Erschienen in Ausgabe: No 79 (9/2012) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Rainer Westphal
Es
ist schon erstaunlich, wie der Altkanzler Helmut Schmidt in der Talk-Show von Frau
Maischberger mit seinen 93 Jahren zu dem Thema Europa fundiert Stellung nehmen
konnte.
Der
Altkanzler hat darauf hingewiesen, dass die eingetretene Entwicklung als außerordentlich gefährlich zu bezeichnen ist, und äußerte sich skeptisch, was die
Bewältigung der Krise betrifft. Frau Dr. Merkel bescheinigte er hohes
taktisches Geschick. Die notwendige strategische Ausrichtung würde aber fehlen
(1).
Er
machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass eine der Hauptursachen für die
kritische Situation in der Euro-Zone darin zu sehen ist, dass die vorgesehene
EU-Verfassung nicht realisiert werden konnte, und der nachfolgende
Lissabon-Vertrag keinesfalls als ein Ersatz zu bezeichnen sei. Leider ließ er
offen, dass die so genannte Europäische Verfassung daran gescheitert ist, dass
eine Bürgerbeteilung und eine entsprechende Diskussion nie stattgefunden hat, die
dazu geführt hätte, dringende Korrekturen vorzunehmen. Stattdessen wurde ein
Papier, auch Lissabon-Vertrag genannt, erstellt, um hinter den Rücken der
Bürger wichtige Vorhaben, abgeleitet aus der abgelehnten EU-Verfassung, doch
noch durchzusetzen.
Es
gehört keineswegs zu den Sternstunden der Demokratie in Deutschland, dass ein
so genanntes Parlament, auch Bundestag genannt, einer EU-Verfassung und einem
Lissabon-Vertrag ohne ausreichende Bürgerbeteiligung zugestimmt hat.
Wenn
man bedauert, dass im Jahre 2004 mittels Referendum in Frankreich und in den
Niederlanden ein Scheitern der Verfassung herbeigeführt wurde, dann sollte man
sich auch näher mit den Ursachen beschäftigen.
Es
würde im Rahmen dieses Kommentars zu weit führen, auf die einzelnen Artikel des
Vertrages einzugehen. Es lässt sich feststellen, dass aus dem Vertrag eine
geistige Grundhaltung erkennbar wird, die man als eine gewisse Abfälligkeit
gegen das Volk durch eine so genannte Elite bezeichnen kann. Allerdings sollte
man nicht so weit gehen, dass die konstant geistigen und wirtschaftlichen
Eliten, die abfällige Grundhaltung soweit getrieben hat, wie Immanuel Kant mit
seiner Aussage gegen das Volk als Kollektivmasse. Kant äußerte sich gelegentlich über das Volk
als „den Pöbel und die Schafe“.
Allerdings erfordert eine Beurteilung dieser Aussage die Fähigkeit, sich in die
Zeit zurück zu versetzen, in der vom gebildeten Volk keine Rede sein konnte.
Man sollte sich also davor hüten, Kant in dieser Frage falsch zu
interpretieren.
Es
ist erwähnenswert, dass wichtige Politiker wie Mitterand, Schmidt, Helmut Kohl
und Valery Giscard d`Estaing einer geistigen Grundhaltung eines Ernst Jünger
sehr nahestanden, welche unter anderem die Akzeptanz einer neoliberalen
Auffassung begünstigte, und die Bedürfnisse der Bevölkerung, welche nicht den
Eliten zugeordnet werden können, ignorierte. Es dürfte erwähnenswert sein, dass
Ernst Jüngerim Jahre 1985 das Große
Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband verliehen wurde. Der
französische Staatspräsident Mitterrand und der damalige deutsche Bundeskanzler
Kohl ließen es sich nicht nehmen, 1993 Jünger persönlich im Stauffenbergschen
Forsthaus in Wilfingen aufzusuchen. Kritiker werfen Jünger seinen
anspruchsvollen Nationalismus und seinen romantischen Herrensinn vor. Aufgrund
seines radikalen, nationalistischen, anti-demokratischen und elitären Frühwerks
gehen einige sogar so weit, ihn als intellektuellen Wegbereiter des
Nationalsozialismus zu bezeichnen. Von der nationalsozialistischen Ideologie
distanzierte sich Jünger in den frühen 1930er Jahren wegen des als geistlos
empfundenen Totalitarismus der NS-Massenbewegung.
