Erschienen in Ausgabe: No 50 (4/2010) | Letzte Änderung: 23.03.10 |
von René Steininger
Marlen Haushofer ist 48 Jahre alt, als ihr 1968 für den
Erzählband Schreckliche Treue, zwei
Jahre vor ihrem Tod, der Österreichische Staatspreis verliehen wird. Obwohl
preisgekrönt, geraten Buch und Werk der Autorin bald in Vergessenheit, um erst
in den 1980er Jahren im Zuge der Frauenbewegung wieder entdeckt und in ihrem
Rang bestätigt zu werden. Eine Wiederentdeckung, die allerdings nicht mit
modischer Aktualität verwechselt werden darf. Das grundpessimistische und
introvertierte Werk Marlen Haushofers war anachronistisch in der Zeit seines
Entstehens, zwischen Wiederaufbau und Studentenbewegung, und ist es heute im
medialen Zeitalter der Globalisierung erst recht. Der Hang der Autorin zum
Rückzug, ihre Verweigerungshaltung und ihre Vorliebe für alltägliche Stoffe,
sind im Ansatz sicher bierdermeierlich, aber modern in dessen Radikalisierung.
Die Abkehr, die schließlich eine totale war, verweist auf ein totalitär
gewordenes Ganzes, dessen Kainsmal alle Figuren der Marlen Haushofer tragen als
Zeichen ihrer Deformationen und ihres Leidens an der Zeit. Wunden, die vom
Gesellschaftskörper herrühren, aber ins Privateste hinein reichen, und die dort
unauslöschliche Spuren hinterlassen. Die Spuren sind sichtbar und können
benannt werden, die meist weiblichen Träger jedoch bleiben anonym, die
strukturelle Aggression hat beharrlich abgetragen, was an ihnen autonom war,
sie unkenntlich gemacht. Ein Kaffeekränzchen à la Haushofer, es hört sich so
an:
„Wir jedenfalls werden im Spital sterben, von unseren
Kindern wird uns keines pflegen. Alle Frauen sterben im Spital.“ –„Das stimmt“, gab der Sopran zu, „wenn es
soweit ist, wird man es eben aushalten müssen.
Mir wäre jeder Tag recht. Was hat man
denn als Frau schon vom Leben.“ (F)
Die so reden, sind alt und wie man so sagt gezeichnet, aber
von der Abwesenheit des Lebens in ihrem Leben, nicht vom Gewicht ihres
Schicksals. Die typischen Helden der Haushofer sind natürlich keine, sie
bleiben in der Archaik ihrer Charakteristik seltsam unbestimmt, andere
verbergen ihre Identität hinter Spitznamen, säkularen Pseudonymen gleichsam,
die dem profanen Alltag korrespondieren. Wieder andere sind tatsächlich
namenlos wie die Protagonistin in Haushofers bekanntestem Buch Die Wand. Oder wie die vielleicht
radikalste Figur, die sie schuf, der ausnahmsweise männliche Protagonist in der
Erzählung Die Stechmücke. Ein
Leidender auch er selbstverständlich, der vielleicht nicht ganz zufällig an den
Chandos von Hofmannsthal erinnert, dessen Schwermut allerdings auch nicht mehr
den Zug ins Grandiose hat, der den Neurastheniker des Wiener Dandy so
unwiderstehlich macht. Kein großer Einsamer also, sondern ein Exempel, hinter
dessen banaler Geschichte die gesellschaftliche Mechanik um so unerbittlicher
hervortritt. Bezeichnenderweise setzt sein Lebensbericht darum mit der
Schulzeit, nicht der Kindheit ein. Als
Kind weinte er jedesmal, wenn ein Mitschüler geschlagen wurde (S), heißt es
da gleich im ersten Satz. Kinder, neben den Tieren für Marlen Haushofer, die
ihre schriftstellerische Karriere mit Kinderbüchern begann, offenbar der
leuchtende Kontrapunkt zur Welt der Erwachsenen. Wenn sie von ihren
Erziehungsberechtigten nicht buchstäblich in den Tod getrieben werden wie das
Mädchen Stella in Wir töten Stella,
so endet jedenfalls mit ihrem Eintritt in den Sozius ihr kurzer Aufenthalt im
Paradies und es beginnt ihr Leben als Patient. Man kann sich, wie es geschah,
