Erschienen in Ausgabe: No 40 (6/2009) | Letzte Änderung: 23.03.10 |
von Stefan Groß
Die Facetten der Kantinterpretation
sind vielgestaltig, die Sekundärliteratur mittlerweile
unüberschaubar. Kant, dem zentralen Gestirn der deutschen
Aufklärung und des kritischen Idealismus – ihm widmet sich ein
Sammelband mit Vorträgen, die auf dem Internationalen
Kantkongreß 2004 in Moskau gehalten, nunmehr in schriftlicher
Form vorliegen. So sehr die intellektuelle Leserschaft mit Kant
vertraut ist, der von Norbert Hinske und Nelly Motroschilowa
herausgegebene Band gibt dennoch neue Blicke in die Forschung frei.
So wird darüber informiert, daß die russische Forschung
mit einer zweihundertjährigen Kantrezeption aufwarten kann, da
insbesondere die bedeutendsten russischen Denker des 19. und 20.
Jahrhunderts, wozu Wladimir Solowjew, Simeon Frank und Pavel
Florenskij beispielsweise zählen, hervorragende Kantforscher
waren.
Daß gerade auch schon zu Kants
Lebzeiten, später in der ehemaligen Sowjetunion und im heutigen
Rußland eine breite Forschungslage zu dem Königsberger
Denker existierte und heute noch verstärkt existiert, dies ist
vielen Kantexperten in der westlichen Welt bislang verborgen
geblieben, der russische Kantdiskurs wurde weitestgehend nicht
beachtet. Dabei hat gerade die Auseinandersetzung mit der kritischen
Philosophie Kants, mit zentralen Themen wie der praktischen Vernunft,
der Freiheit, der aktiv-schöpferischen Rolle der Vernunft, der
Verteidigung der Menschenrechte und des Rechtsstaates immer
wieder das verstärkte Interesse der russischen Forscher an
seinen Schriften ausgelöst, die auch und gerade in Zeiten des
Eisernen Vorhangs sich der Thematik Freiheit in existentieller
Hinsicht näherten. Kant war und galt als Dialogpartner. Die
Auseinandersetzung mit ihm verlief keineswegs bloß
„szientifisch“, sondern sein Denken wurde auch und immer wieder
kritisch beleuchtet. So verwundert es nicht, daß die Rolle des
„Ding an sich“ als dogmatische Begriffssetzung, die Darstellung
der Sinnlichkeit als passiver Rezeptivität, der Formalismus und
Rigorismus der kantischen Ethik und die von dieser Philosophie
„ausgehende“ Tendenz zum Subjektivismus und Individualismus
kritisiert wurden. Zwar hat all dies die kritische Kantforschung im
Westen ja auch schon geleistet, was von den Herausgebern ausdrücklich
unterstrichen wird, jedoch gehe es ihnen um die russische
Kantforschung selbst, die dadurch einem größeren Publikum
bekannt gemacht werden soll, letztendlich also um den Versuch, die
bisher gesondert erschienen Publikationen in Ost und West in Hinblick
auf eine globale Weltkantiana miteinander zu vereinen. Die russische
Forschung versteht sich also in dieser Hinsicht als integrativer Teil
der gesammten Kantrezeption.
Die einzelnen Forschungsbeiträge
bestechen durch ihre sprachliche Klarheit, was nicht zuletzt einer
guten Übersetzung aus dem Russischen zu verdanken ist. Ein
ausgewogenes Verhältnis zwischen Kantrezeption einerseits und
kritischen als auch weiterführenden Interpretationen
andererseits kommt dem Leser dabei zugute.
So
setzt sich Alexander L. Dobrochotov mit Kants Teleologie als
Kulturtheorie auseinander. In diesem Zusammenhang verweist er
eindrücklich darauf hin, welche prägende Kraft Kants Kritik
der Urteilskraft für
die Konsolidierung der Kulturtheorie im 18. Jahrhundert hatte, wobei
er nicht nur einen Einblick in die Genese des Kulturbegriffs in der
Kritik der Urteilskraft
gibt, den Begriff der Kultur als Endzweck der Natur herausarbeitet,
sondern auch den Begriff der symbolischen Erkenntnis als das
„Hauptwerkzeug“ der Kultur näher erläutert. Denn:
„Kultur benutzt aufs nachdrücklichste die Möglichkeit,
das Noumenale nach der Analogie indirekt darzustellen und damit
gefährliche Abweichungen“, worunter Anthropomorphismus und
Deismus zu verstehen sind, „zu verhindern“ (26).
