Erschienen in Ausgabe: No 81 (11/2012) | Letzte Änderung: 13.02.13 |
von Karl-Heinz Hense
"...
ich sehe mich als einen Radikalliberalen, für den die sozialen Anrechte des
Staatsbürgers eine ebenso wichtige Voraussetzung des Fortschritts sind wie die
Wahlchancen, die sich aus Innovationsgeist und Unternehmerinitiative
ergeben."[1]
„Ralf Dahrendorf ist mit
seiner Begabung für ... Wissenschaft und Politik – eine höchst seltene
Kombination in Deutschland –, ganz unersetzlich. Vielleicht hat vor ihm nur Max
Weber, der den Unterbau für die damals neu entdeckte Soziologie legte und
gleichzeitig deren Erkenntnisse für Gesellschaft und Ökonomie erschloß, diese
beiden Eigenschaften in sich vereinigt." Das schrieb Marion Gräfin Dönhoff
1989 zum sechzigsten Geburtstag Dahrendorfs in der ZEIT. Und obwohl er sich schon 1972 aus der aktiven deutschen
Politik zurückgezogen hatte, so galt diese Einschätzung doch unverändert für
den Engländer Lord Dahrendorf, der von 1993 bis zu seinem Tode im Jahre 2009
dem Londoner Oberhaus angehörte. Gleichwohl ließen ihn die deutschen
Verhältnisse nicht los: Im Mai 2003 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des
"Bürgerkonvents", der sich das Ziel gesetzt hatte, den
"Reformstau in Deutschland" zu überwinden. Und noch im Mai 2008 hielt
er eine vielbeachtete Rede zum fünfzigsten Gründungsjubiläum der
Friedrich-Naumann-Stiftung, deren Vorsitzender er von 1982 bis 1987 gewesen
war.
Wenn Gräfin Dönhoff ihn mit
Max Weber verglich, so wies sie damit auf den liberalen Mitbegründer der
Soziologie hin, auf dessen Texte Dahrendorf seinerseits sich immer wieder
bezogen hat. Mit ihm teilte er das Talent zur ideologiekritischen,
unbestechlichen Analyse von Gesellschaft und Politik sowie die geschliffene,
bisweilen scharfzüngige Sprache, die die Lektüre seiner Aufsätze und Bücher
stets zu einem intellektuellen Vergnügen macht. Das Anliegen seiner
wissenschaftlichen Arbeit kennzeichnete Karl Ulrich Meyer, der damalige
Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin-Dahlem, aus
Anlaß des 65. Geburtstags von Dahrendorf 1994 in der Berliner Zeitung mit folgenden Worten: "Die Fragen, wie sich
Gesellschaften konstituieren und wandeln, wie sich Gesellschaft und Individuen
zueinander verhalten, blieben neben der aktuellen Gesellschaftsanalyse die
Leitmotive seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Bücher über den 'Homo
sociologicus', über 'Gesellschaft und Demokratie in Deutschland' sowie das
Bändchen über 'Lebenschancen' markieren neben dem Klassenbuch ('Soziale Klassen
und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft' - K.H.) die wichtigsten
Werke."
