Erschienen in Ausgabe: No 40 (6/2009) | Letzte Änderung: 23.03.10 |
von René Steininger
Man wird in der deutschen Literatur nach 1945 nicht leicht
ein Werk finden, das so hartnäckig um die Themen der Zerstörung und Trauer
kreist, wie jenes des 1944 in Wertach im Allgäu geborenen und 2001 bei einem
Autounfall in seiner englischen Wahlheimat Norwich ums Leben gekommenen
Literaturwissenschafters und Schriftstellers W. G. Sebald.
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist Sebald
vor allem durch seine späten, erzählenden Werke, zunächst im
angloamerikanischen Raum, über diesen Umweg auch in seinem ungeliebten
Heimatland, und durch die Züricher Vorlesungen, die 1997 unter dem Titel Luftkrieg und Literatur veröffentlicht
wurden. Die Hauptthese dieser Vorlesungen von der ausgebliebenen Trauerarbeit
über die größte nationale Katastrophe Deutschlands, die Sebald zufolge nach
Kriegsende literarisch niemals angemessen aufgearbeitet wurde, sorgte
kurzfristig für einen Eklat im deutschen Feuilleton. Ein Rascheln sollte es
wieder nur gewesen sein im Blätterwald, ein Beben von mittlerer Stärke auf der
Richterskala der täglichen Hiobsmeldungen, wie man im Nachhinein feststellen
muss. Vergessen scheint heute wieder, was damals immerhin Anlass für eine
öffentliche Diskussion war. Ein Lapsus, der Sebalds provokanten Befund von der
Erinnerungslosigkeit der Deutschen freilich nur bestätigt, wenn man fairerweise
hinzufügt, dass der Gedächtnisschwund heute längst ein globaler ist, also nicht
nur das Ergebnis einer nationalen Verdrängungsleistung im Dienste des
unmittelbaren Überlebens, sondern Produkt der Überforderung durch die medial
vermittelte Informationsflut, eine synchrone Begleiterscheinung der
Nachrichtenexplosion.
Den Leerstellen von Literatur und Literaturwissenschaft, den
vergessenen Rändern der Geschichte und den Außenposten der Gesellschaft galt
das Augenmerk Sebalds freilich von Anfang an, der in seiner keine zwei
Jahrzehnte dauernden schriftstellerischen Karriere die durchaus riskante
Entwicklung vom Literaturwissenschafter zum eigenständigen Stilisten vollzog,
der in seinen Büchern literarische Gattungsgrenzen sprengte und die Genres
kunstvoll miteinander vermischte.
Warum heute, wo das Aufspüren und Erforschen sozialer,
ethnischer und kultureller Randzonen selbst zu einem prestigeträchtigen, autonomen
Forschungszweig innerhalb der Kulturwissenschaften mutiert ist, Sebalds
literarisches Erbe noch immer seltsam anachronistisch anmutet, wird noch zu
klären sein. Weil aber vom Unzeitgemäßen mitunter der nachhaltigste Anreiz
ausgeht, ist der Ruhm dieses Werks untergründig gewachsen, sprunghaft zuletzt
durch die tragischen Umstände von Sebalds eigenem Ende, das den sehr
persönlichen Charakter seines literarischen Unterfangens noch einmal zu
unterstreichen schien. Denn Sebald nahm offenbar tatsächlich aus persönlicher
Neigung auf sich, was heute nicht selten nur noch durch professionelle
Profilierungssucht motiviert ist. Die Radikalität seiner Position, die
singuläre Gestalt seines mäandernden, im hohen Ton der Elegie verfassten
Spätwerks lässt sich vielleicht am besten ermessen, indem man ihr den Realismus
der Trümmerliteratur gegenüberstellt. Sachverstand und Kompromissbereitschaft
waren die Gebote der Stunde Null, die
jene, denen die undankbare Aufgabe zufiel, von einer traumatisierenden
Vergangenheit in eine lebbare Gegenwart und vertrauensvollere Zukunft
überzuführen, zu einem Ton konzilianter Offenheit verpflichtete. Wie sehr aber
gerade dieser Ton das Leid der Opfer, insbesondere ihre Sprachlosigkeit, die
viele gar nicht und manche erst spät nach langem Stillschweigen durchbrechen
konnten, just wieder verfehlen musste, wurde deutlicher erst durch den
historischen Abstand und im Kontrast zu jenen Werken, mit denen die Opfer