über den naiven Rousseauismus der Autorin mokieren, in der Luzidität seiner
gesellschaftlichen Diagnose ist er darum nicht weniger entlarvend. Es geht um
Gesellschaftskritik, um den Nachweis ihrer Genese aus der Gewalt. Vorgeführt
jedoch vor einem scheinbar ahistorischen Hintergrund, nicht aus der Sicht der
Sieger also, sondern am Beispiel der Verletzlichsten, jener, die ihrem Einfluss
am wehrlosesten ausgeliefert sind. Männer, die von ihren Frauen Besitz
ergreifen, Mütter, die männlichen Verhaltensmustern folgend nach ihren Kindern,
und die Gesellschaft, die nach ihren Individuen greift. Und die Opfer, die die
Flucht ergreifen durch Mord und Selbstmord. Oder die den gesellschaftlichen
Druck durch Passivität zu unterlaufen suchen und sich in ihren privaten
Fluchtversuchen verlaufen, aus dem Haus in den Garten, aus der Stadt aufs Land
und vom Land, dem mörderischen Dorfidyll, weiter in die Landschaft hinein.
Robinsonaden hat man ihre Bücher darum genannt, ein Vergleich, der so weit
hergeholt nicht ist, wenn man den Kannibalismus auf der Isla Más a Tierra in
Rechnung stellt. Allerdings fehlen in den Büchern der ehemaligen
Klosterschülerin und HJ-Elevin der missionarische Eifer und jemand, den man
bekehren könnte. Ein Kind ist kein „edler Wilder“ im Kleinformat und die
Isolation in vitro mit Kuh und Katze garantiert noch kein Goldenes Zeitalter.
In Die Wand, dieser
postapokalyptischen Phantasmagorie, führt die Umkehrung der „natürlichen“
Ordnung – ein Mann muss sterben, weil er Tiere getötet hat - schließlich nur
zur Einsicht in die Unumkehrbarkeit der historischen Entwicklung: Die Frau, die
den Tieren zuliebe zur Mörderin wurde, begreift, dass auch sie alleine bleiben
muss, weil die Wand ihrer denaturierten Natur sie unwiderruflich vom Lebendigen
trennt. Der Mensch, das reflektierende, aus der Art geschlagene Tier, stürzt am Tier vorbei in den Abgrund(W).
In der Erzählung Die Stechmücke tut
er das nicht nur im metaphorischen Sinn. Beim Versuch, eine Mücke zu retten,
fällt der lebensmüde Kriegsveteran aus dem Fenster und bricht sich den Hals. Um
mit den Tieren zu reden, bedarf es eines tieferen, eigentlich unmenschlichen,
vorsprachlichen Mitgefühls. Es bedarf jener „ungeheuren
Anteilnahme“(Hofmannsthal), die den verstummten Lord Chandos die Agonie eines
Volks von Ratten mimetisch nachempfinden lässt.
Marlen Haushofers Figuren besitzen diese Gabe, heller zu
sehen und zu hören als die andern, die Menge der blind Bewegten. Hierin mag
auch das viel gescholtene politische Desengagement der Autorin seine Wurzel
haben. Auch wo sie wie in der genannten Erzählung Männer in das narrative
Zentrum rückt, sind es meist solche, die in der Gesellschaft der 1950er und
frühen 60er Jahren, in denen die Texte entstanden sind, als „weibisch“ oder
efeminiert gegolten haben müssen. Schmerzensmänner, Sensitive. Vor allem
Männer, die sich weigern in den Konkurrenzkampf der Nachkriegszeit
einzugreifen. Deren Greifinstinkte versagen angesichts des still erwarteten und
in seinen Auswirkungen im Kleinsten bereits antizipierten großen Fiaskos. Alt
oder früh vergreist, sind sie allesamt Unproduktive, denen noch die
Befriedigung der vollbrachten Leistung versagt bleibt:
Er war jetzt sehr
müde, merkwürdig müde, vielleicht würde er noch einen Sprung in den Park tun
und ein paarmal tief atmen.(PaM)
Es liegt darin auch ein Stück männlicher Autokritik, in dem
sich das technische Allmachtsimago selbst reflektiert, das die
gesellschaftlichen Paradigmen und Praktiken in den fortgeschrittenen
Industrienationen bis heute nahezu uneingeschränkt beherrscht.
