Erschienen in Ausgabe: No 79 (9/2012) | Letzte Änderung: 13.02.13 |
von Shanto Trdic
Teil 2.
Es lassen sich im Wesentlichen vier große Ereigniskomplexe
fixieren, denen die gelehrte Historikerzunft nachsagt, das Siechtum Roms
irgendwie befördert zu haben. Einen bildete, so hörten wir, der
´Barbarensturm´. Edward Gibbon, Vater der modernen Geschichtsschreibung,
kreidete vor allem der Christenheit an, am Ruhme Roms gekratzt zu haben; eine
Vorstellung, von der er geradezu besessen schien; eine, die auch lange Zeit den
gängigen Lehrmeinungen gefiel. In Korrespondenz dazu wurde und wird ständig auf
den sittlichen Verfall, auf Dekadenz und Degeneration verwiesen, die das
imperiale Gefüge von innen langsam ausgehöhlt hätten. Dem hält man neuerdings
immer öfter entgegen, dass gerade die Spätantike sehr viel vitaler und
lebendiger gewesen sei als ständig behauptet. Das ist auch meine Meinung und
ich finde, dass Ähnliches für unsere eigene, die jetzige Epoche gelten kann.
Posthum abdatierten Verfallszeiten eignet überhaupt oft etwas Quirliges,
Ungestümes, in letzten Resten Schillerndes an. Noch einmal forsch und frisch,
keck und ungestüm gehen seine Protagonisten zu Werke, was man, nachträglich,
hinter der modernen, wiewohl bereits morsch-modernden Fassade nicht mehr auf
Anhieb erkennen möchte. Die Apologeten der Dekadenztheorie versäumen nicht, in
dieser Sache derlei ökonomische Miseren zu betonen. Es sind, wie wir sahen,
auch gegenwärtig ganz banale real-wirtschaftliche Turbulenzen, die bemüht
werden, um jene Krise zu beschwören, die eher Hausgemachten Versäumnissen
geschuldet ist als irgendwelchen großen Zusammenhängen. Wollte man davon
ausgehen, dass derlei monetäre Miseren einen umfassenden Verfall einleiten,
dann kann man weiter darüber spekulieren, wie lange sich das hinziehen mag: was
derlei Rettungsschirme und Fiskalpakte bewirken – oder nicht. Sicher ist, das
dieser Aspekt dazumalen nicht im Vordergrund stand und ein vielbeachteter
Erklärungsansatz geht denn auch davon aus, dass der Verfall erst viel später
einsetzte als ständig behauptet wird. Henri Pirenne, Hauptvertreter dieser
Schule, macht (viertens) den Ansturm des Islam für den Zusammenbruch der
spätantiken Mittelmeerwelt verantwortlich. Davon hat sich die gelehrte Welt
mittlerweile auf ganz unterschiedliche Art und Weise wieder distanziert.
Widerlegt hat sie ihn nicht. Wie auch immer: dies alles sind monokausale
Deutungsmuster, die dem Problem in seiner tatsächlichen Komplexität und
Verwobenheit nicht gerecht werden können. Wahrscheinlich ist, dass sie allesamt
von Bedeutung gewesen sind, da die vermuteten Phänomene auf nicht restlos geklärte
Weise einander bedingten und beförderten und im Ergebnis eine Generationen
übergreifende Transformation bewirkten. Dann lässt sich sagen: es waren
religiöse, ethnische und kulturelle Besonderheiten, die das Bild prägten und
solcherart ganz langsam, aber von Grund auf neu gestalteten, dabei etliche
Striche und Farben löschten und doch den Grundriss nur übertünchten. Nicht
alles ließ sich später wieder kenntlich machen. Vieles blieb als blasser
Abdruck auf der Leinwand erhalten. Die Ansicht zeigt auch kein Armageddon;
keinen lodernden, lärmenden Untergang mit rauchenden Ruinen, innerhalb derer
rabiat wütende Horden die letzten Reste alter Pracht dem Erdboden gleich
machten. Nicht über Nacht, nicht im Handstreich, nicht als Naturkatastrophe
versank die Welt der stolzen Römer; sie versandete eher, verkümmerte in Resten,
versteinerte in Ansätzen – verlor sich langsam in Raum und Zeit. Hüten wir uns
abermals, denAbgang als trächtiges,
tumultöses Spektakel zu deuten. Die eigentlichen, eher still und verborgen vollzogenen
Prozesse, die diesen Epochenwandel kennzeichnen, vollzogen sich zäh und
kleinschrittig und kulminierten nur gelegentlich in sichtbaren, staunenswerten
Einzelereignissen. Das bleibt Kernthese dieser Abhandlung: Jahrhunderte
brauchte ein Wandel, der sich darob langsam und träge Bahn brach; wie eine
ländliche Flut. Es waren keine Dämme, die da barsten; und nicht Blitz und
Donner wühlten die weite Erde auf. Jene ´großen´ Ereignisse, von denen die
Geschichte berichtet, glichen diesen kurzen, grell aufleuchtenden Lichtstössen,
die das dumpfe Grollen kaum begleiten, dafür umso effektvoller überstrahlen um
damit noch die Nachwelt zu (ver)blenden.
Die konstantinische Wende ist so ein Ereignis, das uns die
Geschichte als ´groß´ verkauft. Tatsächlich änderte sich jahrzehntelang
herzlich wenig an den gelebten und je verordneten Verhältnissen. In Wahrheit
markierte die anno 313 erlassene Mailänder Vereinbarung nur einen längst
überfälligen, wiewohl milde vollzogenen Einschnitt, der nicht am Anfang einer
neuen Entwicklung stand sondern umgekehrt eher vorläufig abschloss, was im
Innern des Reiches längst entschieden war. Was war da endlich entschieden
worden? Das fortan das Christentum integraler Bestandteil römischer Sitte,
römischen Selbstverständnisses sein würde. Römisch – ich könnte auch schon
byzantinisch sagen. Geschenkt. Konstantin war noch Cäsar durch und durch, er
tat sich die Taufe (angeblich) erst auf seine späten Tage an, ließ den
traditionellen Kaiserkult unangetastet und machte eigentlich gar nichts, um den
´neuen Kult´ (der schon ein alter Hut im Reiche war) irgendwie institutionell
zu festigen. Die konstantinische Wende verschaffte der staatlich
diskriminierten orthodox-katholischen Kirche eine formale Legitimation, und aus
einer zunächst geduldeten Bewegung wurde im Laufe der Zeit eine auch rechtlich
geförderte Institution. Unter Theodosius I. war sie ´Reichskirche´, und jener
ging sogleich streng gegen Häresien des frommen Glaubens vor; sehr römisch –
sehr Reichstreu. War hier, faktisch, nicht lediglich ein Staatsdogma gegen ein
Überkommenes ausgetauscht worden? Es spielte im Profanen zunächst auch eine
eher untergeordnete Rolle. Geschichte machten, formal, ganz andere Ereignisse.
Gut hundertfünfzig Jahre nach Theodosius eroberte Justinian der Große weite
Teile des alten Reiches im Westen zurück. Indem er das verloren gegangene
´Herrschaftsgelände´ dem östlichen Erbteil zuschlug, machte er den
Alleinanspruch des Imperium Romanum, dem er als oberster Gebieter vorstand,
erneut geltend. Womit ging dieser Cäsar aber tatsächlich in die Annalen der
Geschichte ein, was war der eigentliche, der wirklich epochale Wurf, mit dem er
seine Amtszeit wirklich krönte? Das war zweifellos jener gewaltige corpus iuris
civilis, die immense Sammlung römischen Rechts, die er nach ´getaner Arbeit´
endlich in Auftrag gab. Rom lebte. Das Christentum auch. Letzteres gewann an
Geltung, doch die alte Ordnungsmacht behauptete ihren Universalismus nicht
minder. Unter Justinian erfuhr der Triumphalismus noch einmal eine späte, umso typischere
Blüte. Seine Bauwut stand der eines Caracalla in nichts nach, die
Senatsaristokratie pflegte ein immer noch enormes soziales Prestige, war
überdies der klassischen Bildung, der paidea, vollauf verpflichtet und was das
Verwaltungswesen betrifft, so stellt das Archiv des Dioskoros eindrucksvoll
unter Beweis, wie sehr bestimmte Gepflogenheiten in den Provinzen noch unter
´alt-römischem´ Einfluss standen; solcherart wirklich fortbestanden. Dieser
Zeitraum von gut dreihundert Jahren, der die Teilung des Reiches in eine Ost, -
und Westhälfte bis zum Tod Justinians des Großen ausfüllt, war weder Untergang
noch Verfall, kein Abgesang und auch nicht Abfall vom Gewesenen. Jene
Autochtonen, die zuzeiten Justinians im ´biblischen Alter´ standen, mochten noch
als Heranwachsende von den ganz Alten erfahren haben, wie es einst im Reiche
(der Soldatenkaiser) zuging, was diese wiederum früh von den eigenen
Altvorderen erfahren haben mögen. Denen kam diese ´Renovatio´ eher wie eine
Rückkehr zu den Wurzeln, zu den Anfängen vor. Aber sie irrten. Byzanz selbst
wurde fortan immer östlicher, slawischer; erst jetzt vollzog sich langsam die
tatsächliche kulturelle Transformation. Dennoch fand zu Lebzeiten Justinians
eine eigentümliche Mischung divergierender Elemente statt, die unmerklich dazu
beitrug, das ursprünglichste dieser Elemente, eben das antik-römische, in
Teilen unmerklich zu verdrängen, behutsam von der Bildfläche zu entfernen und
so auf Jahrhunderte zu ´erledigen´. Allerdings: der antike Nährboden blieb
insgesamt erhalten.Er ´wanderte´.