schließlich selbst aus dem Schatten getreten sind. Während man hier um Schadensbegrenzung,
Verständigung und Wiedergutmachung bemüht war, verwies man dort auf das
subjektive, irreduzible Pathos des Leidens. Dies konnte im Übrigen wie bei
Celan durch eine lyrische, allen Kategorien öffentlicher Kommunikation sich
verweigernden Hermetik geschehen, oder wie bei Jean Améry, dem Sebald zwei
ausführliche Essays widmete, durch philosophische Intrasigenz. Gemeinsam aber
war allen diesen Stimmen, dass der Protest in ihnen allen politischen
Zugeständnissen zum Trotz nicht mehr verstummen wollte. Gegen die Idee einer
Restitution verfocht Jean Améry, um nur das eloquenteste Beispiel zu nennen, in
einer ironischen Umkehrung der „Herrenmoral“ Nietzsches sein Recht auf
Ressentiments. Denn dass junges Leben notwendigerweise auf den Trümmern des alten
und verbrauchten neu sich formiert und konsolidiert, ist biologisch und auf dem
Feld der Ästhetik so unabweisbar, wie es politisch und ethisch unannehmbar
bleibt. Der Betroffene wird und kann die hohle Wendung vom Leben, das eben
weitergehen müsse, nicht ohne „reaktiven Groll“ (Améry) zur Kenntnis nehmen.
Groll, den Améry empfand angesichts der atemberaubenden Geschwindigkeit, mit
der sich in Deutschland nach dem Krieg der wirtschaftliche Wiederaufbau
vollzog, Groll, der schließlich aber auch nur die Folie abgab für eine viel
weiter reichende Empörung über den historischen Prozess als solchen in seinem
nicht wiedergutzumachenden objektiven Verlauf. Bei Améry wie auch später bei
Sebald steht die Geschichte selbst unter Anklage. Die Geschichte als Schlachtbank
und degoutantes Leichenschauhaus. Doch während Améry noch im ketzerischen Ton
des unmittelbar Betroffenen im Stile eines selbsternannten Reaktionärs sich
empörte, weicht dieses Kämpferische beim nachgeborenen Sebald dem unvermischten
Klang der Klage und einem Ernst, der sich noch die letzten Spuren von Ironie
verbietet. Die Melancholie, die Freud bekanntlich ins Pathologische verwies und
strikt von der „normalen“ Trauer unterschied, ist von dieser im Gegenteil nicht
mehr zu trennen in den Büchern Sebalds, dieses modernen Meisters der Wehklage,
weil der Katastrophe in Permanenz, zu der die Geschichte der Zivilisation
entartet ist, auf der affektiven Ebene eine Trauer entspricht, die ins Uferlose
geht. Eine Trauer, die mit ihrer Arbeit nicht mehr fertig wird, weil sich diese
in Wirklichkeit auf eine immer unüberschaubarere Menge von Dingen erstreckt,
die der unübersehbar sich ausweitenden Zerstörung ununterbrochen anheimfallen.
Und Sebalds Schriften, vor allem die erzählenden späteren, Die Ausgewanderten, Schwindel.Gefühle, Die Ringe des Saturn und Austerlitz,
sind ja nicht zuletzt Memorabilien, die das Gedächtnis bewahren wollen dieser
durch unaufhörlichen Verschleiß, Verlust und Vergessen bedrohten Dinge,
Menschen, Bücher. Gewiss genießt darin das Schicksal des jüdischen Volkes
gleichsam Priorität in der Rangstufe des zu Gedenkenden, aber auch vom Los
eines uralten Ulmenwaldes, von einer Baumseuche plötzlich dahingerafft, ist da
die Rede, von Freunden und Kollegen, die spurlos verschwanden ebenso wie von bibliographischen
Kuriositäten, versinkenden Städten und aufgegebenen Produktionszweigen, von
einem monomanisch im Labyrinth seiner ephemeren Entwürfe verstrickten
Modellbauer und Visionär, von luminösen Fischkadavern und einer dementen
chinesischen Wachtel, von der Agonie versklavter Völker und von der
industriellen Tötung der Seidenraupen als Teil einer enzyklopädisch angelegten
Fibel über die „Naturgeschichte der
Zerstörung“ (Sebald). Die Arbeit an ihr, die den Schriftsteller schließlich
bis zu seinem eigenen, viel zu frühen Tod beschäftigen sollte, hob an im Grunde