Man
kann aber davon ausgehen, dass diese Eliten wie diese von Mitterand und Kohl
verstanden wurden, in erster Linie dem Finanzadel
anzugehören hatten. Demnach wurde lediglich einer Kaste eine Wertschätzung
zugeordnet, welche über Finanzen und wirtschaftlichen Besitz verfügten. Arbeitnehmer
fanden offensichtlich in den Überlegungen nicht statt. In diesem Zusammenhang, trotz
aller Wertschätzung für Helmut Schmidt, ist die Aussage von Herbert Wehner
zu erwähnen, dass Schmidt die Solidarität im Offizierskasino erlernt hat und
nicht unter Arbeitnehmern.
Die
elitäre geistige Grundhaltung des Vertragsinhaltes wird daraus erkennbar, dass darin keinerlei soziale Komponenten zu finden
waren, welche zum Beispiel einen Hinweis darauf lieferten, dass Eigentum
verpflichtet, also ein gemeinschaftlicher Aspekt, was die EU-Bürger als solches
betrifft. Stattdessen wurde die Möglichkeit geschaffen, die Todesstrafe im
Bedarfsfall wieder einzuführen und, wie früher im Warschauer Pakt niedergelegt,
die einzelnen EU-Staaten ihr Militär einsetzen können, um so genannte Aufstände
in den Mitgliedsländern niederzuschlagen. Derartiges erinnert fatal an
Heidegger, der vom Werk Sartres: „Kritik der dialektischen Vernunft“ beeinflußt
wurde. Sartre hielt den Gedanken der Gewalt als wichtigen Teil gruppendynamischer
Prozesse zumindest für interessant. Heidegger machte kein Hehl daraus, daß
Gewalt und somit auch die Todesstrafe als Mittel zur Erziehung einzubeziehen
sei.
Die
beschriebenen Zusammenhänge führten in den Mitgliedsländern, insbesondere in Frankreich
und den Niederlanden, zu einer Auffassung, dass ein Papier für Aristokraten von
Winkeladvokaten geschaffen wurde.
Wenn
wir uns nun an den Folgevertrag der mittels Referenden abgelehnten EU-Verfassung
zuwenden, dann ist zunächst festzustellen, dass dieser selbst für Experten
teilweise unverständlich ist. Deutlich lesbar ist allerdings, dass die
Komponente einer Wiedereinführung der Todesstrafe, offensichtlich aus
erzieherischen Gründen, erhalten geblieben ist; des weiteren die Möglichkeit
der militärischen Intervention von Unterzeichnerländern gegenüber
Mitgliedsstaaten zwecks Niederschlagung von so genannten Aufständen, was auch
immer damit gemeint ist. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
hinsichtlich des Einsatzes der Bundeswehr im Inland kommt offensichtlich der
geschilderten Geisteshaltung im Lissabon-Vertrag entgegen. Interessant ist in
diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass eine Umwandlung der Bundeswehr mehr
oder weniger in eine Berufsarmee erfolgt ist.
Eine
besondere Klausel, welche als fatal und unsinnig anzusehen ist, ist das Verbot
der Hilfeleistung wirtschaftlicher oder finanzieller Art an Mitgliedsländer, um
eine Wettbewerbsverzerrung zu vermeiden. Dieser absurde Artikel, welcher als
besonders fatal unter einer gemeinsamen Währung zu bezeichnen ist, führt und
führte zu einer drastischen unterschiedlichen Entwicklung der Volkswirtschaften
der Mitgliedsländer. Die unterschiedlichen Entwicklungen führten dazu, dass
Mitgliedsländer sich an den deregulierten Finanzmärkten, in der Hoffnung eine
Fristentransformation in die Ewigkeit vornehmen zu können, verstärkt betätigten,
um ihre Defizite auszugleichen.