Zunächst noch von West nach Ost, wo er, in über tausend Jahren, stark der
ursprünglichen Substanz verlustig ging, jedoch auch neue Blüten trieb, darob
territorial auf ein Minimum herabschrumpfte um, wie sein ´Vorläufer´, von einem
neuerlichen Sturm aus östlicher Richtung, als reiner Flächenstaat, endgültig
eingeebnet zu werden. Aber da war im ´alten Westen´ ja schon die Renaissance
angebrochen, wiederum aus alten Krügen schöpfend, eine kreative Explosion
einleitend, der dann auch die entsprechende Expansion folgte, kaum 200 Jahre
später: die streute den gewendeten Triumphalismus dann wahrlich in alle Winkel
der Welt. Gedanke: wie hätten die durch und durch weltlichen, diesseitigen
Ur-Römer wohl einen Epochenwandel wie den der Aufklärung, als Eingang zur
totalen Säkularisierung öffentlichen Lebens, empfunden? War das im Grunde nicht
auch schon in ihrem ´So-Sein´ angelegt? -
„Jetzt glaubt kein
abendländischer Mensch mehr an das Dogma der ecclesia triumphans,“ notierte
Jacob Burckhardt in seinen ´Weltgeschichtlichen Betrachtungen´ (Stuttgart 1955:
S.139). Man hatte sich eben „allmählich an den Anblick der religiösen Vielfalt
gewöhnt“ (ebd.). Heute ist sie allen Abendländern schon wieder ziemlich
gleichgültig geworden. Das war sie, steht zu vermuten, den praktischen Römern
schon immer gewesen. Jedem der seine – Gott. Jener geborgte, schon deutlich
herunter gekommene Mythologismus der alten Griechen, den sich die praktischen
Römer auf ihre Art zueigen machten, weil ihnen selbst nichts besseres mehr
einfiel, war schon seinerzeit eher eine Art pseudo-religiöser Unterhaltungskult
gewesen. Götter, die wie saft, - und kraftstrotzende Irdische tobten und
tollten hatten sich die Griechen einst ausgedacht. Eine kuriose Melange aus
Heimatkult, Familienunterhaltung und großes Kino sozusagen; ein
pseudoreligiöses Kuriosum, das die späteren Römer kaum fort sponnen, dessen im
Ansatz vieldeutige, elastische Elemente sie aber übernahmen, weil sie ihnen
solcherart ganz gut in den eigenen Kram passten. Der griechische Götterglaube
war eben ein sehr sinnlicher, sehr irdischer, er ließ sich schön ins Private
einfügen und insofern konnte diese Art Aberglaube auch jedermanns eigene Sache
bleiben: jedem der eigene Glaube. Das öffentliche Zeremoniell war ziemliches
Theater, und das hatte eine Gesellschaft auch nötig, die ihr Selbstverständnis
über eben diesen Theaterdonner definierte, den sie mehr heuchelte als das sie
ihn, wie billig, umfassend, also: strikt lebte. Ein Kult für jede passende
Gelegenheit; einer, der in jeden Tempel passt. Er sollte und durfte indes nicht
zu sehr aufmucken, er hatte im Wesentlichen ´zahm´ zu bleiben; jenseits
zeremoniöser Tiraden eher unauffällig – im Grunde nebensächlich. Stand
irgendeine wichtige Schlacht an, dann opferte man dem Dämon irgendein Vieh –
und fertig. Da war vorher nichts und nachher kam, wenn´s klappte, der
Nachschlag über weitere Tiergaben. Im Vergleich mit der monotheistischen
Variante ein fürwahr kümmerliches Rudiment. Im voll durchsäkularisierten Europa
fristet das allein seligmachende Christentum dieses Schattendasein mittlerweile
ohne Grollen oder Murren. Zunächst noch im Widerstreit mit der weltlichen Macht
in wiederum sehr weltliche Kämpfe verwickelt, verlor die Kirche an Einfluss und
Macht und fand, ganz im Sinne des Erlösers, zurück zum Einzelnen, der sich
irdischem Wahn, weltlicher Anmaßung konsequent widersagt. So taten es später
die Mönche, deren Fleiß die Urbarmachung des mitteleuropäischen Urwald zu
danken ist und diese ´Hinterwäldler´ waren es dann auch, denen dann unmerklich
(ungewollt?) die Abtrennung reinen Wissens vom reinen Glauben gelang. Was immer
die Scholastiker im Innersten antrieb und beseelte: im Ergebnis brachte es sie
endgültig vom ´rechten Wege´ ab: das auf überkommene Glaubensgehalte abgestimmte
Weltbild der Väter wich langsam der radikal-kritischen, kartesianischen
Variante. Große Gelehrte wie Ockham, Trois-Fontaines oder Duns Scotus bewegten
sich bereits recht unbekümmert im noch ziemlich zwielichten, unsicheren Terra
Incognita der Ratio, und ihre Nachfolger, die Spinoza, Bacon und endlich
Descartes, schritten auf diesem unwägbaren Gelände konsequent fort. Der Glaube
wurde wieder, was er dem stolzen Nazarener stets gewesen: ganz Sache des
Einzelnen, Geworfenen – des ´zu Gott Flüchtenden´. Dies war, dies ist das echt
Zeitlose an der Erbauung, deren Essenzen so gar nicht zum Prunk der päpstlichen
Höfe passen wollten. Was aber waren diese selbstherrlichen Eminenzen denn
anderes als sehr irdische, sehr materiell und politisch orientierte Machtmenschen,
die man als vorweggenommene Renaissance-Typen begreifen muss? Sie waren auch
weit weniger verstockt oder verbohrt als uns die überlieferte
Geschichtsschreibung ständig vor dem Hintergrunde spätmitteralterlicher Exzesse
(Inquisition) einreden möchte. So ist ja immer noch wenig bekannt, das die
Entdeckungen des Doctor iuris canonici seinerzeit gar nicht als Häresien
aufgefasst wurden (als solche empfand sie erst wieder der ´fortschrittliche´
Luther), wie denn überhaupt das Papsttum des neuen Jahrtausends Wissenschaft
und Forschung gegenüber aufgeschlossen blieb und deren Fortgang kaum ernstlich
behinderte. Merkwürdig auch: da entstanden im Spätmittelalter jene
staunenswerten, unfasslich Gestalt, - und Symbolstrotzenden Kolossalbauten, als
Kathedralen von Reims oder Köln, jene ´Dome der Ewigkeit´, formvollendeter
Ausdruck sakralen Selbstbewusstseins, und doch markierten sie endgültig das
Ende der finsteren Epoche, aus deren dunklen Abgründen sie deutlich in alle
Himmel ragen: als wohl bemerkenswerteste Verkörperungen der Epoche sind sie
gleichsam Abschluss und Anschluss in einem. In ihnen pocht und drängt bereits
etwas anderes empor, drängt wehrhaft und wuchtig zurück ins lichte Sein, etwas,
das Jahrhunderte lang in versprengten Resten unter der bloßen Oberfläche ruhte,
schon sanft bebte – und endlich mächtig aus dem platzenden Gestein schoss. Und
noch merkwürdiger: im direkten Anschluss wütete auf dem Kontinent der ´schwarze
Tod´. Der ständig herbei orakelte Weltuntergang schien nun unmittelbar bevor zu
stehen, und als dieser dennoch ausblieb, schickten sich die eben noch der
Pestilenz ausgelieferten Europäer an, das Sakrale endgültig abzustreifen, wie
einen abgewetzten, staubigen Mantel. Der Panzer religiöser Ummantelung war ja
schon vorher diskret aufgesprengt worden, nun aber wurde es ernst mit der
biblischen Forderung, sich die Welt untertan zu machen. Das geschah unter
anderem in der endgültigen, totalen Einhegung religiöser Allmacht. Der Islam
trifft im Europa unserer Tage also auf keinen direkten, keinen gleichwertigen
Gegner mehr, und dazu passt, dass die koranische Erweckung erstmals seit ihrer
Erwähnung nicht mehr im Gewande des Eroberers auftritt. Muslime belagern keine
Vorposten mehr. Sie wandern ein. Zum wirklich ersten Male, nach über tausendfünfhundert
Jahren. In ein dekadentes, dem Untergang geweihtes Spät-Europa? Gräbt sich der
Fluss sein Bett in den Niederungen einer Kulturlandschaft, die nurmehr über
reibungslosen Konsum und unverbindlichen Hedonismus funktioniert?
Man könnte also fragen: ist Europa nach über 500 Jahren
Saft, - und Kraft strotzender Expansion, am Ende zweier Weltkriege (die darauf
folgende Beschaulichkeit einer nunmehr über sechs Jahrzehnte dauenden
Friedensdekade mit eingeschlossen) dekadent geworden?-Gerne wurde und wird darauf hingewiesen,
dass sich die Römer im Verlauf der Kaiserzeit den alten Traditionen und Werten
entfremdeten; der Wunsch, das Leben zu genießen, wurde so ganz langsam zum
´Mainstream´. Dazu passt, das schon Tiberius die Parole “Brot und Spiele” ausgab:
kostenloses Amüsement für´s Volk. Eine spätantike ´Spaßgesellschaft´, die sich
in Bädern und Arenen tummelte, tat am Ende nur noch wenig für´s eigene Wohl.