schon mit seinen ersten literaturwissenschaftlichen Studien zur modernen
österreichischen Literatur. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung, die
beiden Essaybände Beschreibung des
Unglücks und Unheimliche Heimat,
zählen längst zu den Standardwerken der Germanistik des 20.Jahrhunderts. Die
Sachkompetenz und stilistische Brillanz des Autors, die bereits diesen Titeln
eine über den engen akademischen Kreis hinausweisende Leserschicht einbrachten,
erklären ihren Erfolg aber doch nur zum Teil. Die fantasievolle, sozusagen
rhizomatische Vorgehensweise Sebalds, die scheinbar Zusammenhangloses in ebenso
überraschenden wie nachvollziehbaren Bezügen über Zeit- und Gattungsschwellen
hinweg miteinander verbindet, hat ebenfalls ihres dazu beigetragen. Und
schließlich die Persönlichkeit Sebalds selbst: Dass hier nämlich einer, indem
er die historische Krise eines Volkes und ihren Niederschlag in der Literatur
reflektiert, auch über sich selbst und seine eigene Verunsicherung, seine
eigene krisenhafte Existenz Auskunft gibt. Mimetisch hat man dieses Verfahren
genannt, das man ebenso gut identifikatorisch hätte bezeichnen können. Denn
Einfühlungsvermögen und Identifikation gehen Hand in Hand bei diesem Autor, der
seine Essayistik, sieht man von den wenigen polemischen Aufsätzen wie jenen
kontovers besprochenen über Alfred Andersch ab, gleichsam betrieb als
Ahnenforschung wahlverwandter Geister. Empathisch wie seine Herangehensweise an
geschätzte Schriftstellerkollegen auch sein Zugang zur Geschichte. An
derjenigen Österreichs interessiere ihn, bemerkt er im Vorwort von Unheimliche Heimat, ihre „traumatische Entwicklung von dem weit ausgedehnten
Habsburger-Imperium zur diminutiven Alpenrepublik“. Und es ist eben dieselbe
„traumatische Entwicklung“, der er in den Biographien großer Einzelgänger,
eines Robert Walser, Bruce Chatwin oder Peter Altenberg, über die er so
glänzend zu schreiben vermochte, nachzuspüren versucht, insofern jedes dieser
Leben einen fortschreitenden Gebietsverlust, einen schöpferischen Raubbau an
den eigenen Ressourcen bedeutet hat.
Melancholisches Mitgefühl leitet daher den Blick dieses
gestrengen Phänomenologen, leitet, aber trübt ihn nicht. Vor dem Abdriften ins
Trüb-Sentimentalische bewahrt seine Melancholie ihre konkrete, historische
Perspektive und eine intellektuelle Disziplin, die in der Literatur heute
ihresgleichen sucht. Der Ambivalenz jedes großen literarischen Unternehmens,
das sich vorzugsweise an Zustände und Leidenschaften heftet, die sie vorgeben
muss, beseitigen zu wollen, entgeht freilich auch Sebald dadurch nicht. Er ist
sich ihrer schließlich selber durchaus bewusst, etwa wenn er nach den
versteckten Motiven seiner Forschungsinteressen fragt und sie schließlich in
dem Trauma seiner Kindheit gefunden zu haben meint. Einer Kindheit, die, wie er
zugibt, zwar relativ glimpflich verlief „in
einer von den unmittelbaren Auswirkungen der sogenannten Kampfhandlungen
weitgehend verschonten Gegend“. Dennoch sei es ihm „bis heute, wenn ich Photographien oder dokumentarische Filme aus dem
Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm ab und als fiele von dorther,
von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich,
unter dem ich nie ganz herauskommen werde.(LuL)Kaum etwas, schreibt er an anderer Stelle, verbinde er mehr mit
dem Wort Stadt „als Schutthalden,
Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man in die leere Luft sehen konnte“(A),
weshalb eben diese Bilder der Zerstörung „perverserweise,
und nicht die ganz irreal gewordenen frühkindlichen Idyllen, (...) so etwas wie ein Heimatgefühl in mir
hervorrufen.“ (LuL) Was war, lebt allein in den Nachwehen fort, die
Gegenwart ist in der Vergangenheit nur als Phantomschmerz, welcher Erinnerung
konstituiert, überhaupt greifbar.
