Erschienen in Ausgabe: No 78 (8/2012) | Letzte Änderung: 13.02.13 |
von Heike Geilen
"...
ja, ich werde euch von vielen Inseln erzählen, die, wo wir momentan sind, im
Ozean und im Land der aufgehenden Sonne zu finden sind." schrieb Marco
Polo 1298/99 in "Il Milione. Die Wunder der Welt". Japan - auch heute
noch ein Land der Gegensätze. Nirgendwo sonst führen unterschiedlichste moderne
und traditionelle Elemente in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur zu
einem so fruchtbaren Wechselverhältnis wie hier. Und immer noch schwankt es zwischen
einem aggressiven Ausbreitungsdrang wie in der imperialen Kolonialpolitik zu
Beginn des 20. Jahrhundert und der Selbstisolierung der Tokugawa-Ära. In diesem
als Edo-Zeit bezeichneten Abschnitt zwischen 1603 und 1868 schirmte sich Japan
hermetisch von der übrigen Welt ab. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte die
erneute "Entdeckung" seiner Geografie und seiner
vielfältigenTraditionen.
Als
Wiederentdecker wurde vor allem der Fotograf Felice Beato bekannt. In den
zwanzig Jahren, die er ab 1868 in Japan blieb, beeinflusste der gebürtige
Venezianer, der später in England eingebürgert wurde, alle ihm folgenden
Fotografen. Sein Werk hinterließ eine tiefgehende Spur, der sich viele
westliche Künstler - so auch Claude Monet - nicht entzogen. Er öffnete dem Abendland die damals noch stark
feudalistisch geprägte Gesellschaft. Staunen, Verblüffen, Verwunderung waren
die Gefühle, die auch heute noch beim Betrachten der handkolorierten
Monochrome-Fotografien auf Albuminpapier vorherrschen. "Auf sowohl
anthropologische als auch soziale Weise setzte man an, die japanische Kultur
ihren doch so unterschiedlichen Erscheinungsformen, die in vielen
fotografischen Darstellungen von Bräuchen und Berufen gegenwärtig sind,
aufzudecken und zu würdigen. Aber ebenso versuchte man, sie in den urbanen und
natürlichen Landschaftsformen zu entdecken, in denen vor allem das ästhetische
Prinzip der Natur in den Gärten, Wäldern, Wasserfällen und Blumenarrangements
vorherrscht.", erläutert Monica Maffioli in ihrem Vorwort. Die in diesem Prachtband
enthaltenen, fast ausschließlich aus dem Eigentum der Raccolte Museali Fratelli
Alinari (RMFA) Florenz stammenden Fotografien von Beato, aber auch zahlreichen
unbekannten Künstlern, zeigen auf eindrucksvolle Art "das Streben nach
Veredelung durch das Zusammenwirken von Form und Farbe in ihrer ganz kostbaren
Schönheit."
Das riesige Format von fast 50 cm in der Vertikalen
und 33 cm in der Breite kumuliert dieses Empfinden um ein Weiteres und versetzt
den Betrachter in ein scheinbares Märchenreich. Durchgängig zweisprachig
(Englisch und Deutsch) bleibt der Text sparsam in Hintergrund. Nur auf wenigen
Seiten sind kurze Sequenzen aus Büchern, Essays oder Notizen verschiedener
Persönlichkeiten (u. a. Italo Calvino, Prinzessin Nukata oder Yamamoto
Tsunetomo) eingeflochten. Ansonsten beherrscht das Bild die Szenerie.
Gegliedert in vier Abschnitte (Orte und Landschaften / Das Universum der Frau /
Das Universum des Mannes / Die Arbeit) wird ein eindringlicher Eindruck der
Fremdartigkeit und Schönheit dieser fernentrückten Zeit vermittelt. Egal ob ein
Straßenabschnitt mit Holzhäusern, in dem gerade Mandelbäume in voller Blüte
stehen, eine Rikscha mit zwei Frauen in traditionellen Kleidern, der goldene
Pavillon-Tempel in Kyoto oder ein Gefangener in Handschellen mit seinem
Gefängniswärter, alle Fotografien strahlen eine unglaublich intensive Aura des
Entrückten und Märchenhaften aus. Kaum zu glauben, dass dieses Land heute zu
einer der wirtschaftsstärksten und modernsten Nationen der Welt zählt. Vor
allem die exotisch anmutenden Frauen in ihren Kimonos mit traditionellem
Make-up verstärken diese Perzeption. Doch auch die vielfach tätowierten Männer,
Samurais oder Krieger im traditionellen Gewand stehen der Wahrnemung des
Geheimnisvollen nicht nach.
Seite für Seite öffnet sich ein scheinbar
weltentrücktes, aber unglaublich faszinierendes Panorama eines Landes und
seiner Bewohner. "Japanese Dream" gibt einen wohl einzigartigen
Einblick in das Alltagsleben und die Kultur des vormodernen Japans, das in der
mehr als 250 Jahre vom Fürstenhaus Tokugawa regierten Epoche eine
wahrscheinlich weltweit einmalige Blütezeit des Städebaus, reicher Kaufleute
und Handwerker sowie florierender Bürgerkultur erlebte. Noch unser heutiges
Bild Japans ist zu erheblichen Teilen von ihr geprägt. In dem vorliegenden
außergewöhnlichen Bildband mit seinem seidig schimmernden Leineneinband erhält
diese Ära eine unvergleichliche XXL-Würdigung und Wertschätzung par excellence.
Der Hauch des Bambus fegt über die Treppen
aber der Staub bleibt.
Der Mond spiegelt sich auf dem Grund des Teiches,
aber das Wasser berührt er nicht.
- Anonym -
Japanese Dream
Mit einem Vorwort von Monica
Maffioli
Hatje
Cantz Verlag, Ostfildern (Juli 2012)
132
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3775734376
ISBN-13:
978-3775734370
Preis:
98,00 EURO
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