Durch kostenfreie Nahrungsverteilung sorgten die Oberen schon dafür, dass auch
ihre Untertanen irgendwie am ´großen Fressen´ teil hatten. Ausschweifungen
unterschiedlichster Art beherrschten seither den Alltag der reichen Bürger, was
die nachfolgenden Chronisten so eifernd wie hilflos beklagten. Die ´upper
class´ gab sich recht unbekümmert dem Sittenverfall hin. Rom aber wuchs und
gedieh in dieser Epoche ganz ungebrochen und erreichte zudem seine größte
Ausdehnung (eine ´Ost-Erweiterung´ der etwas anderen Art). Gleichsam wuchs auch
der allgemeine Lebensstandard, die Gesellschaft wurde nun aber auch zusehends
älter, und die Geburtenzahlen sanken kontinuierlich. Schon Augustus erkannte
die Gefahr. Er hielt mit Steuerbegünstigungen dagegen, bevorzugte etwa
Kinderreiche Paare, die deutlich weniger zahlen mussten als Alleinstehende. Es
brachte nichts. Der Trend als solcher blieb ungebrochen. Immer mehr Menschen
erhielten daher in Folge das begehrte römische Bürgerrecht. Gleichzeitig wuchs
auch die Kluft zwischen Arm und Reich. Insgesamt schien es den Römern dennoch
gut genug zu gehen: die Kaiserzeit blieb von sozialen Unruhen weitgehend
verschont. Die Gesellschaft war bald durchlässig wie nie. Vom einfachen
Gladiatoren bis zum Sklaven konnte im Prinzip jeder nahezu unbegrenzt
aufsteigen, auf neudeutsch: ´Karriere machen´.Seit der Geburt des ´klassischen´ Christentums, die den Beginn der
modernen Zeitrechnung (das Jahr Null) markiert, expandierte Rom stetig und
machte sich den größten Teil der damals überhaupt bekannten Welt im Sinne des
Teile und Herrsche untertan. Die Ermordung des Commodus anno 192 stürzte Rom
zwar in eine tiefe innenpolitische Krise, dennoch wurde dadurch der
Zusammenhalt des Reiches nicht beeinträchtigt. Es folgte das problematische
Zeitalter der Soldatenkaiser, die dem Reich noch einmal zusätzliche
Einflussgebiete sicherten. Wir wissen heute, dass die ersten, das Imperium
indes noch nicht sonderlich tangierenden Wanderungsbewegungen nur kurze Zeit
später einsetzten. Das Volk der Goten verdrängten im Zuge dessen bereits
Vandalen und Markomannen gen Süden, die Burgunden schlug´s nach Westen. Wer
wollte im Reich schon begriffen haben, was sich da im fernen Osten wirklich
zusammenbraute? Nach außen vor Kraft und Vitalität strotzend, innerlich bereits
bedrohlich wankend, befand sich das Vielvölkerimperium gerade jetzt auf dem
äußerlichen Höhepunkt seiner Macht. Aber es ging zeitgleich ganz unmerklich
seines eigenen Universalismus verlustig. Die moderne Geschichtsforschung hat
den Zeitraum von 235 bis 285 n. Chr. als Reichskrise gedeutet und sich
vornehmlich den Geplänkeln an der Peripherie gewidmet, als immer neue Schübe
von Barbaren einsickerten, derer man bald nicht mehr Herr wurde. 260 kam es
auch zur Separation Galliens: große Teile des westlichen Teils lösten sich vom
Verbund. So entstand jenes Imperium Galliarum, das neben Gallien noch Hispanien
und Britannien umfasste. In etwa zeitgleich stürzte Rom in seine größte
wirtschaftliche Krise: seit 270 schlug man sich mit dauernder Inflation herum.
Zudem ging in jener Dekade der Soldatenkaiser, die mit Tacitus beginnt, eine
Reformwelle durchs Reich, die aber keine dauerhafte Stabilisierung der
Verhältnisse mehr bewirken konnte. Nun wuchs der Einfluss der Barbaren, vor
allem bei den Streitkräften, von denen letzthin alles abhing.
Frage: war innerhalb der Ordnung unlängst ein Vakuum
entstanden, das, ungeachtet des rein äußerlichen Ruhmes, den Rom noch im
Übermaß besaß und dementsprechend auskostete, langsam den Verfall einläutete?
Fand eine Abnutzung, ein Verschleiß statt? Brauchte sich die lebendige
Substanzauf, verdarb der Humus? Darüber
können wir nur noch vage spekulieren. Deutlicher zeichnen sich heute die
Probleme ab, wiewohl auch hier einstweilen nur vermutet werden kann, was einmal
vergehen wird und was, leidig oder lausig, nur mehr ein klägliches
Schattendasein fristen könnte. Wie oft ist in den letzten Jahrzehnten von der
Erosion angestammter Werte geredet worden, vom Verlust gewachsener Traditionen;
davon, das Brauchtum, Sitte und Ritual sich überlebt hätten. Davon weiß die
Geschichte aber im Dutzend zu berichten und wenn dem so wäre, dann hat gerade
diesen Umstand bis heute niemand wirklich zu Ende gedacht und dann muss man
allerdings die Tatsache, das andere Sitten und Gebräuche sich umso nachhaltiger
etablieren, ernst nehmen. Säkulare Gesellschaften sekundieren eher fremde statt
der eigenen Brauchtümer, die bloß noch als fade Folklore funktionieren.
Traditionelle Gesellschaften hingegen pflegen und erneuern diese gerade in der
Diaspora. Im Zusammenprall beider Modelle verschieben sich unmerklich die
Gewichte. Es wäre etwas naiv anzunehmen, das ein Modell wie der Islam, der für
sich beansprucht, alle Bereiche öffentlichen und privaten Lebens regeln zu
müssen, auf Dauer einer behutsamen Angleichung an recht-staatliche Normen
gehorchte. Gerade hier wird sehr deutlich, dass gewisse Elemente nicht einzig
differieren, vielmehr schmerzlich divergieren, was fortlaufend zu
Auseinandersetzungen führen muss. Sie finden ja längst statt. Es gibt genügend
Beispiele.
Die bundesrepublikanische Rechtssprechung ist weit davon
entfernt, im Vakuum zu operieren, dennoch fischt sie zunehmend im Trüben, seit
in Stadt, - und sogar Ortsteilen mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit eine
islamische Paralleljustiz an Boden gewinnt, die den üblichen
formal-juristischen Gepflogenheiten zum Teil diametral entgegen steht und darob
immer fester wurzelt. Es mag sich derzeit um Randphänomene oder bloße Trends
handeln, um Einzelfälle oder periphere Häufungen: auf kurz oder lange werden
die daraus resultierenden Konflikte zunehmen. In einer ersten Phase behindern
sie die übliche Rechtssprechung. Gleichzeitig etablieren und festigen sich
darob immer mehr die je eigenen, gelebten Praktiken und eine zunehmende
Ohnmacht staatlicher Stellen (sie zeichnet sich längst ab) wird den ersten
Kompromissen bzw. Kungeleien Vorschub leisten, wie sie etwa im britischen
Königreich längst gelebte Wirklichkeit geworden sind. Den Recherchen Alexei
Makartsevs zufolge, auf dessen Befunde ich mich im Folgenden beziehe, hat sich
diese parallele Rechtsprechung schon ganz erheblich verselbständigt. In Großbritannien
existieren bereits hunderte islamischer Schiedsgerichte, die eine an
koranischem Gebot orientierte Justiz praktizieren. Einer Initiative im
Parlament folgend, wird nun behutsam darauf hingearbeitet, die Scharia als
Grundlage dieser Rechtssprechung irgendwie unter Kontrolle des Staates zu
stellen (wohlgemerkt: nicht etwa abzuschaffen, wenigstens ein zu schränken,
sondern tatsächlich zu ´gebrauchen´!). Rowan Williams, Erzbischof von
Canterbury und Oberhaupt der anglikanischen Kirche, begrüßte schon die, so
wörtlich: ´unvermeidliche Verbreitung der Scharia´ und meinte, das die
Übernahme ihrer Elemente ins Zivilrecht die sozialen Spannungen minderte, mit
denen demnächst in noch stärkerem Ausmaß zu rechnen sei. Der Präsident des
obersten Gerichtshofes des Vereinigten Königreichs (damit ranghöchster
englische Richter überhaupt), bestätigte dies und sprach sich gleichfalls für
eine Duldung solcher Gerichtbarkeiten aus, merkte aber immerhin an, das
britisches Recht Vorrang haben müsse – nicht etwa habe. Faiz Siddiqi, Chef des
Muslim Arbitration Tribunal (MAT), der ein eigenes Netz aus bisher sieben
Scharia-Gerichten betreibt (ganz legal), freut sich, das zunehmend auch
Christen mit ihren familiären Problemen zu ihm kommen; in seiner Zentrale in
Nuneaton machen die immerhin schon 15 Prozent aller Fälle aus. Sie kämen zu
ihm, so der 44jährige Anwalt, weil er einfach schneller und billiger arbeite.
Was passiert hier eigentlich? Da entsteht eine abweichende Rechtspraxis an der
Peripherie, breitet sich unbekümmert aus und der Staat, der eigentlich als
oberster Schirmherr der Gewaltenteilung dieselbe zu schützen hätte, schmälert
ihr Monopol, indem er den konstituierenden Prinzipien solche anheimstellt, die
einer strikt divergierenden, nämlich islamischer Rechtsprechung entspringen. Er
etabliert also dieselbe. Duldet sie nicht nur, sondern konsekriert sie. Dieser
Staat wohlgemerkt, der doch als letztgültige, letztsprechende Instanz fungiert,
welcher die Obhut und Pflege, vor allem aber: Durchsetzung recht-staatlicher
Grundsätze zukommt. Dafür hat er doch unbedingt zu sorgen: das ihnen
ungemindert und vor allem uneingeschränkt Geltung zukommt; unbedingt. Denken
wir derlei Vorgänge also zu Ende, so müssen wir zwangsweise zu dem Schluss
kommen, dass über die staatliche Anerkennung der Scharia das nationale Recht in
Teilen bereits islamisch geworden ist. Wer könnte oder wollte das in fünfzig
oder hundert Jahren noch rückgängig machen, wenn es als gängige Praxis längst
aus dem Versuchsstadium heraus getreten sein wird und aufgrund immer
zahlreicherer Anwendung infolge eines unvermeidlichen Bevölkerungswachstums
muslimischer Anteile umso gebieterischer auftritt; bestärkt durch einen Staat,
der es sich dann erst recht nicht mehr nehmen lässt, noch mehr Anteile fremder
Rechtsprechung ´heimisch´ zu machen. Es wird dann ganz selbstverständlich neue
Gesetzentwürfe geben, über die in den Parlamenten umso selbstverständlicher
abgestimmt werden wird, es wird Richter, Anwälte und Politiker geben, die den
Transformationsprozess weiter voran treiben, denn er wird sich unlängst warm
gelaufen haben und die Schar derer, die sich diesem Kanon unterordnen wird, da
sie zunehmend von Vereinsoberen und Imamen ´sozialisiert´ werden, als zunehmend
berechenbare, weil strikt gestimmte Masse auftreten, was im derzeitigen
Übergangsstadium, in dem wir uns befinden, wohl noch nicht umfassend der Fall
sein kann. Kluge muslimische Juristen werden einmal daran arbeiten,
unterschiedliche koranische Rechtsauffassungen miteinander in Einklang zu
bringen, das wird die (schrumpfende) Mehrheitsbevölkerung dann sicher
beruhigen, man wird sich an den juristischen Wechselbalg insgesamt gewöhnen,
die Alten werden noch etwas wehmütig der ´guten alten Zeiten´ gedenken und die
Jungen werden sich erfahrungsgemäß dabei die Ohren zuhalten, abfällig grinsen
und unbekümmert ihrem jeweiligen Geschäft nachgehen. Das klingt ziemlich glatt.