Die Offene Gesellschaft
Dahrendorf hat sich nie als
„wertfreier“ Wissenschaftler gesehen. Die Positionen, von denen aus er seine
vor allem gesellschaftsanalytischen, wissenschaftlichen Arbeiten in den 1960er
und 1970er Jahren anlegte, hat er mit folgenden Worten umrissen: „Es gibt eine
experimentelle Haltung zur Welt, die das Recht des anderen auf seinen
Lösungsvorschlag nur gelten läßt, solange dieses jeden dogmatischen Anspruch
vermeidet. Es gibt einen liberalen Zweifel, der den Herrschenden vor allem
Schranken zu setzen, nicht Brücken zu bauen versucht. Es gibt eine Gesinnung
der Konkurrenz, die den Fortschritt nur dort garantiert sieht, wo mehrere um
Vorrang streiten. Es gibt eine Auffassung von Freiheit, die diese für das
Individuum nur dort gewährleistet findet, wo experimentelle Gesinnung,
konkurrierende soziale Kräfte und liberale politische Institutionen sich
verbinden.“[2]
Von der wissenschaftlichen
Forschung im engeren Sinne hat sich Dahrendorf seit seiner Zeit als Direktor
der London School of Economics and
Political Science (1974 bis 1984) weitgehend abgewandt und stattdessen das
publizistische Interesse an den Bedingungen und Bedrohungen der „Offenen
Gesellschaft" in den Mittelpunkt seiner Arbeiten gestellt. Diese
Fragestellung fußt auf der Lehre von Karl Popper, bei dem Dahrendorf schon 1952
in London studierte und der ihm bis zu seinem Tod im Jahre 1994 ein väterlicher
Freund blieb. Über die Theorie Poppers schrieb Dahrendorf 2002 in der Neuen Zürcher Zeitung: „Die große Idee
ist, dass wir zwar die Unwahrheit enthüllen, aber die Wahrheit nicht kennen
können. Widerlegung, Falsifikation, ist die Aufgabe der Erkenntnis, denn
endgültige Bestätigung, Verifikation, kann es nicht geben. Wir machen Entwürfe
ins Ungewisse, wir entwerfen Theorien, aber die Aufgabe der Forschung ist es,
Gegenbeweise zu finden, Tatsachen, die sich nicht mit der Theorie in Einklang
bringen lassen. Institutionell bedeutet das, dass wir dafür Sorge tragen
müssen, jeden Dogmatismus zu vermeiden. Wir müssen offen sein für das andere,
das Neue."
Dies „Neue" aber
entsteht durch die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung, durch
den friedlich ausgetragenen Konflikt zwischen Interessen und Positionen. Indem
Dahrendorf diese Grundlage seines Denkens immer wieder betont, bezieht er sich
auf Immanuel Kant und auf die Tradition der Aufklärung. Das Schlusskapitel eines
seiner letzten Bücher, „Auf der Suche nach einer neuen Ordnung",
überschreibt Dahrendorf mit einem Kant-Zitat: „Idee zu einer allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht". Auf weniger als zwanzig Seiten
wendet er die kantische Gesellschaftstheorie auf unsere Zeit an und zeigt in
ihrer skeptischen Grundhaltung ihre aktuelle Gültigkeit für Fragen der Globalisierung,
der Demokratie, des Rechtsstaates und des Fortschritts: „Es ist der Konflikt,
der 'Antagonism' menschlicher Anlagen in der Gesellschaft, ja die 'ungesellige
Geselligkeit' der Menschen, die die Quelle des Fortschritts bilden. Ohne
Konflikt ‚würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht,
Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen
bleiben; die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem
Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als diesen ihr Hausvieh hat; sie
würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur
nicht ausfüllen. ... Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die
mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum
Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen
in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht, aber
die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.'"[3]
In dieser Art und Weise,
durch die Zwietracht, den sich ständig neu entwickelnden Konflikt, schreiten
die Menschen voran. Und es liegt an ihnen, das ist Dahrendorfs Grundposition,
ob sie sich dabei der Freiheit nähern oder nicht. „Es gibt ... den Weltgeist
nicht, der die Geschichte unwiderstehlich zum einen oder anderen Ende führt.
Wir Menschen sind es, die der Geschichte Sinn geben; wir sind es auch, die
Lebenschancen erweitern oder zerstören."[4] Poppers
"Falsifikation" ist dabei der Prüfstein, mit dessen Hilfe wir
feststellen können, ob es voran geht im Sinne von mehr und besseren
Lebenschancen oder nicht. Und ein Instrument dieser Überprüfung ist die
Demokratie: “Was ist Demokratie anderes als der institutionelle Rahmen für die
'Falsifizierung' geltender Ansprüche. Regierungen sind der Kritik ausgesetzt.
Wenn diese Kritik anschwillt, geben Wahlen die Möglichkeit, die Regierenden
abzuwählen."[5]
Die Ohnmacht der Parlamente
Die Demokratie aber hat nicht
nur die Aufgabe, Herrschaft zu begrenzen, sie ist ebenfalls aufgerufen,
Institutionen zu schaffen und zu schützen, die Pluralität garantieren und den
Prozeß von Versuch und Irrtum gewährleisten. „Wir müssen Institutionen
schaffen, die uns ermutigen, immer neue Versuche zu unternehmen, mehr
Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen, und die es zugleich erlauben,
Versuche als untauglich zu verwerfen.“[6] Dazu
aber eignen sich die Institutionen der Demokratie zu unterschiedlichen Zeiten
in ganz unterschiedlicher Weise. Die Parlamente etwa, die das Herzstück solcher
Institutionen bilden sollten, verlieren gegenüber der Exekutive, aber auch
gegenüber der „Vierten Gewalt", den Massen- und Unterhaltungsmedien, in
unserer Zeit mehr und mehr an Bedeutung. Dahrendorf führte darüber immer wieder
publizistisch Klage.
