euch ewig übel."
"Lieber
Niels" ist ein Buch, das man häppchenweise oder als opulentes
Sechs-Gänge-Menü genießen kann und das keineswegs als "klassisch fette
Fünfzigerjahre-Nachkriegsschweinefleischcuisine mit Zucker am Salat"
daherkommt, wie der Autor auf einer Reise nach Ungarn beklagt. Wenn schon ein
Vergleich, dann würden wohl eher neuseeländische Opposumsocken, die Matthias
Zschokke zu allergrößtem Entzücken hinreißen, als treffende Metapher gereichen.
Denn die "Söcklein sind federleicht und daunenzart. Sie wären das Ideale
für Deine nächtlichen Internet-[oder Lese-]stunden: Nackt auf Deinem
Elefantenfuß sitzend, nur mit Opossumsöckchen an den Füßen." Eines ist auf
jeden Fall ersichtlich: Matthias Zschokkes Mails sind ein beredtes Zeugnis weg
von der Oberflächlichkeit. Sie lesen sich "knackfrisch und quieken wie die
Ferkel im Frühling." Ein außerordentliches Vergnügen. Danke!
Matthias
Zschokke
Lieber Niels
WallsteinVerlag, Göttingen (März 2011)
762
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3835309099
ISBN-13:
978-3835309098
Preis:
29,90 EURO
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.