Manchmal, wenn sie gar nichts mehr im Griff haben, müssen
diese Männer fallen oder werden von ihrer Schöpferin fallen gelassen, damit an
die Stelle ihres blindwütigen Handelns Erkenntnis treten kann. Ihr Scheitern
führt sie dann an die Schwelle, wo das Wissen zur Vision sich ausweitet und
über das Feld des Zweckrationalen hinaus den verfemten Teil ihres patriachalen
Erbes miteinschließt: das animalische und vegetative Leben. Die Tiere, die
sterben müssen, und deren Tod, weil sie als Totem ausgedient haben, nichts mehr
festhält als das Fleisch, das wir essen. Bäume und Blumen, die wir pflanzen, um
sie als Holz zu verarbeiten oder als Schnittblumen zu bewundern. Die Blumen der
Haushofer sind die basalsten: Tulpe, Rose und Lilie. Blumiges Ornament einer
Hausfrau, um den Geruch der Schlachthöfe, die Pestilenz der Geschichte aus dem
Eigenheim zu vertreiben? Oder ökologisches Refugium einer passionierten
Gärtnerin, die ihre Gartenarbeit als vitalen Gegensatz begreift zur
entwurzelten männlichen Botanik, die das, was sie klassifiziert, erst der
Biosphäre entziehen muss? Es verheißt jedenfalls nichts Gutes, wenn die Blumen
zum Bewußtsein erweckt werden:
Wie jeder Mensch
versuchte er zu vergessen, aber je mehr er sich bemühte, desto heftiger
bedrängten ihn die Bilder, die jetzt in seinem Hirn zu wuchern begannen.(...)Tulpen
konnten nicht leiden, zumindest wußte man nichts darüber, sie schrien nicht und
bluteten nicht, wenn man sie zertrampelte. Nein, man wußte gar nichts darüber, es gab Schallwellen, die der
Mensch nicht hören konnte. Einen
Augenblick lang erlag er der Vision einer Welt, die von den Schmerzensschreien
der Blumen, Gräser und Bäume widerhallte. (ST)
In ein wahrhaft futuristisches Bild fixiert hat diese Vision
übrigens ein anderer, der englische Schriftsteller und frühere Kampfpilot Roald
Dahl, dessen erste Erzählungen nach 1945 aus Albtraumprotokollen im Rahmen
einer psychoanalytischen Therapie entstanden und der den umgekehrten – man
möchte sagen - den gesünderen Weg vom Schriftsteller für Erwachsene zum
Kinderbuchautor beschritt. Eine dieser berühmt gewordenen Ungewöhnlichen Geschichten erzählt von einem komischen Genie, einem
mad scientist, wie der englische
Prototyp des verrückten Erfinders heißt, der die Wissenschaftsgeschichte so
schattenhaft begleitet wie der Melancholiker den allgemeinen
Zivilisationsprozess. Klausner, so der Name des Sonderlings, entwickelt einen
Apparat, mit dessen Hilfe er in den Lautkosmos der Pflanzen vordringt, in ein Gebiet, in das sich Menschenohren noch nie gewagt hatten und eigentlich auch
nicht wagen durften. Wer einen Garten anlegt, der zieht damit auch eine Grenze.