Abdussalam A. Gussejnow analysiert
die kantische Ethik aus dem Blick der europäischen Ethik.
Hierbei werden Aristoteles’ Tugendlehre und die Stellung der Moral
in den posttraditionellen Gesellschaften untersucht. In der
Auseinandersetzung mit Kants kategorischem Imperativ plädiert
Gussejnow für eine „Begründung des Begriffs der negativen
Handlung“ (49). Unter dieser negativen Handlung wird eine
verstanden, die „deshalb nicht ausgeführt wird, weil sie mit
dem Sittengesetz nicht übereinstimmt, d. h. kraft eines
sittlichen Verbotes“. Diese negative Leseart des kategorischen
Imperativs gibt nicht nur sein Wesen genauer wieder, sondern
ermöglicht es, ihn in die „Geschichte der Weltkultur“
einzubetten, in der die Moral vorwiegend im Gewand des Verbotes
aufgetreten ist. Zugleich sei, so Gussejnow, damit eine
erfolgreichere Lösung ethisch-pädagogischer Probleme in
Aussicht gestellt, wie man das Sittengesetz in konkrete praktische
Regeln überführen kann. Zwar kann uns die Moral als
absoluter Wert nicht sagen, was man tun soll, sie kann aber sagen,
was man unter keinerlei Umständen tun darf. Kurzum: „Eine
negative Handlung bedeutet, daß der Einzelne den Übergang
gewisser Wünsche zur Tat blockiert bzw. versperrt“ (50).
Mit
dem viel diskutierten und in der Forschung weitgehend abgehandelten
Thema der Kausalität beschäftigt sich Alexei N. Krouglov,
der sich auf der Suche nach den Quellen von Kants Begriff der
Kausalität sowohl mit der Ontologie von Christian Wolff, mit
Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik,
mit dem bekanntesten Opponenten des Wolffianismus in Deutschland,
Christian August Crusius, als auch mit Johann Christian Eschenbach,
Johann Georg Heinrich Feder, Johann Heinrich Lambert, Johann Georg
Sulzer, Moses Mendelssohn auseinandersetzt. Dabei ist es erstaunlich,
so resümiert Krouglov, daß dem Begriff der Kausalität
in der deutschen Philosophie, bis auf Ausnahme von Crusius, der ihn
seiner Ontologie und Kosmologie zuordnet, vor dem Erscheinen der
Kritik der reinen Vernunft
kein besonderer Wert beigelegt wurde. Erst Johann Nicolaus Tetens
(1736-1807) „ist vermutlich der Philosoph gewesen, der bei Kant die
Tendenz zu einer erkenntnistheoretischen Interpretation des Begriffs
der Kausalität gesteigert hat“ (62), zumal dieser die
Philosophischen Versuche
von Tetens während seiner Abfassung der Kritik
der reinen Vernunft vor
Augen hatte.
Der Aufsatz von Wladislaw A.
Lektorsky setzt sich mit der kantischen Erkenntnistheorie und
ihren Berührungspunkten mit dem modernen epistemologischen
Konstruktivismus auseinander. Lektorsky weist dabei darauf hin, daß
der Königsberger Denker Erkenntnisprobleme vorgeführt hat,
„die auf dem Wege des Konstruktivismus kaum gelöst wurden“.
So hält der Autor fest, daß Kants Epistemologie zuhöchst
aufschlußreich sei, „und zwar im Zusammenhang mit der
Entwicklung der kognitiven Wissenschaften, die den Anspruch erheben,
eine neue Interpretation und ein neues Verständnis eben jener
Thematik geben, die in der Erkenntnistheorie herkömmlicherweise
als Gegenstand der Diskussion auftritt“ (76) – was ihn in seinem
Artikel letztendlich zu einer Beschäftigung mit dem englischen
Philosophen und Psychologen Rom Harré führt (83). Darüber
hinaus entdeckt Lektorsky eine Parallele zwischen Kant und dem
deutschen Neurobiologen Gerhard Roth, dessen Begriff der
transphänomenalen Realität Kants „Ding an sich“
entspreche sowie es zugleich Parallelen zwischen dem kantischen
transzendentalen Subjekt und dem rothschen reellen Gehirn gäbe.
Unter
dem Titel „Deutungssubjektivismus und Erfahrungsanalyse – Zu
Kants Apriorismus-Explikation“ beschäftigt sich Viktor I.