Es könnte aber auch anders kommen. Vielleicht hat sich bis dahin schon der
Tumult verewigt, wie er überall dort tobt, wo die unterschiedlichen Bekenntnisse
aufeinander prallen und einander bis auf´s Blut bekämpfen. Aber das muss im
friedlichen, fortschrittlichen Europa ja nicht zwangsweise so kommen.
Vielleicht garantiert gerade hier, in einer weitgehend zivil eingefriedeten
Kulturlandschaft, das beschauliche Ambiente einen reibungslosen, im mindesten
´weicheren´ Übergang: von einer säkular gestimmten, milde und satt parierenden
Innovationsgesellschaft hin zu einer sakralen Ausgleichskommune, die zwar
gewissen abendländischen Ballast über Bord geworfen haben wird, dafür aber
wieder einheitlicher, unbedingter – einfacher funktioniert. So könnte sich etwa
auf dem Gebiete der Rechtsprechung nach einem eher chaotischen Interregnum eine
dauerhaft einheitliche Handhabe durchsetzen. Das leidige und oft blutige
Clangerangel, auffallend häufig im kriminellen Milieu beheimatet und
gleichermaßen der koranischen wie der zivilrechtlichen Einfriedung im Wege
stehend, könnte endlich einheitlich gehandhabt werden und träte so aus dem
Halbdunkel des Ghettos heraus. Eine kanonisch, also nach Bekenntnissen
gegliederte gesetzliche Form bände vielleicht auch noch kleinste Reste der
überkommenen (abendländisch fundierten) Textur mit ein, soweit sie mit den
Aussprüchen den Propheten vereinbar sind. Das dürfte keinen groß stören, denn
man wird schon viel früher dazu übergegangen sein, die in den muslimischen
Stadteilen zur Minderheit geschrumpften autochtonen Bevölkerungsanteile dem
neuen Diktum dezent zu unterwerfen. Es geht sicher auch etwas ruppiger, aber
wie gesagt: so muss das nicht zwangsweise kommen. Mag sich dieser Prozess auch
ziemlich in die Länge ziehen: dies allein garantiert schon den zunehmend
reibungslos vollzogenen Übergang. Das Lateinische als Grundlage einer mehr als
zweitausendjährigen Rechtstradition träte langsam aber unweigerlich hinter das
Hocharabische zurück, und in Deutschland fristete, neben dem Türkischen (das in
weiten Teilen des Landes zweite Amtssprache würde) das Deutsche ein zunehmendes
Schattendasein. Sicher: alles Türkische ist gerade in der arabischen Welt
einigem Misstrauen, ständigen Verdachtsmomenten ausgesetzt. Womöglich käme es
also auch hier zumGerangel mit den
übrigen muslimischen Mitbürgern, die vielleicht Nachfahren derer sein werden,
die nach der ´arabischen Zeitenwende´ mittels einer unbefristet verliehen
Greencard ins Land kamen (zum Beispiel); aber auftretende
Meinungsverschiedenheiten würden nach islamischen Recht fair ausgehandelt. Wer
nicht spurt, der bekäme allerdings eine Rechtssprechung zu spüren, die mit den
eher laschen Praktiken unserer Tage nicht mehr viel gemein hätte. Auf Dauer
dann doch wieder das Hauen und Stechen?
Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, das ich etwas weiter als
eigentlich erlaubt in die Zukunft geschielt habe; da muss, zwangsweise, vieles
verschwommen bleiben und selbstverständlich steht es jedem frei, das alles für
übertrieben oder meschugge zu halten. Doch mögen die Umrisse noch so vage
scheinen: sie zeichnen sich heute bereits immer klarer ab. So in der Bildung,
die sich zwingend über Sprache definiert und entwickelt. Etliche, vor allem
traditionell verhaftete Bildungsinhalte sind ja schon längst von der Bildfläche
verschwunden, so der Heimatkundeunterricht, der natürlich umso weniger Sinn
macht, je weniger die regionalen Besonderheiten in einer bloßen
Informationsgesellschaft noch irgendwie tangieren. Schon komisch: eine
ur-europäische Variante faustischer Entfaltung – das Infragestellen und ´aus
dem Weg räumen´ überkommener Traditionen – könnte am Ende mit zum Untergang
geronnener Substanzen beitragen. Egal wie man diesen Begriff fasst: vieles ist
schon versunken, verschollen, verstaubt; verblasst in alten Lehrbüchern oder
Archiven, wo sie auch hingehörten, denn keiner wüsste die Inhalte später noch
sinnstiftend nach zu vollziehen, und keiner wird sie dann vermissen, da ihre
gestalterische Kraft längst ins Leere gelaufen sein dürfte, weil der
begleitende Rahmen einfach nicht mehr steht. Die Sprache selbst hat sich
bereits, wiewohl gesprochen und gedruckt in einer Fülle wie nie zuvor, auf fatale
Weise abgenutzt. Sie wird zudem überflüssig in Parallelräumen, die mittlerweile
so geschlossen funktionieren, dass jede zusätzliche Öffnung seitens derer, die
verzweifelt dagegen halten, der Hermetik nur zusätzliche Dämmung verschafft.
Ein Phänomen, das man mittlerweile überall auf der Welt beobachten kann.
Welchen US-Amerikaner kratzt denn noch, um nur dieses Beispiel zu nennen, dass
in weiten Teilen des Südens die spanische Sprache das Angelsächsische längst
verdrängt hat? So auf Ämtern und in Lokalen, am Arbeitsplatz und in Schulen,
die man denen, die es zu integrieren galt, groß und breit ´geöffnet´ hat.
Jedoch, bei aller kulturellen Divergenz: ein eigenes Rechtssystem fordern diese
mehrheitlich der katholischen Konfession zugehörigen Einwanderer nicht. Das
Hispanische aber ist im amerikanischen Süden praktisch Amtssprache geworden. So
weit sind wir, die türkische Sprache betreffend, in Deutschland lange noch
nicht. Aber durch den muttersprachlichen Unterricht einerseits, die Dominanz
der Heimatsprache in den entsprechenden Vierteln andererseits dürfte es nur
eine Frage der Zeit sein, bis die Etablierung der Maxime Erdogans (erst
türkisch, dann deutsch) dezent und diskret - ganz von selbst - Realität
geworden sein wird. Wie gesagt: das alles könnte sich insofern reibungslos und
geschmeidig vollziehen, als das der autochtonen Bevölkerung die Wahrung und
Verteidigung überkommener kultureller Werte und Substanzen (Sprache ist so eine
Substanz, und womöglich die fundierendste) keinen entsprechenden Aufwand mehr
wert sein dürfte. Vor diesem Hintergrund – ich sprach oben von einem Vakuum –
schrumpft die Verpflichtung, sich der autochtonen Lebensweise anzupassen,
langsam und unaufhaltsam, geradezu unerbittlich auf ein letztes Minimum; sinkt
zur Bedeutungslosigkeit herab. Der sogenannte Euro-Islam, den der Soziologe
Tibi konzipierte, wird in demselben Maße hinfällig; schließlich ganz
überflüssig. Sicher: irgendwie gibt es ihn sogar. Eine Minderheit lebt ihn,
weitere Minderheiten lehnen ihn natürlich strikt ab, die breite Mehrheit aber,
um die sich am Ende alles dreht, wird am Ende eher ihren Vorbetern und
Vereinsoberen, den Clanchefs und Friedensrichtern folgen als sich freiwillig in
das Terra Incognita eines komplizierten, in seiner verwirrenden Gesamtheit eher
diffus denn klärend wirkenden Gemeinwesen zu begeben, mit dem wir selbst nie
ganz zurande gekommen sind: eines, das an sämtlichen Rändern schon bedrohlich
bricht und bröckelt. Halten sie kurz inne, und prüfen sie ernsthaft, ob sie
auch wirklich begriffen haben, was das heißt, falls es ihnen bis hierhin immer
noch nicht klar geworden ist. Der Islam ist im Kern eine offenbarungseidliche
Gesetzesreligion, mit strikten Vorgaben, mit ganz klaren Vorschriften und
Verboten, das Politische lässt sich gar nicht vom Sakralen abschneiden, beide
ringen nicht miteinander, beide sind eins, untrennbar miteinander verschmolzen
– nicht verwoben. Das kann und wird nicht ohne Folgen bleiben für das
öffentliche Leben, es muss mit dem Prinzip der Gewaltenteilung, mit der
Trennung weltlicher und privater Entwürfe, die persönliche Freiheit überhaupt
erst ermöglichen, zwangsweise kollidieren. Auf der rechtlichen Ebene zeigt sich
in Deutschland ja schon jetzt der Vorrang bzw. die übergeordnete Bedeutsamkeit
der Clanzugehörigkeit, als religiös-traditionelle Verstrickung, die das davon
divergierende recht-staatliche Prinzip zunehmend ad absurdum führt. Letzteres
gerät unter Anpassungsdruck, fügt sich in Schüben der orientalischen Variante;
nicht umgekehrt. Joachim Wagner hat es in seiner Studie eindrucksvoll
dokumentiert (J.WAGNER: Richter ohne Gesetz. Berlin 2011). Am Ende wird es
nicht die deutsche Rechtsprechung sein, die den desaströsen Wust
innermuslimischer Kalamitäten auflöst, sondern die Scharia selbst. Auch das mag
in manchen Ohren monströs klingen, doch jene, die so hören, überhören
beharrlich, was schon jetzt an Mißtönen anklingt. Ein nicht mehr ganz so
aktuelles Beispiel soll als Mahnung den Sachverhalt verdeutlichen helfen.
