Erschienen in Ausgabe: No 80 (10/2012) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Heike Geilen
"Wenn
ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, / hätte aber die Liebe
nicht, / wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.
Und
wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle
Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit
versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts."
(Korinther 13,1-2)
Auf
einer Feier im Schloss Bellevue anlässlich des 50. Geburtstages von Korbinian
Schneilin, einem angesehenen Molekular-Biologen und Unternehmer, sitzt der
renommierte Belletrist Basil Schlupp, Autor des Erfolgsbuchs
"Strandhafer", am Tisch der Frau des Bundespräsidenten. Doch nicht
sie erregt sein Aufsehen, sondern die Dame auf "höchstens halb zwei".
Die 45-jährige Maja Schneilin, Professorin für Theologie und Gattin des
Jubilars, mit ihrem "antiblonden" Haar und den "zierlichen
Lachexplosionen" aus einem Mund voller "vibrierender Bereitschaft",
erscheint ihm mit einer derart weiblichen Unverwechselbarkeit, dass es um den
armen Schreiberling geschehen ist. "Als man bei dem in Rebenholz
geräucherten Kalbstafelspitz mit Feldthymian-Traubensauce, Spitzkohlgemüse und
gefüllter Linda-Kartoffel mit Kaiserstühler Bauchspeck angelangt war und dazu
den trockenen Spätburgunder von der Ahr trank, und ich an der Bundespräsidentin
vorbei zu Frau Schneilin hinübergeblickt hatte, ohne auch nur einen einzigen
Antwortblick zu erhalten, spürte ich, dass mein Gefühlsstau bald nicht mehr
auszuhalten war." Schon am Tisch lässt er sich zu einer ersten
Unmöglichkeit hinreißen und einen Trinkspruch der Frau Präsident mit "Das
Leben ist zu kurz, um deutsche Weine zu trinken." parlieren. Die zweite
Verrücktheit folgt zwei Wochen nach dem einschneidenden Erlebnis. Schlupp
schreibt in einem Anfall von "Entblößungssucht" der Professorin einen
Brief und offeriert ihr seine "nicht bestellten Gefühlsangebote".
Maja antwortet und schnell entspinnt sich eine nicht alltägliche, ja fast
zwanghaft zu nennende "Briefekstase", auf dessen
"Schreibwiese" Schlupp Tag und Nacht grast. Obwohl beide glücklich
verheiratet sind, beichten sie sich zunehmend brisantere Dinge aus ihrem
intimsten Privatleben. "Es geht in uns offenbar andauernd etwas vor, was
wir dem, der da ist, nicht sagen können."
Genau
dieser Umstand war Walsers energielieferndes und seine Schreibfreude
aktivierendes Motiv, gesteht er in einem Interview. "Wir existieren da auf
einer Frequenz, die im Alltag nicht anzubringen ist, da braucht man eine
Ausdruckswelt dafür, und das habe ich ausgebeutet." Er statuiert bei
seinen beiden Protagonisten ein Experiment, in das sie ohne es zu wollen,
hineingeraten. Schlupp verführt die Theologin "von Wort zu Wort zu Wort"
zu einem "Brückenbau in Voraussetzungslose". Ihre zunächst auf Papier
geschriebenen, später als E-Mail versandten "Buchstabenketten"
entwickeln sich mehr und mehr zu einer "Hängebrücke über einem Abgrund
namens Wirklichkeit". Doch schon bald holt die Beiden die Realität ein,
zudem ihre virtuelle Liaison auf so wackligen Füßen steht wie deren
freischwebende "Wörterbrücke". Erweist sich ihr "Flirt mit der
Unmöglichkeit" letztendlich gar nur als "Einbildungsgebäude"?
"Wir sind die Extreme, die einander berühren. Und zwar durch nichts als
ihr Extremsein. Das Extremsein als solches. Eine Art Rücksichtslosigkeit",
stellt Maja Schneilin fest.
"Jetzt
schauen wir in einen Spiegel / und sehen nur rätselhafte Umrisse, / dann aber
schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, / dann
aber werde ich durch und durch erkennen, / so wie ich auch durch und durch
erkannt worden bin.
Für
jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; / doch am größten unter
ihnen ist die Liebe." (Korinther 13,12)
Nicht
nur der Buchtitel deutet darauf hin, sondern Martin Walsers Zeilen weisen
sichtbare Bezüge zum 13. Kapitel des ersten paulinischen Korintherbriefes, auch
als "Hohelied der Liebe" gepriesen, auf. Walser sinniert über Ehe,
Glaube, die Lust am Widerspruch, Fehlstellen in uns und natürlich die Liebe und
was das große und manchmal ominöse Wort im Alltag bedeutet. Wie alle Bücher des
im März 2012 85 Jahre alt gewordenen Meisters strotzt auch sein jüngstes Werk
nur so vor Intensitäts- und Sprachenergie. Und wie fast immer bei ihm, ist es
nicht der Plot, der für Spannung sorgt, sondern das Innenleben seiner Figuren.
Der "Lustwandler seiner Ausdruckswelt", wie die FAZ über Martin
Walser titelt, ergeht sich erneut in großen
"Gefühlsausführlichkeiten". Dabei ist ihm keine sprachliche Erhöhung
zu fremd. Sein Briefroman enthält Sätze, "die zu gut, zu wahrhaftig, zu
markant sind, um nicht aufgeschrieben zu werden, (...) Formulierungen, bei
denen einem mulmig werden kann", um noch einmal die FAZ zu zitieren.
Fazit:
Martin Walsers "13. Kapitel" ist ein nachdenklich-berührendes,
intelligentes Werk, das von Seite zu Seite eindringlicher wird. Wenn wir
"nicht in jedem Augenblick das schreiben können, was in diesem Augenblick
unser sogenanntes Dasein ausmacht, dann können wir es - das Schreiben -
lassen.", lässt der Autor Basil Schlupp an Maja Schneilin schreiben. Es
bleibt zu hoffen, dass auch Martin Walser noch lange davon Gebrauch machen
kann, um weitere "Sachbücher der Seele" zu gebären. Denn: "Die
Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt
nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf; sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbitten, sie rechnet das Böse
nicht zu; sie freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der
Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet
alles. Die Liebe hört niemals auf." (Korinther 13,4-8a)
Oder
um es mit Basil Schlupp alias Martin Walser zu sagen:
Wie
viel mehr möchte man sein
als
man ist und überall immer zugleich
in
jedem Wasser fließen
die
Hitze sein der Wüste
nachts
das Eis
das
Tannenwipfelwiegen im Wind
Freundschaftsstifter
Stromableser
Schlüssel-
Wahrer
aller
Arzt
und
Kranker
aller
Ärzte.
Früher
stieß
eins
ans
andere
jetzt
ist Platz
bzw.
Leere
herrscht.
Martin Walser
Das dreizehnte Kapitel
Rowohlt
Verlag, (September 2012)
272
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3498073826
ISBN-13:
978-3498073824
Preis:
19,95 EURO
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