Molchanow mit Kants der
Kritik der reinen Vernunft.
Dabei geht er der Frage nach, ob die Erfahrung bei Kant ein
Gegenstand der Analyse oder der Interpretation sei. Kants
Interpretation des Bewußtseins als reiner Tätigkeit, so
hält Molchanow letztendlich fest, „ist die tiefste Grundlegung
des Subjektivismus der Interpretation, der im Grund eines jeden
Subjektivismus liegt“ (102).
Nach
der aktuellen Bedeutung von Kants Konzept des „ewigen Friedens“
fragt die Herausgeberin Nelly W. Motroschilowa. Sie vertritt dabei
ihre Überzeugung – insbesondere gegen die deutsche
Kantforschung von Höffe, Gerhardt und Brandt, die die Schrift
Zum ewigen Frieden
vornehmlich als politische, rechtsphilosophische Schrift deuten –,
daß es sich bei diesem Werk primär um eine
allgemeinphilosophische, geschichtsphilosophische, ethische und
letztendlich metaphysische Abhandlung handle (111). Zwar sind
die politischen und rechtsphilosophischen Aspekte vorhanden, aber sie
geben nicht den Ausschlag. „Denn bei einer übertrieben starken
Akzentuierung seiner rechtsphilosophischen, geschweige denn
seiner bloß politischen Komponente verschwindet sowohl die
Eigenart der Kantschen Argumente als auch der Boden selbst, auf den
Kant den Streitdiskurs über die Möglichkeit eines
dauerhaften Friedens stellt“ (112).
Mit
der Thematik vom „absoluten Wert“ beschäftigt sich Wladimir
K. Schokhin, der nicht nur einen kurzen Einblick in die Geschichte
der axiologischen Reflexion und in die nachkantische Reflexion des
„absoluten Wertes“ gibt, sondern auch die Bedeutung von Christian
August Crusius unterstreicht, der mit seiner Bestimmung des Menschen
als „absoluten Wert“ einen wichtigen Einfluß auf die
praktische Philosophie des 18. Jahrhunderts ausübte. Das
Hauptaugenmerk der Untersuchung widmet sich aber dem Anthropologen
Johann Nicolaus Tetens und dessen Begriff des „Wertes“. Von
Tetens Wertphilosophie ausgehend wird sein Einfluß auf Kants
Vorlesungen über
Ethik, zur Grundlegung
der Metaphysik
der Sitten, wo Kant vom
absoluten Wert des bloßen Willens spricht, und zur Metaphysik
der Sitten gezogen. Trotz
des Einflusses, den Tetens auf Kant ausübte, weist Schokhin auf
einen allgemeinen Unterschied zwischen beiden Denkern hin:
„Dasjenige, was von Tetens als etwas, das einen ‚absoluten Wert’
besitzt, identifiziert wurde, hat bei Kant bloß auf der Ebene
des Naturreiches einen Wert (hat also keinen größeren Wert
als den, der auch allen anderen ‚Erdprodukten’ zuteil werden
kann), während dasjenige, was Kant als mit absolutem Wert
ausgestattet identifiziert hat, schon auf der Stufe des Reiches der
Freiheit liegt, eine Stufe, die bei Tetens noch – in kantischer
Perspektive gesehen – nur Naturbeschaffenheiten aufweist“ (139).
Erich
Ju. Solowjow gibt einen Einblick in das Werk des russischen
Philosophen Wladimir Solowjew, der in seinem Hauptwerk Rechtfertigung
des Guten die
moralisch-praktische Lehre Kants zum zweiten Mal neu entdeckt, wobei
er die zweite Formel des kategorischen Imperativs, die „Formel der
Personalität“, als ein zivilisatorisches Veto wahrnimmt, das
„die Entstehung neuer Formen der barbarisch mitleidlosen
utilitaristischen Ausbeutungspraxis verhindert.“ Wie Erich Solowjow
betont, geht der kantische Begriff des „Zwecks an sich selbst“ in
die Lehre Wladimir Solowjews als ethisches Analogon zu der Idee der
„göttlichen Teilaufgabe“ ein (147). Die Anerkennung des
Menschen als Zweck an sich selbst ist, wie Solowjew betont, ein
Gesellschaftsideal, es äußeren sozialen Zweckmäßigkeiten
zu opfern, würde die Grundbedingung der menschlichen
Selbstzweckhaftigkeit in Frage stellen. Insbesondere in der Kritik
der abstrakten Prinzipien
zeichnet Solowjew sein Paradoxes Bild des Sozialismus, der zwar ein
Minimum an sozialem Wohlstand für alle garantiere, jedoch mit
dem Preis, die Mitglieder der Gesellschaft auf die Ebene rein
wirtschaftlicher Wesen herabzuziehen.