Erinnern sie sich für kurz an die Vorfälle rund um Pro NRW,
deren Vertreter im Zuge des Landeswahlkampfes im Mai diesen Jahres vor Moscheen
gezielt provozierten und damit salafistische Befindlichkeiten auf´s Äußerste
berührten. Warum erwähne ich diesen Zwischenfall, wo doch die Masse der in
Europa lebenden Muslime mit dem salafistischen Modell einstweilen kaum etwas
anfangen kann und will und nicht im Mindesten auf Krawall gebürstet ist? Die
sog. ´Extremisten´ werden am Ende kaum den sichtbaren Ausschlag geben, aber,
auch das gehört ins Bild, sie pointieren schon jetzt das Gesamtbild, indem sie
es weniger trüben oder überzeichnen: mehr die Grundproblematik als solche
veranschaulichen. Zuspitzungen eignen sich vorzüglich zwecks Verdeutlichung.
Aus diesem (Vor)Fall (nebst Folgen) kann man so unglaublich viel lernen, er
berührt etliche Problemschichten gleichzeitig. Die Reaktionen zeigen im
Dutzend, wo´s schon jetzt so richtig hakt. Die vielen kleinen Ärgerlichkeiten,
die noch auf uns zukommen werden, werden bereits hier deutlich sichtbar;
vorausgesetzt, man schaut mal etwas genauer hin. Der SPIEGEL sprach vom
´privaten Krieg´ und dazu passte im Grunde, das ein Polizeibeamter (womöglich
vom Verfassungsschutz gestellt) selbst bekennender Salafist sei; der meinte
ebenfalls, das sei doch ´Privatsache´. Wie auch immer: die angemeldete und
genehmigte Demo (nebst unangemeldeter und folglich nicht genehmigter
Gegen-Demo) war alles andere als privat, sie war dann öffentlicher als jede
dieser harmlosen Nullachtfünfzehn-Demos, an die sich hierzulande nun wirklich
jeder längst gewöhnt hat. Die Reaktion der muslimischen Verbände war gleichsam
bezeichnend: man solle das ganze einfach ignorieren. So läuft also schon jetzt
die Arbeitsteilung: statt einer diskursiven Auseinandersetzung (oder läuft die
demnächst auch nur noch selektiv?) kommt es entweder zu heftigen Reaktionen
oder einer verordneten Windstille, die den Fortgang in eigener Sache folglich
auch nicht stören wird. Zwischen einem mittlerweile via Netz angeordneten
Auftragsmord und dem Verbandsinternen Schweigegebot gab und gibt es also
nichts. Darf es wohl auch nicht. Frage: wie reagierten wir wohl (als in Resten
christliche gestimmte oder gesinnte Gemeinde), beleidigte oder kränkte man uns
durch irgendetwas oder irgendwen? Im Sinne der nazarenischen Lehre bäten wir
vielleicht im Stillen um Vergebung, in jedem Falle bäten wir aber zum Gespräch,
suchten wir den Dialog. Das ´predigen´ auch unsere verbliebenen Kirchenväter
ständig, und bei solchen Gelegenheiten können sie, die keiner mehr ernstlich
zur Kenntnis nimmt, auf sich und ihresgleichen aufmerksam machen. Der
Fernsehpastor Fliege schlug schon vor Jahren vor, ´mit den Terroristen von
heute über die Welt von morgen zu sprechen´. Diese mobilisieren lieber ihre
Exekutionskommandos, während die sittsamen Vertreter der Zunft lieber
ignorieren, was nur den strikten Fortgang störte. So ist das, so läuft das in
derlei Kollektiven. Die Reaktionen der Zeitungsleser, alles sozusagen ´private
Einzelindividuen´, passten sich dem Trend der anderen Seite auf ihre Weise an.
Im Focus schrieb einer, er wolle weder Rechte nochSalafisten, denn:“ beide Seiten sind in
unserer Demokratie unnütz.“ Davon also lebt eine Demokratie: gefälligst in Ruhe
gelassen zu werden. So träumte auch die breite Masse im dritten Reich, jeder
einzelne je gleich: lasst mir meine Ruhe, davon will ich nichts wissen. Wenn
das der Führer wüsste! Kleine Kinder reagieren ganz ähnlich: raus aus meinem
Sandkasten, mit euch spiele ich nicht. Sind sie, die ´Spielverderber´, es denn
wirklich: unnütz und überflüssig? Wer oder was prüfte noch den Bestand, ja die
Sinnstiftende Ordnung eines zivilen Gemeinwesen, wenn es diese Störenfriede und
Stunkmacher nicht gäbe? Ist diese Demokratie, die wir den rückständigen Völkern
dieser Welt ganz selbstverständlich bei jeder geklonten Stimmzettelvergabe als
letztes, hehres Ideal verkaufen, ist die denn wirklich so bequem, so billig und
zum Spartarif erhältlich? Und wofür denn – etwa, um jede noch so trübe Suppe
damit nach zu salzen? Gehören derlei deutliche Divergenzen, wie sie die Rotte
von Pro NRW provozierte, nicht irgendwie auch, zwecks Verortung und Verrechnung
eigener Standpunkte, von Zeit zu Zeit mit dazu? Nein, die echten Demokraten
wollen ihre Ruhe haben, dürfen nicht gestört werden, wollen aus ihrer miefigen
Dünnsuppe keine unnützen Brocken heraus fischen müssen, das störte die
Verdauung – den Restefurz. Gewiss: jene Gewalt, wie sie von Salafisten,
Autonomen oder Neonazis an den Rändern der Gesellschaft hoffähig gemacht wird,
kann nur mit rechtstaatlicher Gegengewalt beantwortet werden und geht, formal,
eher die Exekutive etwas an. Mit solchen will auch ich nicht in den Sandkasten
steigen. Pro NRW sei aber, so las man in diesen Tagen bis zum Erbrechen,
gefährlich für die Demokratie. Denn sie haben eine Demo angemeldet und eine
Handvoll Verwegener stellte sich vor eine Moschee und einer von denen hielt
sogar eine Mohammed-Karikatur hoch. Ich finde es allerdings auch ziemlich doof,
dass es immer und ewig die rechten Krakeeler sind, die hier ihre Pfoten in
offene Wunde strecken. In diesem Falle machten sie vom Grundrecht der
Meinungsfreiheit in Form eines, zugegeben, eher einfallslosen Happenings
Gebrauch. Pro NRW war und ist wohl eher eine Nagelprobe; ein Test, ob diese
Demokratie überhaupt noch eine ist. Wollen wir jetzt in vorauseilendem Gehorsam
alles verbieten, was irgendwie Ärger bereitet und unsere heimelige Ruhe stört?
Reicht es, mit Messern herum zu fuchteln, um zu bestimmen, was noch in den
öffentlichen Diskurs darf und was nicht? Kann und darf solcher Krawall
bestimmen, was einer auf einem Transparent hoch hält oder nicht? Läuft das
jetzt nur noch unter angedrohter bzw. angeordneter Todesstrafe? In der
öffentlichen Reaktion auf die Demo wurde jedenfalls nicht mehr unterschieden
zwischen hämischer Islamkritik (in den Medien lief es unter dem Schlagwort
Islamfeindlichkeit) und rabiatem Totschlag, der sie solcherart zu verhindern
versucht. Die einen wie die anderen waren jetzt gemeinsam ´die Extremisten´,
wiewohl die einen sich immerhin an die Spielregeln hielten. Die anderen nicht.
Ausgerechnet der Innenminister und der ihm direkt unterstellte Polizeipräsident
nörgelten etwas infantil, es sei gezieltprovoziert worden und das müsse jetzt verboten werden. Aber das
kennzeichnet doch ganz wesentlich JEDE Demo, anders funktioniert sie gar nicht,
da wird grundsätzlich mittels Transparenten, Reden usw. bewusst provoziert, mal
satirisch, mal kämpferisch; wie auch immer. Sogar der harmlose Karneval läuft
nach diesem Prinzip ab. Das steht, nach deutschem Recht, auch den dubiosen
Finsterlingen von Pro NRW zu. Dass sie eine Karikatur dabei hoch hielten wird
ihnen ja gesondert zum Vorwurf gemacht. Damit allerdings stehen sie in langer
abendländischer Tradition. Auch der ´Prophet des Protestantismus´, Martin
Luther, ist im Dutzend karikiert und herunter gemacht, als Esel, Teufel usw.
dargestellt worden. Daran ist die Erweckung nicht zugrunde gegangen und daran
stört sich heute erst recht keiner mehr. Und jetzt, mit einigen hundert Jahren
Verspätung, wollen Politik und Polizei (beides recht-staatlich voneinander
getrennte, wiewohl administrativ verwobene Bereiche) solches in bestimmten
Fällen also verbieten. Sie dürfen es aber (noch) nicht. Sicher: sie wollen den
Druck der Gegenseite solcherart dämmen, bis er sich wiederum an der nächsten
´Provokation´ entzündet. Es gibt ja so viele Möglichkeiten. Nach diesem Schema
schlachten Schiiten und Sunniten einander im Irak; zum Beispiel. In Syrien
bekommt jetzt die Herrscherclique der Alaviten um den Clan der Assad den
´Arschtritt der Geschichte´ verabreicht. Das konfessionelle Hauen und Stechen,
als Ergebnis sakraler Unerbittlichkeit, wird sich überall dort weiter
ausbreiten, wo man derlei Auswüchsen nicht frühzeitig strikt begegnet. Eine
Versiegelung bzw. dezente Einhegung recht-staatlich garantierter Freiräume, um
´Ruhe im Sandkasten´ zu haben, wird hierzulande keine Ruhe zeitigen. Das möge
sich jeder aus dem Kopf schlagen, der davon träumt. Erinnert sich noch
irgendwer an das legendäre SPIEGEL-Cover mit dem Papst vorne drauf? Der hielt,
Zeter und Mordio, ein Kondom in der Hand. Was gab das für ein Theater! Lauter
empörte Leserbriefe. Da lebte wohl noch einmal eine etwas ältere Generation
auf; jenseits jener sich selbst genießenden Spaßkultur, die alles erlaubt und
sich bloß bei Islamkritik in die eigene Hose macht. Im Traum war damals aber
nicht mit Messerstechern zu rechnen, die der Verunglimpfung des heiligen Stuhls
blutige Sühne schworen. Es fand kein (Volks)Sturm auf die Spiegel-Redaktionen
statt. Der nächste Papst hatte so etwas ähnliches auch nur zu befürchten, als
er einen traurigen byzantinischen Herrscher zitierte, der am Vorabend der
Eroberung seines Restimperiums durch die Osmanen kläglich klagte. Benedikts
brave Bonmots erregen seither sehr viel weniger Anstoß im saturierten Europa.