Dass die Traurigkeit der Melancholie grundlos sei, ist eine
psychologische Binsenweisheit und meint, dass nicht die Realität des Objekts,
sondern die Tiefe der Empfindung seines Verlustes ausschlaggebend sei für die
Herausbildung der Krankheit, die Identifikation des Melancholikers mit dem
verlorenen Gegenstand. Bemerkenswert an Sebalds persönlichem Fall aber ist,
dass seine Schwermut eine kollektive Amnesie zum gegenstandslosen Gegenstand
hat. Mehr als von der inneren Gestimmtheit des Melancholikers erfährt man daher
in diesem Werk von den gesellschaftlichen Determinanten des persönlichen
Curriculum, das für gewöhnlich einen Leidensweg verzeichnet, dessen Lauf sich
zurückverfolgen lässt manchmal bis in weit hinter die eigene Geburt
zurückreichende, kollektive Schuldzusammenhänge. Über die Komplexität solcher
Zusammenhänge von kollektivem Verhängnis und individuellem Schicksal,
Zeitgeschichte und Biographie vermitteln Sebalds akribisch recherchierte Texte
und Dokumente so manches. Wie auch über die Notwendigkeit der Empörung.
Empörung als Zurückweisung jenes Teils der eigenen Leidensgeschichte, der nicht
endogen ist, und für den der Kliniker die Gründe nicht in der Psychologie des
Patienten suchen muss, sondern in der Sozialpathologie des gesellschaftlichen Umfelds.
In seiner späten Prosa weitet Sebald darum seine Spurensuche auch auf das
außerliterarische Feld aus, stilistisch durch die Verschmelzung von Essay,
Autobiographie und Reisetagebuch. Die selbstdiagnostizierte Schwermut verweist
auf eine Zerstörung, deren Spuren der Autor nicht nur in anderen literarischen
Werken ortet, sondern jetzt nahezu überall, in den Städten und Landschaften,
die er in der Manier eines promeneur
solitaire durchwandert, in den Gesichtern und Geschichten der Menschen, die
er dabei trifft, in den Tieren, die sie jagen und essen, oder die sie sich
halten, um sie andern, noch gewinnbringenderen Zwecken zuzuführen, in den
Erzählungen und Familienromanen jüdischer Emigranten, in Geschichtsbüchern,
Bildern und Gebäuden, in alten Folianten und Fotographien. So umfassend ist die
Zerstörung, von der er Zeugnis ablegt, dass hier der antizivilisatorische
Reflex manchmal ans Halluzinatorische grenzt. Kein anderer deutscher Autor hat
die Verwüstungen der Zivilisation drastischer vorgeführt, keiner die Atmosphäre
der Hysterie, in der sich die Historie und der Untergang der Humanitas
entfalten, in bedrückenderen Bildern einzufangen gewusst. Mit Ausnahme
vielleicht von Rolf Dieter Brinkmann, dessen paranoiden Pop allerdings bei
Sebald eine mehr gebändigte Sprache gegenübersteht, die in ihren lyrischen
Passagen manchmal opernhafte Töne anschlägt. Die Ringe des Saturn, das ist der schwermütige Zwilling des
maniakalischen Rom. Blicke. Ebenso poetisch, am sinnlichen
Detail orientiert wie dieser, dabei ästhetisch nicht weniger kompromisslos,
nicht weniger radikal oder extremistisch, aber ins entgegengesetzte Extrem
ausschlagend. Ob wir aber mit Brinkmann durch die von wimmelnder Verrottung
gezeichneten, lärmenden Vorstädte Roms wandern, oder mit Sebald in der
bedrohlichen Stille der stillgelegten Industrielandschaften Suffolks, zu Fuß
selbstverständlich, immer zu Fuß und im Falle des Letzteren natürlich mit
verschlissenem Schuhwerk, immer werden wir dabei auch aus nostalgisch
verbrämten Touristenträumen gerissen und brutal mit den Realien der Gegenwart
konfrontiert. Und zwar buchstäblich und bildlich, denn beide Textkonvolute sind
ja reich bebildert. Dass die Nahaufnahme, der Blick aufs Detail die
abgelichtete und beschriebene Realität zuweilen ins Monströse verzerrt, gehört
dabei unzweifelhaft zur Strategie des ästhetischen Verfahrens beider Autoren.
