Erschienen in Ausgabe: No 80 (10/2012) | Letzte Änderung: 13.02.13 |
Das Paradies muss noch warten. Der einsame Kampf Papst Benedikts zum Start des universalen Glaubensjahrs
von Guido Horst
Ihr könnt mich alle mal.“ Das hat er natürlich nicht gedacht. Unser
Papst, Benedikt XVI., ein immer noch sehr rüstiger Mann von mittlerweile
85 Jahren. Aber ähnliche Gedanken mögen wie Blitze durch das Gehirn des
altgedienten Theologieprofessors gefahren sein, als er sich im Juli an
seinen Schreibtisch in der Sommerresidenz in Castelgandolfo setzte und
sich auf das konzentrierte, was ein Professor nun einmal am besten kann:
Texte verfassen. War es der dritte Band seines Jesus-Buchs, den er nun
endlich zu Ende bringen will? Ein Buch übrigens, in dem es um die
Kindheit Jesu Christi und damit um die „heilige Familie“ geht – ein
Thema, zu dem Papst Benedikt noch kurz zuvor in Mailand nahezu
paradiesische Worte gefunden hatte. Aber dazu später... Oder war es der
Entwurf seiner vierten Enzyklika in dem nun schon über sieben Jahre
währenden Pontifikat, auf die viele warten? Wir wissen es nicht. Wir
wissen nur, dass der deutsche Papst in seinem Element ist, wenn er weiße
Blätter vor sich hat und sie mit seinem Bleistift und in kleiner
Schrift bekritzeln kann.
Umgekehrt haben auch einige wichtige Texte
Benedikt XVI. erreicht, als er die Tür zu seinem Arbeitszimmer in den
Albaner Bergen hinter sich schloss und einfach einmal Zeit für seine
Projekte haben wollte. So etwa der abschließende Bericht der drei
Detektive im Purpurdress, die im Auftrag des Papstes Licht ins Dunkle
der „Vatileaks“-Affäre bringen sollten. Drei Kardinäle – Julián Herranz
(82), Jozef Tomko (88) und Salvatore De Giorgi (82) mit seinen
Mafia-Erfahrungen als ehemaliger Erzbischof von Palermo, der Hauptstadt
des Verbrechens –, die in der Quersumme ihrer Altersjahre immerhin 252
Lenze auf die Waage bringen. Also ein Vierteljahrtausend an
Lebenserfahrung, die auch die dunklen Seiten des klerikalen und kurialen
Lebens kennt: Neid, Ruhmsucht, Karrieredenken, verletzte Eitelkeit,
homosexuelle Neigungen und die Versuchung, aus dieser Polung „contra
naturam“ ein Kriterium für die Arbeit im Dienst der katholischen Kirche
zu machen.
Doch ist Benedikt XVI. darüber wirklich erschüttert? Er,
der noch als Kardinal kurz vor der Wahl zum Papst bei seiner
karfreitaglichen Betrachtung im Kolosseum von der „Leere und Bosheit des
Herzens“ inmitten der Kirche sprach: „Wie wenig Glaube ist in so vielen
Theorien, wie viel leeres Gerede gibt es? Wie viel Schmutz gibt es in
der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz
zugehören sollten? Wie viel Hochmut und Selbstherrlichkeit?“ Oder der
dann als Papst die Sünde des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker
geißelte? Als Präfekt der Glaubenskongregation, die weltweit für die
„delicta graviora“ – für die von Klerikern verübten „schwerwiegenderen
Straftaten gegen die Sitten und solche, die bei der Feier der Sakramente
begangen werden“ – zuständig ist, hatte er 23 Jahre lang immer wieder
in die Abgründe des menschlichen Herzens geblickt. Und als Papst musste
er dann in regelmäßigen Abständen Bischöfe in den Ruhestand schicken –
vorzeitig, das heißt nicht aus Altersgründen, sondern aufgrund des
Kirchenrechtskanons 401, Paragraf 2, der dann greift, wenn nicht die
Altersgrenze der Grund für den Rücktritt ist, wie es Kanon 401, Paragraf
1 für den Regelfall vorsieht, sondern Krankheit oder „andere
schwerwiegende Gründe“, wozu auch sittliche Vergehen oder Amtsmissbrauch
gehören können. Als Glaubenspräfekt und dann als Papst hat Joseph
Ratzinger den „Schmutz in der Kirche“ mit den Händen greifen können. Er
hat sich jetzt dreißig Jahre lang mit fast jedem Misthaufen befassen
müssen, der aus irgendwelchen Weltgegenden zwecks Liquidierung an den
Vatikan weitergereicht wurde. Kann diesen Mann noch etwas erschüttern?