So schrecklich wichtig nimmt hier keiner, was der heilige Stuhl zu melden hat.
Ist das am Ende etwa auch schon Frevel? Welcher wiegt überhaupt schwerer,
möchte man, wiederum im Blick auf besagte Demo, fragen. Beide Seiten sind in
der Berichterstattung auf eine Stufe gehoben worden: die Provozierer und die
Totschläger, die rechten Hetzer und die muslimischen Messerstecher. Man muss
die Mischpoke um Pro NRW wahrlich nicht mögen, aber formal-rechtlich hatten
sich diese Leute gar nichts zuschulden kommen lassen. Die schweren Angriffe der
Gegenseite reichten dann, um ein zu knicken – um ein Verbot zu erwägen, das
rechtlich nicht zulässig ist. Gegen den braunen Hausiererverein ´vor zu gehen´,
der gerade einmal 30, 40 Mitmacher mobilisieren konnte, das wurde ganz
ernsthaft erwogen. Die Gegenseite, die Salafisten, sind allerdings viel
kompromissloser, zielstrebiger, eindeutiger, auch organisierter und auf alle
Fälle zahlreicher als das Häuflein Pro NRW. Dies gilt für alle
fundamental-religiösen Sekten, das macht ihre Anziehungskraft aus, gerade darob
sind sie ihren Gegnern auf Anhieb immer überlegen und das ist der Grund, warum
in den muslimischen Staaten Geheimdienste und Staatspolizei bislang jeden
Ansatz irgendeines Aufbegehrens rigoros im Keim erstickten, jede kleinste
Ansammlung sofort niederknüppelten. In Stadtvierteln, auf öffentlichen Plätzen
und so weiter. Das wird in Marxloh, Neukölln oder Kreuzberg natürlich nicht
geschehen. So einfach hat es der Rechtsstaat nicht. Und deswegen koppeln sich
diese Stadtteile schon jetzt ganz dezent ab. Keiner hindert sie daran. Wer von
den Autochtonen nur irgend kann, der haut hier sowieso schleunigst ab. Den Rest
erledigen vor Ort die ´Erben´ - die Funktionäre, Imame und Friedensrichter; die
Clanobersten und ihre jeweiligen Rivalen. Wie gesagt: das sind meist nette,
umgängliche Menschen. Wenn man sie lässt. Und bei weitem nicht jeder Salafist
wütet mit Knüppeln und Eisenstangen. Die meisten wollen einfach nur in Ruhe
ihrem Glauben frönen. Und eine Versiegelung bzw. dezente Einhegung recht-staatlich
garantierter Freiräume kommt dem schon jetzt brav entgegen. Das ist dem Hauen
und Stechen wohl vor zu ziehen. Nur die Zukunft wird zeigen, ob derlei
behutsame Übereinkünfte dominieren oder die Grabenkämpfe zunehmen werden.
Wir leben in einer Übergangszeit, einer Phase der Latenz.
Gleich welchem Selbstverständnis er gehorcht, welcher Ausrichtung er auch je
folgen mag: der Islam tritt im europäischen Umfeld als bereits beachtlich
gewachsene, ständig selbstbewusster agierende Minderheit auf und dies in der
mehr gefühlten als schon zu Gänze gelebten Gewissheit, als solche zunehmend
stärker in Erscheinung treten zu können. Es wird immer so gerne zwischen
Extremisten und Gemäßigten unterschieden, das diene angeblich der
Objektivierung, aber im Kern verbirgt sich doch ein verdächtiges Subjektivum
dahinter; eines nämlich, das bequeme Fronten schaffen möchte, zwischen Gut und
Böse sozusagen, wiewohl beide, Gemäßigte und Gestrenge, letzthin derselben
offenbarungseidlichen Unerbittlichkeit Folge leisten – leisten müssen. Und
beide haben auch gar kein Problem damit, die insgeheim verachtete Moderne, als
das Ergebnis totaler westlicher Dominanz, die in über fünfhundert Jahren alles
hervor gebracht hat, was heute den Erdball prägt, unterschiedlich zu ignorieren
oder zu verachten und dennoch in eigener Sache zu nutzen – aus zu nutzen.
Schauen sie: sogenannten Islamisten, etwa Salafisten, hantieren wie
selbstverständlich mit Handy und Laptop, sind auf You Tube und Twitter präsent
und wettern ganz ungeniert gegen westlichen Unglauben und westliche Dekadenz,
deren dynamische Potenzen, als späte Renten rigoroser Grundlagenforschung,
derlei lockere Gebrauchsmedien überhaupt erst möglich machten. Sie kapieren
nicht im Ansatz den Widerspruch, das schlechthin Widersinnige, Absurde ihrer
eigenen Art, zu leben; zu sein. Wie auch immer: sie sind bestrebt, jenen
Glauben, der vor bald anderthalb Jahrtausenden aus der Wüste in die weit(er)e
Welt kam, zu leben, und dies, trotz ungenierter Nutzung fremder Leihgaben, ganz
resolut und rücksichtslos, hart am Text, innig im Gebet, bis ins Kleinste
unerbittlich. Sie sind, ist meine feste Überzeugung, viel näher am ´wahren
Islam´ als jene, die uns derlei diffuse, so undurchsichtig wie auch zwielicht
werbenden Varianten solcher als ´echt´ verkaufen wollen, deren Vorgehensweise
weniger rigoros, mehr taktisch, mehr kalkuliert zu sein scheint. Unsere
Gutmenschen sind´s zufrieden. Salafisten kämpfen indes mit offenem Visier, man
kann sie gut einschätzen, sie bleiben insgesamt durchschaubar, eine vor allem
auch zahlenmäßig überschaubare Menge, und noch in den rabiatesten Entäußerungen
bleiben diese Menschen berechenbar; so merkwürdig das auf Anhieb auch klingen
mag. Solches gilt gerade nicht für die restliche Zahl hier lebender Muslime,
die auf ganz unterschiedliche, mal mehr und mal weniger strikte Weise
versuchen, ihren Traditionen gerecht zu werden. Die leben ganz und gar nicht
jenen Ur-Islam, dem jene krampfhaft nacheifern, sie lavieren zwischen
Tradition, Erweckung und Moderne hin und her, aber es sind eben doch die
sogenannten Extremisten, die dem Islam näher kommen, weil sie damit wirklich
ernst, bitterernst machen. Die zumeist technischen Errungenschaften der Kufr
sind denen bloß ´Beute´; eine, die sie, ihrer heiligen Zwecke hörig, auch
wirklich nur geraubt haben. Was liegt denen an einer wirklichen, an einer
ernsten Auseinandersetzung mit der fremden Materie, am tastenden, tatsächlich
lernenden und damit im Ergebnis selbstständigen, freien Umgang mit den
weltlichen Ablegern? Einen Königsweg gibt es ohnehin nicht. Man kann ein Leben
lang lernen und doch nur Plagiate hervorbringen: jede noch so raffinierte
Etikettierung wird nichts daran ändern können. Abgekoppelt von jeder bloß
richtenden Erbauung, die nur den Blick verstellt und selbst nichts in Aussicht
stellt, könnte eine souveräne Aneignung gelingen. Dieselbe aber, zum
letztgültigen Prinzip erhoben, verstärkt nur jene sture Starrheit, die als
Attitüde Allmacht garantiert, alle Bereiche des Lebens regelt und damit
gleichzeitig verriegelt; sie ist vielleicht nur eine Marotte (als solche würde
sie womöglich ein geschulter Tiefenpsychologe auffassen), aber dennoch stark
genug, jede abweichende Regung schon im Ansatz zu überwältigen. So bleibt eben
alles steht, hinkt vielleicht ein wenig hinterher; mehr kann und darf nicht.
Veränderung? Nur im persönlichen Auskommen, so weit es die Riten nicht
untergräbt. Womit wir wieder bei Tibis These von der halben Moderne angelangt
wären, für die jener gescholten wurde; glaubhaft widerlegt hat sie allerdings
auch keiner. Denn der Islam, den gewisse Protagonisten krampfhaft in eine
weltumspannend tätig gewordene Moderne retten wollen, als letztgültige,
unwiderlegbare, Gottgesandte Wahrheit auf Ewig und Immer, der bleibt sich auf
eigentümliche Weise selbst immerzu gleich, er muss und kann gar nicht anders,
er duldet keinen Kompromiss; mag er bloß im Hintergrund lauern oder schon im
Vordergrund prunken. Er steht; stolz und unverändert, unbekümmert gegen jede
bloße Beigabe. Machen sie sich bitte die Mühe, diesen einen Gedanken in seiner
ganzen Tragweite zu begreifen; gleich, ob sie ihn je teilen werden oder nicht.