Die
Problemlösung der Defizitfinanzierung funktionierte solange, bis man
feststellte, dass sich die Zinsbelastung für diese Art der Refinanzierung mehr
als nur ungünstig auswirkte. Es besteht und bestand die Gefahr der
finanzpolitischen Handlungsunfähigkeit und somit der Insolvenz der
Mitgliedsstaaten. Dieses blieb selbstverständlich den so genannten Märkten
nicht verborgen, welche dann aus naheliegenden Gründen damit begonnen haben,
die Mitgliedsländer der Eurozone gegeneinander auszuspielen. Diese Aktivitäten wurden
durch die eloquenten Äußerungen der Spitzenpolitiker geradezu provoziert. Die
Tatsache, dass jedes Land der Euro-Zone seine eigenen Zahlen veröffentlicht,
macht sich dann als „Brandbeschleuniger“ bemerkbar.
Wie
bereits beschrieben, bediente sich der Lissabonvertrag dem abgelehnten EU-Verfassungsvertrag
und wurde in Lissabon ratifiziert. Er enthält u. a. die Neuerung der
rechtlichen Fusion von EU und EG, die Ausweitung des so genannten Mitentscheidungsverfahren,
was immer damit gemeint ist, und die
polizeiliche und justizielle
Zusammenarbeit in Strafsachen sowie die stärkere Beteiligung der nationalen
Parlamente bei der Rechtsetzung der EU. Gleichzeitig erfolgt ein Ausbau der
Kompetenzen des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik.
Insgesamt kann von einer schleichenden Demontage der Souveränität der
europäischen Nationen gesprochen werden. Dass sich eine stärkere Beteiligung
der nationalen Parlamente als wenig praktikabel darstellte, dürfte die jüngste
Vergangenheit bewiesen haben.
Da
selbst Marktradikale langsam zur einer gewissen Einsicht gelangten, schaffte
man in der vorhandenen Hilflosigkeit die Instrumente des EFSF und ESM, um über
Markteingriffe Korrekturen vornehmen zu können. Diese Instrumente sind für Laien
kaum verständlich. Um die rechtlichen
Beschränkungen des Lissabon-Vertrages zu umgehen, hat man dann eine Gesellschaft
zwecks Marktregulierung gegründet, mit der Möglichkeit einer unbegrenzten Machtausübung
ohne zeitliche Begrenzung. Wie dieses vom Verfassungsgericht in der
Bundesrepublik Deutschland für verfassungs- konform erklärt werden kann, dürfte
als ein Rätsel anzusehen sein, was selbst ausgekochte Winkeladvokaten vor
Probleme stellt.
Offensichtlich
begreifen nunmehr selbst die Politiker, dass es sich bei der Euro-Zone um eine
Schicksalsgemeinschaft handelt, deren volkswirtschaftliches Auseinanderdriften in dieser Situation zu einer unüberschaubaren Katastrophe führt. Die
Illusion, dass jeder machen kann was er will und keiner was er soll, dürfte wie
eine Blase zerplatzt sein. Als eine besondere Belastung wird das Medien- und
Polittheater empfunden, insbesondere deshalb, weil die Situation als
brandgefährlich für die be- troffenen Volkswirtschaften und die Arbeitnehmer zu
bezeichnen ist.
Gewisse
Politiker und so genannte Ökonomen zeigen immer deutlicher, unter welchen Wahnvorstellungen
sie leiden. So will ein Provinzpolitiker beispielsweise an Griechenland ein
Exempel statuieren. Ein selbsternannter Starökonom forderte sogar ein Protektorat
Griechenland.
Selbst
Altkanzler Schmidt, mit dem Lebensalter von 93 Lenzen, hat erkannt, dass an
einer gemeinsamen Schuldenhaftung der EU-Länder in der Euro-Zone nicht mehr
vorbeigegangen werden kann, weil diese offensichtlich bereits existiert. Die Euro-Zone
muss an den Märkten als eine Einheit auftreten, um weitere Exzesse zu
vermeiden. Dringend ist die Überlassung von Kompetenzen an EU-Institutionen
vorzunehmen. Eine Harmonisierung der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
ist unumgänglich. Dabei sollte eine gemeinsame Steuerpolitik als erstes in
Angriff genommen werden.