Ja. Der Tod der geliebten Schwester war für Ratzinger ein Schock. Ein
Unglück, das seinen geliebten Bruder ereilen könnte, würde auch ihn in
tiefste Trauer stürzen. Aber was die Bosheit und Verirrungen des
(klerikalen) Herzens angeht, ist dieser Papst mit allen Wassern
gewaschen. Und so hat er in Castelgandolfo die Tür hinter sich
geschlossen und Urlaub genommen von den menschlichen Abgründen, von
denen auch er höchstpersönlichst umgeben ist.
Am Telefon ist Peter
Seewald, der bayerische Journalist, dem Ratzinger so manches lange
Interview gewährte. Wie immer sieht er die Dinge positiv. „Der Papst
kennt seine Pappenheimer“, sagt er – und meint damit wohl die engste
Umgebung Benedikts, die diesen so bitter verraten hat. Und Seewald setzt
noch eines drauf: „Ratzinger sieht immer das Gute in jedem Menschen.“
Aber gilt das auch für die Piusbrüder, die den Papst, der ihnen so weit
entgegen geeilt war, mit ihrer verstockten Widerborstigkeit so sehr
enttäuschten? „Von wegen enttäuscht“, meint Seewald. Auch diese Burschen
kenne er bis auf die Knochen, schließlich sei er es gewesen, der als
Glaubenspräfekt und Kardinal mit Erzbischof Lefebvre eine Einigung
erzielte, die dieser dann über Nacht wieder brach. Der Papst kennt seine
Pappenheimer. Und sieht in jedem noch das Gute, das da vorhanden sein
mag. Wir danken Peter Seewald für seine Einschätzung. Also ist Papst
Benedikt nicht der Enttäuschte, der sich jetzt in Castelgandolfo
eingeigelt hat? Nein, sagt Seewald.
Eher einer mit dem ganz langen Atem.
Schon
Anfang Juni hatte man den Papst als jemanden erlebt, dessen Gedanken in
weite Ferne eilen können. Es war in Mailand, beim Weltfamilientreffen,
als bei einem „Abend der Zeugnisse“ ausgewählte Familien zu einer kurzen
Begrüßung mit Benedikt XVI. zusammentrafen. Da stand diesem der Schmerz
über den Verrat eines Kammerdieners noch deutlich ins Gesicht
geschrieben – aber sein Herz hing nicht an den Niederungen vatikanischer
Palastintrigen. Als die kleine Cat Tien aus Vietnam dem Papst ihre
Eltern und ihren Bruder vorstellt und ihn bittet, etwas von seiner
Familie zu erzählen – aus der Zeit, „in der Du so klein warst wie ich“
–, da wird Papst Benedikt zum Großvater, oder Urgroßvater, den die
Erinnerung wieder einholt. Und vor den knapp vierhunderttausend Jungen
und Mädchen, Müttern und Vätern, Omas und Opas, die auf dem
Flughafengelände Bresso bei Mailand zusammen gekommen waren, zeichnet
der Papst das Bild einer einfachen Familie auf dem Land nördlich von
Salzburg, die für ihn, den siebenjährigen Bub, das Paradies auf Erden
war. Das gemeinsame Singen, Beten und Essen, der Vater, der auf der
Zither spielte, die Wanderungen und Spaziergänge im Wald, die Spiele und
kleinen Abenteuer, vor allem aber die Freude und gegenseitige Liebe,
die die Eltern und die drei Geschwister untereinander verband. Es war
das vielleicht persönlichste Zeugnis, das in diesen Tagen des
Weltfamilientreffens in Mailand zu hören war. Es kam von Papst Benedikt
selber. Mit „Ciao, Papa“ hatte ihn die kleine Cat Tien begrüßt. Und
dieser hatte nicht als Papst, sondern als Großpapa geantwortet. „Wir
waren glücklich“, schloss der Papst, „und ich denke, im Paradies dürfte
es so sein wie in meiner Jugend. In diesem Sinn hoffe ich ,nach Hause’
zu kommen, wenn ich ,in den anderen Teil der Welt’ gehe.“
Doch bevor
es soweit ist, muss der Papst einige Schauplätze dieser Welt aufsuchen,
auf denen es kämpferisch, wenn nicht sogar kriegerisch zugeht. Darum
braucht er den Monat der paradiesischen Ruhe in Castelgandolfo – um
Kräfte zu sammeln für die Anstrengungen der kommenden Monate. Schon dem
Petrus hatte es der Herr vorhergesagt: „Als du jung warst, gürtetest du
dich selbst und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden
bis, wirst du deine Arme ausbreiten, und ein anderer wird dich gürten
und dich führen, wohin du nicht willst“ (Joh 21,18). Seit dem Tag seiner
Wahl zum Papst geht es Benedikt nicht anders. Von dem, was er sich für
die Jahre des Ruhestands vorgenommen und gewünscht hatte, musste er sich
für immer verabschieden. Stattdessen wurde er geführt: durch die
aufgepeitschten Gefühle in der muslimischen Welt nach der Regensburger
Vorlesung, durch das Trommelfeuer auf den Vatikan, das der „Fall
Williamson“ ausgelöst hatte, durch die Abgründe des Missbrauchs-Skandals
und schließlich durch jene seltsame Affäre, die den Namen „Vatileaks“
erhalten hat.