Nicht nur die Kleingärten nach Schreber haben diesen Inselcharakter, aber sie
natürlich besonders. Sie rühren ans Herz der kleinbürgerlichen Utopie von der
„Insel der Seligen“. Solche Heimeligkeit hat ihren Preis, den Klausners
Wundergerät offenbart und seinem schüchternen Erfinder drastisch vorgeführt
wird. Es zeigt sich, dass es keine „harmlosen“ Tätigkeiten gibt, kein Tun ohne
Fallstricke, und dass sich auch im Schneiden von Rosen die Apokalypse
ankündigt. Plötzlich hörte Klausner einen
Schrei, einen entsetzlichen, durchdringenden Schrei.(...) Er gellte genau in dem Augenblick, als der
Rosenstrauch durchgeschnitten wurde.Das Experiment bestätigt sich an einem
Gänseblümchen, um zum Abschluss noch an einem Baum vorgenommen zu werden:
Klausner stülpte den Kopfhörer über die Ohren und
schaltete den Apparat ein. Er lauschte
ein Weilchen dem vertrauten schwachen Summen;
dann ergriff er die Axt, stellte sich breitbeinig hin und hieb sie mit aller
Kraft dicht über dem Boden in den Baumstamm.
Die Schneide drang tief in das Holz und blieb dort stecken. Im Augenblick des
Aufpralls hörte er einen höchst merkwürdigen Laut.
Es war ein unbekannter Laut, anders als alles, was er jemals gehört hatte, ein
rauhes tonloses Dröhnen, ein brummendes, tiefes Ächzen, nicht schnell und kurz
wie der Aufschrei der Rosen, sondern langgezogen wie ein Seufzen. Am lautesten war es, als die Axt aufschlug,
dann wurde es nach und nach schwächer, bis es schließlich verstummte. Entsetzt starrte Klausner auf die Stelle, wo
die Axt in das hölzerne Fleisch des Baumes gedrungen war. Er umfaßte mit beiden Händen den Griff der Axt, zog die
Schneide behutsam aus dem Stamm und warf das Werkzeug auf die Erde. Seine Finger tasteten über den Riß, der im
Holz klaffte; er versuchte, die Ränder
zusammenzupressen, um die Wunde zu schließen, und dabei murmelte er immer
wieder: „Baum...ach, Baum...Es
tut mir leid.(L)
Der Sturz aus dem Fenster
bleibt dem gequälten Helden aber dann doch erspart: Er fällt stattdessen der
Medizin in die Hände. Selbstmord ist keine Kategorie in der sarkastischen
Sience-fiction Roald Dahls. Vielleicht auch keine der englischen Literatur,
aber der Literatur Österreichs, wo das Schuldbewusstsein immer nur mit
erstickter Stimme sprechen durfte und sogar nach der großen Katastrophe
hellhörig verstrickt blieb in der systemimanenten Hörigkeit.
Als Marlen Haushofer
50-jährig an Krebs starb und sich mit demselben lakonischen Pessimismus, der
ihre Bücher kennzeichnet, in ihr eigenes Ende schickte, wollten viele darin
eine Abdankung sehen. Dass hier eine ihr Talent nicht ausgeschöpft habe, hieß
es da etwa an repräsentativer Stelle. Aber schließlich gibt es vielleicht
subtilere Formen der Affirmation als den ruhelosen Vitalismus der Tüchtigen.
Nicht Fallsucht oder Abenteuerlust, wohl aber eine Art Todesbereitschaft als
Solidarität mit dem unsicheren Leben. Die Figuren der Marlen Haushofer machen,
so viel ist wahr, einen oft maßlosen Gebrauch von dieser Freiheit, schutzlos zu
sein.
Zitate aus:
Marlen Haushofer
(F) = Furcht, in: Schreckliche Treue, München, 2002
(PaM) = Porträt
eines alten Mannes, ebenda
(S) = Die
Stechmücke, ebenda
(W) = Die Wand, München, 2001
Roald Dahl
(L) = Der
Lautforscher, in: ...und noch ein
Küsschen, Reinbeck bei Hamburg, 2004
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