Man
muss schon mehr als nur abgehoben sein, wenn man die Behauptung aufstellt, dass
Euro-Bonds aus Gründen des „Zinswettbewerbs“ nicht eingeführt werden können
oder eine Einführung dazu führt, dass die Mitgliedsländer ihre
Sparanstrengungen vernachlässigen würden. Es wäre durchaus vorstellbar, alle
Schuldverschreibungen der Mitgliedsländer einzusammeln, und gegen Euro-Bonds
einzutauschen. Es kann nicht sein, dass die einzelnen Handels-, Zahlungs- und
Leistungsbilanzen der Euro-Zone miteinander verglichen werden und Rating-Agenturen,
Banken und Hedgefonds Derartiges nutzen, um irgendwelche Risiken zu erkennen,um verstärkt Profite realisieren zu können.
In
diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die notwendigen gesetzlichen
Grundlagen bisher nicht vorhanden sind, um Souveränitätsrechte der einzelnen
Länder an die EU zu übertragen. Demnach sind die gesetzlichen Grundlagen hierzu
erst zu schaffen. Dieses ist erst möglich, wenn ein strategisches Ziel definiert
ist, was u.U. auf die „Vereinigten
Staaten“ von Europa hinausläuft.
Die politischen Parteien sind dringend
aufgerufen, ihre Vorstellungen der Öffentlichkeit detailliert bekannt zu geben.
Ein erster Ansatz erfolgte durch die Sozialdemokraten über die Einbeziehung von
Geisteswissenschaftlern und seriösen Ökonomen (2)
Als
prekär zu bezeichnen ist es, dass die in der Selbstgefälligkeit der Politiker
unterbliebene Einbeziehung der Bevölkerung nachzuholen ist, was erhebliche Zeit
beanspruchen wird. Es kann als
ungeheuerlich bezeichnet werden, dass die verantwortlichen Politiker nicht
einmal in der Lage waren, zu erkennen, dass die eigene Verfassung gewissen
Vorgehensweisen widerspricht. Man handelt immer noch nach dem Prinzip, das
Tatsachen geschaffen werden, die dann, nach einem Urteil des
Verfassungsgerichts, einer Korrektur bedürfen. Wir sehr dieses der Tatsache entspricht,
geht daraus hervor, dass man seit Jahren mit einem verfassungswidrigen
Wahlrecht hantiert. Offensichtlich riskiert man, dass das Bundesverfassungsgericht
sich eines Tages genötigt sieht, dieses merkwürdige Parlament, auch Bundestag
genannt, aufzulösen.
Die
Ratlosigkeit der Politik dokumentiert sich letztendlich zur Zeit dadurch, dass
man der EZB unter Herrn Draghi mehr oder
weniger die Kompetenzen zwecks Eingriff in die so genannten Märkte überlässt, um
sich der Verantwortung zu entziehen. Ironisch veranlagte Zeitgenossen leiten
die Eignung des Herrn Draghi davon ab, dass er Italiener ist, und die „Doppelte Buchführung“ schließlich von
einem seiner Landsleute erfunden wurde.
Abschließend
bleibt zu hoffen, dass sich die Politiker ihrer Verantwortung gegenüber der
Bevölkerung bewusst werden, und
versäumtes nachholen. Allerdings bedarf es vieler glücklicher Umstände, damit
eine Krisenbewältigung gelingt. Eine EU-Verfassung als rechtliche Grundlage ist
somit nicht nur wünschenswert, sondern als Bedingung anzusehen.
Bekanntlich
stirbt die Hoffnung zuletzt. Deshalb wird dieser Kommentar mit nachstehender Aussage
beendet:
Tempus est etiam maiora conari.
(Es ist Zeit, auch Größeres zu versuchen)
(1)http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_4090/
(2)http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/europas-zukunft/kurswechsel-fuer-europa-einspruch-gegen-die-fassadendemokratie-11842820.html
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