Und jetzt geht es in den Libanon, an den Rand des
syrischen Bürgerkriegs, der zu einem erneuten Pulverfass für den
gesamten Nahen und Mittleren Osten werden kann. Dann beginnt das „Jahr
des Glaubens“ – zeitgleich mit dem fünfzigsten Jahrestag des
Konzilsbeginns und dem zwanzigsten Geburtstag des „Katechismus der
Katholischen Kirche“. Auch da werden sich die Augen wieder auf Papst
Benedikt richten. Denn zwar nur als weißhaariger Teenager-Theologe war
er aber dennoch einer der Protagonisten der größten Bischofsversammlung
des zwanzigsten Jahrhunderts. Und der Katechismus von 1992 entstand
immerhin unter seiner Federführung.
Also es geht weiter. „Wenn du
aber alt geworden bist, wird man dich führen, wohin du nicht willst.“ Es
bleibt der Gedanke an das Paradies, für das die Kindheit im Kreis der
Familie ein frühes Abbild war. Aber der Weg dahin wird dornig sein. Um
die Stiche etwas abzumildern, hat sich Benedikt XVI. einen Vertrauten an
seine Seite geholt: Bischof Gerhard Ludwig Müller aus Regensburg, nun
Erzbischof und Präfekt der Glaubenskongregation und über kurz oder lang
Kurienkardinal. Müller ist die „Antwort“ auf Tarcisio Bertone, des
Papstes Kardinalstaatssekretär, an dem Benedikt XVI. festhält, weil er
eben immer nur das Gute in jedem Menschen sieht. Bertone ist treu. Aber
nicht immer effizient und frei von persönlichen Vorlieben. In diese
Lücke soll Müller springen. „Wenn du aber alt geworden bist, wird man
dich führen, wohin du nicht willst.“ Aber wo steht im Evangelium
geschrieben, dass man sich dafür nicht den einen oder anderen Begleiter
selber aussuchen darf?
Doch der dramatischste Schauplatz für Kämpfe
und Kriege, auf den der Papst jetzt wieder zurückkehrt, ist nicht in
dieser Welt, die sich schon lange nicht mehr als christlich oder gar
katholisch empfindet. Auch nicht im Nahen oder Mittleren Osten – und
ebenso nicht im Vatikan, der bisweilen eine so seltsame Bühne für Kabale
und Liebe sein kann. Der eigentliche Schauplatz, der Benedikt erwartet,
ist innerhalb der Kirche: Es ist der völlige Zusammenbruch des
traditionellen Christusglaubens, der die Kirche wie ein Glutofen mit
Energie versorgt hat und im Westen immer kälter wird. „Am Anfang des
Christseins“, schrieb Benedikt XVI. direkt zu Beginn seiner ersten
Enzyklika „Deus caritas est“, „steht nicht ein ethischer Entschluss oder
eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer
Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine
entscheidende Richtung gibt. In seinem Evangelium hatte Johannes dieses
Ereignis mit den folgenden Worten ausgedrückt: ,So sehr hat Gott die
Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an
ihn glaubt ... das ewige Leben hat (3, 16).“ Und zuletzt mitten in der
Ferienzeit, beim „Engel des Herrn“ am 8. Juli in Castelgandolfo, kam er
auf diesen Gedanken zurück: „Tatsächlich ist der Mensch Jesus von
Nazareth das Durchscheinen Gottes, in ihm wohnt Gott in Fülle. Und
während wir, auch wir, stets nach anderen Zeichen, nach anderen Wundern
suchen, merken wir nicht, dass er das wahre Zeichen ist, der Mensch
gewordene Gott, dass er das größte Wunder des Universums ist: die ganze
Liebe Gottes, enthalten in einem menschlichen Herzen, im Antlitz eines
Menschen.“ Das ist der Dreh- und Angelpunkt seines Pontifikats – und der
Dreh- und Angelpunkt des Glaubensjahrs: Dass nicht die Welt, sondern
die Kirche wieder anerkennt, dass in Jesus Christus Gott Mensch geworden
ist. Vor ihm wieder andächtig in die Knie zu gehen, würde alle
innerkirchlichen Fehden beenden und alle Reizthemen klären. Aber wenn
einer weiß, dass ein Papst in seiner Kirche nichts autokratisch
verordnen, sondern nur demütig vorleben kann, dann ist es dieser
bayerische Papst.
Guido Horst ist Chefredakteur des Vatican magazin. www.vatican-magazin.de
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