In einem kürzeren Beitrag
wendet sich Vadim V. Vasilyev Kants dogmatischer Wende in dessen
„kritischer Periode“ zu. Nach Vasilyev besteht das Mißverhältnis
der kantischen Philosophie letztendlich in der Unvereinbarkeit seiner
kopernikanischen und seiner kritischen Einstellungen, woraus die
Schlußfolgerung gezogen wird: „Kants ‚Kopernikanismus’
ist eigentlich unkritisch, kein Wunder, daß sich daraus die
spekulativen Systeme der postkantischen Metaphysiker – Fichte,
Schelling und Hegel – entwickelten, die in ihrem Dogmatismus alles,
was vorher gewesen war, übertrafen“ (158).
Vasilyev
verweist in seinem Beitrag auch auf das Phänomen der „zwei
Kants“, den vorkritischen, der in den Träumen
eines Geistessehers einen
skeptischen Standpunkt vertritt und davon ausgeht, daß die
Erfahrung die Grenzen jedweden Wissens setzt, und den „anderen“
Kant der Dissertation De
mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis
von 1770. Kants kopernikanische Wende hatte, so Vasilyev,
ursprünglich eine übersinnliche und damit dogmatische
„Ladung“. In der Kritik
der reinen Vernunft sucht
Kant daher einen Mittelweg zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Das
Ergebnis – die transzendentale Philosophie „wurde also das
instabile Erzeugnis dieser Synthese“ (158).
„Das Problem der Außenwelt
bei Immanuel Kant – Die Entwicklung seiner Vorstellungen in der
vorkritischen Periode“ ist das Thema des vorletzten Beitrags von
Marina Ju. Wasiljewa, die sowohl Kants frühe Versuche darstellt,
„das Problem der prinzipiellen Position des Menschen in bezug auf
die Außenwelt zu lösen“, die in einer Übereinstimmung
der äußeren und inneren Welt, in ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit kulminierte, als auch den Weg in die kritische
Phase nachzeichnet. Resümierend hält sie fest: „Im Grunde
haben im Denken Kants sowohl die realistische als auch die
idealistische Tendenz die gleiche Bedeutung, gerade die Verbindung
der einen mit der anderen bringt gesetzmäßig die Lehre vom
Ding an sich hervor“ (172).
Den
Abschluß des Bandes rundet ein Beitrag von Wladimir A.
Zhutschkow ab, der sich insbesondere mit Kants Lehre vom „Ding an
sich“ als Bedingung der „Rettung der Freiheit“
auseinandersetzt. Zhutschkow, der die Kritik
der reinen Vernunft auf
das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit einer genauen
Analyse unterzieht, kommt zu dem Schluß, „daß Kants
Lösung des grundlegenden Ausgangsproblems seiner ganzen
kritischen Philosophie, nämlich der Möglichkeitsbegründung
von zwei Teilen der Metaphysik – der Metaphysik der Natur und der
Sitten – im Rahmen eines einheitlichen und ganzen Systems erfolgt.
Was aber besonders wichtig ist, dieses ganze System wird von Kant mit
einer wohldurchdachten und innerlich notwendigen Logik aufgebaut, die
alle, scheinbar grundverschiedenen Teilstücke, Kapitel und sogar
Einzelbegriffe dieses Systems umfaßt“ (187).
Der Sammelband ist nicht nur für
Kantkenner, sondern auch für Nicht-Kantianer lesenswert und
höchst informativ. Er überzeugt durch eine klare
Gliederung, da es vermieden wird, wie in vielen Sammelbänden
üblich und immer wieder kritisierenswert, verschiedene Autoren
zur selben Thematik referieren zu lassen. Hier wird die
Übersichtlichkeit gewahrt, was der Lektüre sehr zu gute
kommt. Zudem gibt die Aufsatzsammlung einen hervorragenden Einblick
in die Vielfältigkeit kantischer Philosophie, da alle Facetten
seines Denkens, die Metaphysik, die Erkenntnistheorie, die Ethik, die
Ästhetik, die Anthropologie, die Religion und die
Rechtsphilosophie vorgestellt und bedacht werden. Der Kauf lohnt sich
– eine gute Investition.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.