Die Wirklichkeit erscheint eben um so horrender im Zoom darauf. So
beispielsweise:
Ich trinke Bier in
kleinen Schlucken, stehe da weiter mit dem Weihnachtskuchen im Arm, und ich
begreife, daß es tatsächlich ein Drecksvolk ist mit ihren Kellnern und
Frisören, ihren Verhaltensweisen, die arrogant sind, wenn sie sich bedienen
lassen können, mit ihrer kleinkrämerhaften Agilität, ihrer Comichaften Unruhe,
ihrem Kinder-Fetischismus und ihrem sogenannten „leichteren“ Leben, das nichts
anderes heißt als verwohnen, zersiedeln, auswohnen, mit ihren Papst- und
Madonnenbildern, mit ihrer blödsinnigen römischen Vergangenheit, die nichts als
Ruinen sind, und mir wird das alles an winzigen Einzelheiten klar, an großen
Löchern in den Wänden aus Pappe an der Treppe und den geschniegelten Frisuren
der Leute, „dolce far niente“ am Arsch, (...) „der liebliche Süden“: ein
Autofriedhof. Dann Steine, Wäsche,
was sonst noch? Elektrische bunte Lichter, die mechanisch an und ausgehen. „Bene“? In Ruinen sind amerikanische
Automaten installiert. Was geht das mich an, ich bin für die Verrottung nicht
verantwortlich, ich habe auch keinen romantischen Blick dafür. Ich hau ab. Davon habe ich genug gesehen.
(Rolf Dieter Brinkmann)
Oder so:
Unbegreiflich erschien
es mir jetzt, als ich nach Lowestoft hineinging, wie es in einer
verhältnismäßig so kurzen Zeit so weit hatte herunterkommen können.(...)
Gleich einem unterirdischen Brand und dann wie ein Lauffeuer hatte der Schaden
sich fortgefressen, Bootswerften und Fabriken waren geschlossen worden, eine um
die andere, bis für Lowestoft als einziges nur noch die Tatsache sprach, daß es
den östlichsten Punkt markierte auf der Karte der britischen Inseln. Heute steht in manchen Straßen der Stadt
fast jedes zweite Haus zum Verkauf, Unternehmer, Geschäftsleute und
Privatpersonen versinken immer weiter in ihren Schulden, Woche für Woche hängt
irgendein Arbeitsloser oder Bankrotteur sich auf, der Analphabetismus hat
bereits ein Viertel der Bevölkerung erfaßt, und ein Ende der stetig
fortschreitenden Verelendung ist nirgends abzusehen. Obgleich mir dies alles bekannt war, bin ich nicht vorbereitet gewesen
auf die Trostlosigkeit, die einen in Lowestoft sogleich erfaßt, denn es ist
eine Sache, in den Zeitungen Berichte über sogenannte unemployment blackspots
zu lesen, und eine andere, an einem lichtlosen Abend durch Zeilen der
Reihenhäuser mit ihren verschandelten Fassaden und grotesken Vorgärtchen zu
gehen und, wenn man endlich angelangt ist in der Mitte der Stadt, nichts
vorzufinden als Spielsalons, Bingohallen, Betting Shops, Videoläden, Pubs, aus
deren dunklen Türöffnungen es nach saurem Bier riecht, Billigmärkte und
zweifelhafte Bed&Breakfest Etablissements mit Namen wie Ocean Dawn,
Beachcomber, Balmoral Albion und Layla Lorraine. (RdS)
Es sind Stellen wie diese, die Susan Sontag vielleicht zu
der defätistischen Bemerkung veranlasste, Sebald vermittle in seinen Büchern
etwas von dem Lebensgefühl eines Abendländers am Ende der abendländischen
Zivilisation. Und wirklich erscheint der Okzident darin als Flucht- und
Endpunkt gleichermaßen der allgemeinen zivilisatorischen Entwicklung.
Auf hunderten von registrierwütigen Seiten (und wie viele
müssen es gewesen sein, die der eigenen unermüdlichen Selbstkorrektur zu Opfer
fielen?) reihen sich die Bilder vom Verfall, von der ökonomischen Implosion,
dem kulturellen und sozialen Niedergang. Vom kolonialen Fantasma ist übrig
geblieben nur das leere Gehäuse einer imperialen Villa aus dem Fin de Siècle,
von den bengalischen Feuern des Fortschritts, die ausgehend von den
europäischen Ursprungsländern des Kapitalismus den gesamten Globus erleuchten
wollten, nichts als Schutt und graue Asche. Staub, von dem der Maler Aurach in Die Ausgewanderten behauptet, er wäre
ihm das Liebste auf der Welt, ist er doch das Einzige, was sich noch vermehren
lässt. Beißender Staub, der Joseph Conrad den Atem verschlug in den
Steinbrüchen Kongos, in denen das unterworfenen Volk sich zu Tode schuftete,
und den Sebald auf Conrads Spuren wiederfinden wird in der Luft der belgischen
Hauptstadt mit ihren düsteren, von der nicht bewältigten Schuld gezeichneten
Einwohnern.