Denn was hieße das in letzter Konsequenz? Noch eine beachtliche Minderheit in
Europa, würde die rasch wachsende muslimische Gemeinde immer stärker den Essenzen
der Erweckung erliegen. Wie anders auch. Die militanten Extremisten von heute
sind eine Minderheit, der es nicht schnell genug gehen kann. Sie leiden an den
zahlreichen Widersprüchen, die das westliche Zivilisationsmodell als dauernde,
stets auf´s Neue zu bewältigende Erblast mit sich schleppt viel inniger als
ihre Glaubensbrüder, - und Schwestern. Sie können oder wollen nicht die nötige
Geduld aufbringen, empfinden sich als zu klein und zu nichtig und haben die
allumfassenden, Sicherheit und Ruhe spendenden Gewissheiten schon jetzt, nicht
erst morgen bitter nötig. Daher auch so verhältnismäßig viele Konvertiten unter
denen, die nicht warten wollen. Das, was sie predigen, wird aber im Laufe der
Zeit ganz von selbst zum Allgemeingut derer werden, die heute eher still und
unauffällig agieren, jene breite Masse unterschiedlich konfessionierter
Muslime, die irgendwie versuchen, in einer fortschrittlichen Massengesellschaft
zurecht zu kommen. Nicht länger verschroben und verstörend wird die Erweckung
einmal ´rüber kommen´, weil sie darob eben längst Mainstream geworden sein
wird: sicher netter verpackt, umso selbstbewußter gehandhabt – schon ganz
normal und selbst Normen, Regeln setzend. Solcherart auch aus dem Ghetto der
Schreihälse und ´Messerstecher´ herausgetreten, wird alles viel ziviler,
offizieller - ´ordentlicher´ bewerkstelligt werden. Dann bedarf der Fundus auch
keiner künstlichen Düngung, keiner gedopten Ingredienzien mehr. Er gedeiht
darob ganz aus sich selbst. Es ist natürlich schwer vorstellbar, dass eine
alte, wiewohl ´gewachsene´ Kultur den Spagat zwischen eigener Moderne und
fremder Tradition ganz glatt und ohne Brüche hinbekommen wird. So leicht wird
es nicht laufen. Irgendwann aber, das sollte bis hierhin deutlich geworden
sein, ist der eigentliche Prozess selbst ´gelaufen´ - die letzten Reste
angestammten Selbstverständnisses läufen dann nur mehr ins Leere oder kläglich
hinterher. Wem vor derlei Aussichten gruselt: nichts ist für immer außer der
Ewigkeit selbst. Auch die byzantinische Theokratie kam an ihr Ende, wiewohl sie
über tausend Jahre das Szepter führte. Wahrung und Pflege des antiken Erbes
vollzogen sich hier gleichsam im Hintergrund, der das öffentliche und private
Leben kaum striff. Das blieb Sache weniger Gelehrter, Schreiber und Kopisten.
Die Schriften des Aristoteles, auf den sich auch muslimische Reformer
(erfolglos) beriefen, fristeten Jahrhunderte lang ein solches Schicksal, und
denen Schopenhauers und Nietzsches könnte es einmal ähnlich ergehen – falls die
koranische Erweckung in Zukunft überhaupt derlei private Erbauung gestattet. Im
Byzanz der mittleren und späten Epoche war Bildung allenfalls einer versteckten
Hege und Pflege anheim gestellt: mehr war nicht, musste nicht. Daher die
eigentümliche Starre dieser Welt, der erratisch anmutende Wachschlaf eines
Reiches, das am Ende tatsächlich an der eigenen Erschlaffung zugrunde ging. Die
heran stürmenden Osmanen hatten leichtes Spiel. Kulturen benötigen eben zwecks
Entfaltung und Entwicklung Freiräume jenseits sakraler Fundierungen, brauchen
jene Trennung weltlicher und geistlicher Macht, die Dynamik überhaupt erst
ermöglicht. Derzeit ist der in Europa Fuß fassende Islam noch halbwegs wendig
und kompromissbereit; wohl weil er auf zahlreiche Taktiken angewiesen ist, um
sich überhaupt in einer ´ungläubigen´ Mehrheitsgesellschaft zu etablieren. Er
tut das auch. Es sind nette, umgängliche Leute, mit denen man es zu tun hat und
sie sind, für ihre Verhältnisse, auch alles andere als verstockt oder stur. Die
weiter wachsenden, sich festigenden Strukturen werden indes schon heute beerbt,
übernommen und diskret ´nachjustiert´ - es sind dann andere als die Kolat und
oder Kizilkaya, mit denen darob verhandelt, gestritten - gerungen wird. Die
heute noch moderat gestimmten Vertreter muslimischer Einwanderergenerationen
werden umso schneller vergessen, je zügiger die Erben in ihrem Bemühen,
Einfluss und Macht zu mehren voran kommen. Bald werden sie das Aushandeln auch
gar nicht mehr nötig haben und es wird ohnehin keiner übrig sein, der darauf
überhaupt noch etwas gibt. -
Es kann fast als Dogma gelten: Zuwanderung muss und soll zu
einer Bereicherung gewachsener demokratischer Strukturen, zur Befruchtung
derselben ohne Einbußen beitragen. So pfeifen es die Spatzen von Dächern und
Giebeln, über´s weite Land hinweg. Aber der dressierte Singsang verfängt nicht,
weil das Liedchen längst leiert und jedem noch so störrisch verordnetem
Gleichtakt widersteht. Ständig wurde und wird von einer Angleichung und
Anpassung divergierender Ansätze geredet, und wer will schon zugeben, das es
miteinander konkurrierende, im mindesten schlicht divergierende Elemente sind,
die am Ende jeder ausgleichenden Symbiose im Wege stehen werden. Sicher:
harmlose Folklore fügt sich meist ganz vorzüglich in den je gewünschten Kontext
ein. Nach 45 boomte nicht einzig in Europa die Unterhaltungsindustrie, und mit
ihr kamen allzu spät auch die Bülent Ceylan oder Sibel Kekilli, Fatih Akin oder
Django Asül auf die Mattscheibe, von der sich sagen lässt, das sie, über´s Netz
oder via Television, noch am ehesten zu einer global erlebten (kaum gelebten)
Multikulturalität beitrug, die umso trügerischer erscheint, je auffälliger die
negativen Begleitmomente in den schnöden, immer schneller abschnurrenden
Vordergrund rücken. Durch moderne Unterhaltungsmedien ist Multikulti wahrhaft
Wirklichkeit geworden; als ein diffuser Wust unverbindlicher Allgemeinplätzen,
deren bloße Summen jeglichen substanziellen Gehalts aus Prinzip entbehren.
Daran krankt diese Gesellschaft ganz gewiss, aber daran wird sie nicht zugrunde
gehen. Das allein langt kaum hin, gewachsene Strukturen im Handstreich
aufzufasern. Multikulti – was ist das denn eigentlich? Was verbirgt sich
tatsächlich hinter diesem dauernd Farbe und Form wechselnden Etikett?
Multikulti - das ist vermutlich von Anfang an ganz bewusst so diffus gemeint
gewesen, wie es ständig rüber kommt und gleicht damit der fidelen Beliebigkeit
austauschbarer Ethno-Trends, die gerade in diesem Zusammenhang immer zwecks
Schönung der Fassaden bemüht werden und in einer übersättigten
Wohlstandsgesellschaft im Rekordtempo nachwachsen um noch schneller zu
verblühen; wie schillerndes Unkraut. Ist MK nur ein Zustand oder verbergen sich
auch noch konkrete Ansprüche dahinter? Enthielte man sich in Anbetracht der
erstgenannten Option jeglicher Wertung, dann wird wohl niemand ernstlich
leugnen können, dass die Welt des 21. Jahrhunderts eine zunehmend
multikonfessionelle, multiethnische geworden ist, verwoben und verwachsen, und
dagegen spricht zunächst auch gar nichts; ganz im Gegenteil. MK besagte dann
lediglich, das sich das Zusammenleben der Völker (und sei es als bloßes, nur
partiell aufgelockertes Nebeneinander) auf immer engerem Raum vollzöge und zu
einer Vermischung führt, die in der Geschichte immer wieder am Beginn
Hoffnungsfroher Entwicklungen stand. Billig nur, ja blöd, dass dies so gar
nicht ohne Reibung abgeht. Eben weil die jeweiligen Eigenarten jenseits
unverbindlicher Spielereien auch als handfesteAnsprüche daher kommen und als solche nicht bloße Absichtserklärungen
bleiben können. Den Prozess als solchen wird niemand in Abrede stellen können
und er offenbart im Ergebnis einmal mehr jene Heuchelei, die der Gemeinde der
Wohlmeinenden wie eine zweite, picklige Haut anhaftet. Jene, die sich noch
gestern bequem hinter MK als ´schöner neuer Welt´ versteckten lästern heute wie
selbstverständlich über so viel Naivität ab: aus einem Modewort wurde ein
peinliches Unwort und der Bequemlichkeit ist eine Nervosität gefolgt, die mehr
aussagt über jene, die von ihr befallen sind als über den Ist-Zustand als
solchen, der besorgniserregend bleibt. Was für Symptome kommen da eigentlich
zum Vorschein? Multikulti ist so zwiespältig wie Multimedia. Der künstliche
Überfluss an allem, den uns die elektronischen Informationsträger suggerieren
hinterlässt zunehmend ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Leere. Das
Meinungsmachende Medienkarussel sorgt mit erhöhter Umdrehungszahl nicht nur für
Zerstreuung sondern garantiert auch, dass jedem die Gülle hoch kommt, der sich
auf dem tumben Jahrmarkt durch´s Angebot gesoffen und gefressen hat. Nichts
scheint den Niedergang öffentlichen Lebens besser zu kennzeichnen als eben
diese Überfressenheit an allem. Der ganze filterlose Konsum, fahrig und
verwegen, ungebrochen und nahtlos, auf allen Sites oder Kanälen, wird als
solcher infolge adaptiver Begleitprozesse gar nicht mehr als problematisch wahr
genommen. Wenn es überhaupt Anzeichen dafür gibt, das Dekadenz sich breit
macht, dann bieten sie uns die unterschiedlich positionierten, wiewohl
einheitlich seienden Massenmedien, die vermittels ihrer immer unbekömmlicheren
Erscheinungsformen ungebremst nachliefern, was die modernen Fastfood-Junkies
verlangen: eine dauernd schnelle, meist schale Befriedung brach liegender,
plump überfliegender, dennoch passiv verbleibender Instinkte. Man hüte sich
davor, dieses im Wesentlichen durch moderne Medien potenzierte Dilemma als
etwas grundsätzlich Neues zu deuten. Abfallende Gesellschaften, deren Kultur
man als hoch bezeichnen könnte, hatten stets ein Faible für seichten Witz und alberne
Unterhaltung. Man attestierte etwa der Doppelmonarchie, dass sie an innerer
Fäulnis zugrunde gegangen sei, an der sie angeblich unheilbar krankte. Zu viel
hektische Nervosität, zu viel leeres Amüsement – zu viel, zu viel. Auch dieser
Dekade hat man den Stempel des Krisenhaften aufgedrückt, aber außer einer
Handvoll Intellektueller wollte oder konnte das seinerzeit keiner einsehen. Wie
sich die Bilder jenseits konstituierender Konturen doch ähneln. So viel Spaß
und Spott, so viel Schrott und Schrumps wie heute war noch nie, selten
begegnete einem der Kalauer so sehr auf Schritt und Tritt, aber ähnlich empfand
es auch schon der Kreis um Schnitzler und Co., und die taten ihrerseits nichts,
dem in eigener Sache Einhalt zu gebieten, wiewohl sie mit den gewaltigen
Umbrüchen auf allen möglichen Gebieten, die ihre Epoche kennzeichneten,
innerlich nicht fertig wurden. Auch heute dumpft, allen harmlosen Vergnügungen
zum Trotz, unterschwellig ein Gefühl des Verlorenseins, der Unsicherheit, des
heillosen Unbehaustseins durch die unsteten Gemüter. Es fällt auf, das diese
kollektiven, ungebrochen fortwirkenden Gemütsverirrungen mit einer zunehmenden,
immer breitere Teile der Gesellschaft erfassenden Prosperität korrespondieren.