Wem das Schreckliche so nahe rückt, der muss es nicht mehr
in der Weite suchen. Sebald jedenfalls genügte schon ein kleines Hotelzimmer in
einer mitteleuropäischen Stadt, um direkt ins Herz der Finsternis vorzustoßen
und Exemplarisches über unsere Gegenwart, wie er sie nun einmal vorfand, zu
sagen. (Und man kann die folgende Stelle nicht lesen, ohne mit Entsetzen an
Sebalds eigenen gewaltsamen und anonymen Tod zu denken, den er auf der Straße
fand, in seiner Wahlheimat England immerhin, wie übrigens auch Brinkmann):
Wie oft, dachte ich mir, bin ich nicht schon so in einem
Hotelzimmer gelegen, in Wien, in Frankfurt oder in Brüssel, und habe, die Hände
unterm Kopf verschränkt, nicht wie hier auf die Stille, sondern mit wachem
Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs gehorcht, die zuvor schon stundenlang
über mich hinweggegangen war. Das also
ist, habe ich mir dann immer gedacht, der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben über die ganze Breite der
Städte kommen die Wellen daher, werden lauter und lauter, richten sich weiter
und weiter auf, überschlagen sich in einer Art Phrenesie auf der Höhe des
Lärmpegels und laufen als Becher aus über Asphalt und die Steine, während von
den Stauwehren an den Ampeln bereits neue Wogen hereinrauschen. Ich bin im Verlauf der Jahre zu dem Schluß
gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und
das uns langsam zugrunde richten wird, so wie wir das langsam zugrunde richten,
was da war lange vor uns. (SG)
Es gibt zu dieser Stelle im Werk Sebalds eine andere, die
sie ergänzt und weiterdenkt. Sie hält in einer ausgedehnten Bewegung, ähnlich
einer langen und langsamen Kamerafahrt, den Blick des Reisenden aus dem Fenster
eines Flugzeugs auf das Land unten fest. So, aus der Vogelperspektive
betrachtet, erscheint es wieder weit und der im Zoom fokussierte Horror in
luftiger Höhe aufgehoben in einer Schwerelosigkeit, Leichtigkeit ohnegleichen.
Das Meer ist nun nicht mehr der ununterbrochen brandende Verkehr, sondern wird
am Horizont sichtbar als grün schimmernder Dunstkreis so wie dem Auge des
Astronauten der ganze Planet vielleicht in der unvorstellbaren Entfernung, die
die von allen guten Geistern verlassene Erde wieder sich selbst überlässt:
Nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. Gleich ob man über Neufundland fliegt oder
bei Einbruch der Nacht über das von Boston bis Philadelphia reichende
Lichtergewimmel, über die wie Perlmutt schimmernden Wüsten Arabiens, über das
Ruhrgebiet oder den Frankfurter Raum, es ist immer, als gäbe es keine Menschen,
als gäbe es nur das, was sie geschaffen haben und worin sie sich verbergen. Man sieht die Wohnstätten und die Wege, die
sie verbinden, man sieht den Rauch, der aufsteigt aus ihren Behausungen und
Produktionsstätten, man sieht die Fahrzeuge, in denen sie sitzen, aber die
Menschen selber sieht man nicht. (...) Wenn wir uns so aus der Höhe betrachten,
ist es entsetzlich, wie wenig wir wissen über uns selbst, über unsern Zweck und
unser Ende, dachte ich mir, als wir die Küste hinter uns ließen und
hinausflogen über das gallertgrüne Meer. (RdS)
Zitate aus:
UH = W. G. Sebald, Unheimliche
Heimat, Salzburg/Wien, 1991
SG = W. G. Sebald, Schwindel.
Gefühle, Frankfurt am Main, 1994
A = W. G. Sebald, Die
Ausgewanderten, Frankfurt am Main, 1994
RdS = W. G. Sebald, Die
Ringe des Saturn, Frankfurt am Main, 1995
LuL = W. G. Sebald, Luftkrieg
und Literatur, München/Wien, 1999
Das Zitat von Rolf Dieter Brinkmann ist entnommen dem Buch: Rom. Blicke,
Hamburg 1991
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