In den letzten gut hundert Jahren sind den Gesellschaften Europas oft genug
schmerzliche ökonomische Talfahrten zugemutet worden, dennoch tat das dem Trend
einer fortlaufenden Optimierung sämtlicher Lebensbereiche insgesamt keinen
Abbruch. Womöglich begünstigte das den behaupteten Trend, wer weiß. Der hat
sich mittlerweile mehr als warm gelaufen; kocht schon gewaltig über. Schauen
sie einmal ganz ruhig zu, wie flächendeckend und umfassend sich heute alles auf
Kalauer und Klamauk, auf Spaß und Event, auf Click und Post, auf Rotz und Kotz
reduziert. Die Oberflächlichkeit des je verordneten Umganges, der Akademiker
und Analphabeten mittels passend geschusterter Formate annähernd in Deckung
bringt, ebnet das gesellschaftliche Leben ein und scheucht jeden halbwegs
ernsten Umgang in letzte Nischen zurück, in die schrumpfenden Reservate guten
Geschmacks sozusagen.´Die verblödete
Republik´, deren Parlamente neuerdings von postenden Internet-Piraten geentert
werden, die ihrerseits den unverbindlichen Zeitgeist-Dilettantismus zum
Programm erhoben haben, hat eigentlich längst fertig, das aber in endloser
Folge. Die allein selig machende, allmächtige Quote, die den ganzen Kodder als
merkantile Kotztüte zusammen hält, gilt mehr als jeder noch in letzten Resten
verbliebene Geschmack; und das Gestammel derer, die uns dieses Elend um die
müden Ohren wuchten, wächst sich zum akustischen Trommelfeuer aus. Nun könnte
man einwenden, dass es immer noch besser sei, die Allgemeinheit in törichter
Spaßlaune zu halten statt dem globalen Hauen und Stechen das endlose Feld zu
eröffnen. Zugegeben: auch mir macht´s irgendwie Spaß. Wir machen ja überhaupt
alle mit; wer könnte sich schon ganz aus solchen Zusammenhängen heraus halten?
Man kann nicht in Unschuld regieren, aber in Unschuld spaßen, das wird wohl
auch nicht ewig so weitergehen. Denn wir sind mit dem Ende der Blöcke auch
jener breit ausholenden Schirmung verlustig gegangen, in deren Schatten wir so
unbehelligt unserer Unschuld frönten. Europa hat seine Sonderstellung insofern
verloren, als das es sich, jenseits infantiler Unbekümmertheit, zunehmend mit
unkontrollierbaren Finanzkrisen nebst der unvermeidlichen inneren Querelen und
Rivalitäten herum schlägt. Es ist jedenfalls nicht länger aus zu schließen,
dass bereits innerhalb unserer eigenen Grenzen der Exodus erste Wellen
schlägt.
Keine untergegangene Kulturen wird an Dekadenz allein zugrunde gegangen
sein. Es muss immer noch etwas (oder mehr) dazu kommen, um das vermeintlich
Schwache und Schwankende, das Unbeständige und Unbedarfte, die Reste rasender
Überhebung so lange stoßen zu können, bis am Ende alles wirklich kippt. Die
Doppelmonarchie, von der eben die Rede war, erstickte kaum an übertriebener
Galanterie oder artifizieller Pedanterie (an letzterem wäre das ´ewige China´
längst zugrunde gegangen). Das Weltkriegsende vollzog nur ein Urteil, das die
im Innern dieses immensen multi-ethnischen Volkskörpers rumorenden kranken
Nationalismen längst ausgesprochen hatten. So kam es dann. Überhaupt: was soll
an dieser fidelen, so bunt wie witzig ´weanernden´ Operetten-Kultur
(Spaß-Kultur?) denn dekadent gewesen sein? Sie war bunt und ungemein
vielgestaltig, bot fortschrittlichen wie traditionellen Kräften Bewegung, einen
wirklich ausreichenden, ja großzügigen Raum zwecks Entfaltung und gewährte
gerade in ihrer Schlussphase beinahe mild waltende Obhut. Die Freud und Mendel,
Strauss und Lehar, Schnitzler und Hoffmannsthal und wie sie noch alle hießen,
konnten im späten Dämmerschein dieser Ordnungsmacht inniger schöpfen als
sämtliche ihrer Vorgänger. Um die Jahrhundertwende explodierte gerade in den
Landen der Abend-dämmernden KuK-Herrlichkeit die Kreativität auf einzigartige,
unwiederholbare Art und Weise; so im musikalischen (Mahler und Strauss als
geniale Spätlinge), so in der abbildenden Kunst (Klimt oder, allzu spät, Kokoschka).
Das Ordnung stiftende Gefüge zerbrach dann umso schneller, lautloser am
Irrwisch des Nationalismus, dem der Faschismus in Europa fast auf dem Fuße
folgte. Es blieb immerhin eine europäische Krankheit, die den angestammten
Erbteil schmälern, nie vollends schleifen konnte. Da ´ging´ etwas, indem es von
der Bühne abtrat; einen Abgang machte. Ich hatte schon darauf hingewiesen, wie
merkwürdig schnell das in einigen Fällen dann kam: als zünde noch einmal ein
versprengter Kalauer. Zeitsprung: das megalomane Konstantinopel war den
ungestüm vorpreschenden Osmanen nur noch der ´goldene Apfel´, sozusagen
´pflückfrisches´ Fallobst, das fast von selbst zur Erde sinkt und goldgelb in
der Nachmittagssonne verblutet. Von dem großen Reich des Justinian war zum Schluss
nicht mehr allzu viel übrig geblieben. Der Schrumpfungsprozess dauerte seine
Zeit, aber am Ende ging alles ganz schnell. Kurz vor dem Fall der Metropole
diskutierte man bei Hof über die Existenz von Engeln. Irgendwie auch dekadent.
Derlei überreife, schier platzende Gesellschaftskörper mögen von einer Art
Fieber befallen sein, aber das merkt man ihnen auf Anhieb eben kaum an. Sie
´arbeiten´ vorzüglich und wie bei einem gedopten Hochleistungssportler, der
noch im Delirium seine Sätze und Sprünge vollführt, gärt das Gift eher, als das
es die äußere Fassade der Gestalt sichtbar befiele. So ein ´Dauerläufer´ mag
sich innerlich zunehmend leer und ausgepumpt fühlen; noch aber zehrt er vom
Training, noch zuckt und zittert der ganze klamme, in Jahren hochgepowerte
Körper, er läuft wie geschmiert und am laufenden Meter. Trifft das schließlich
auch auf unser Europa von Heute zu, als einem zunehmend Gestaltlosen
Kulturkörper, der vor Einfällen und Ideen strotzt, der Ideale und
Sinnstiftenden Anschauungen aber schon entbehrt? Umtriebig und unruhig ist er,
wie eh und je; doch gleichzeitig wirkt er schon seltsam ratlos in all der
Rastlosigkeit, die seine Stärke seit je ausmachte. Die einstigen weltlichen
Gegenentwürfe, als Reaktion auf den ´Gottesverlust´ (Horst Richter), scheinen
längst zu unverbindlichen, oberflächlichen Bildungserlebnissen herab
geschrumpft. Befinden wir uns auf einem toten Gleis? Es bleibt fraglich, ob das
ungestüme Europa von heute jenseits eigener Betriebsamkeit noch die Kraft
aufbringen kann oder möchte, seine eigene Substanz zu verteidigen. Eine
hektische Moderne, die sich in täppischer Beliebigkeit genießt und dabei ihr
Wesentliches aus dem Auge verliert, tritt auf der Stelle, die ihrerseits nur
mehr den schwankenden Grund bildet, der jeglicher weiterer Grundlagen entbehrt.
Finis Europa – fideles Europa? Und schon im freien Fall befindlich?
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