Schon 1971, als Dahrendorf
Europäischer Kommissar war (von 1970 bis 1974), mahnte er unter dem Pseudonym
Wieland Europa in der ZEIT neue Ziele
für ein „Zweites Europa" an, die uns noch heute aktuell erscheinen. Er
nahm auch das Demokratiedefizit in den Blick und schrieb dazu: „Bleibt das
demokratische Defizit, dessen Beseitigung schon wegen der politischen
Bedingungen in der Wirtschaftsunion eine Voraussetzung des Zweiten Europa ist.
Auch hier geht es nicht um Augenwischerei. Direktwahlen zum Europäischen
Parlament ändern überhaupt nichts; diesen Aufwand kann man sich einstweilen
sparen. Das Parlament braucht ... politische Aufgaben; gewählt sind seine
Mitglieder sowieso alle. Das Verfassungsspielchen, wonach ein ohnmächtiges
Parlament die Scheinregierung der Kommission 'kontrolliert', muss aufhören. Das
Gegenüber des Parlaments wäre in erster Linie der Rat der Europaminister."[7] Diese
Kritik fand und findet gerade bei Liberalen Zustimmung, aber nicht nur dort.
Seit 1971 hat sich indessen allenfalls graduell etwas verändert, das
Demokratiedefizit wird nach wie vor beklagt. Die Parlamente sind eher noch
ohnmächtiger geworden.
Im Jahre 2001 sprach Dahrendorf
auf einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Mainz zum Thema „Stirbt
der Parlamentarismus?". Hier beklagte er den Schwund an Bedeutung, den er
den Parlamenten attestierte: „Auch in Deutschland aber lässt sich schwer der
Schluß vermeiden, dass eine Schwächung des Parlaments in seinen klassischen
Funktionen stattfindet. Die Exekutive entzieht sich vielfach der Kontrolle. Die
Gesetzgebung wird technischer und verlangt mehr Zeit und Neigung, als
gerechterweise von Abgeordneten gefordert werden kann. Der Kontakt zu den
Wählern wird prekär, was den Ruf der Politik nicht gerade steigert. Das Resultat
ist weit entfernt von den klassischen Hoffnungen der Demokratie, ja der
liberalen Ordnung überhaupt. Statt ihrer sehen wir eine unselige Verbindung von
Wahldiktatur und Wählerapathie. Ein Syndrom, das man geradezu als Rezept für
einen neuen Autoritarismus bezeichnen kann. Die Exekutive entzieht sich dem
Volk und seinen gewählten Vertretern, und das Volk verliert das Interesse an
beiden: den Abgeordneten und den Regierenden. (...) Das Resultat solcher
Tendenzen ... ist eine sich ausbreitende Situationspolitik. Manchmal bin ich
versucht, von einer Wegwerfpolitik zu reden."[8]
In den Jahren danach hat sich
Dahrendorfs Kritik angesichts der Erfahrungen vor allem in den neuen
Demokratien Osteuropas, aber auch angesichts der Auswüchse des
Rechts-Populismus in Italien, Österreich, Frankreich, Belgien und anderen
Ländern, nachgerade zu einer demokratieskeptischen Haltung zugespitzt. Am 18.
Februar 2004 schrieb er in der Süddeutschen
Zeitung: „Was passiert, wenn die ehemals Mächtigen an die Demokratie
glauben, ihre Nachfolger aber nicht? Oder, anders gefragt, was geschieht, wenn
die falschen Personen gewählt werden? ... Auch auf die Gefahr hin, daß ich
viele Freunde mit demokratischer Grundüberzeugung damit vor den Kopf stoße, muß
ich sagen, dass ich zu folgendem Schluss gekommen bin: Wenn es darum geht,
einer ehemaligen Diktatur eine Verfassung zu geben, sollte Rechtsstaatlichkeit
vor Demokratie kommen. Nicht korrupte, unabhängige Richter sind einflußreicher
als mit überwältigenden Mehrheiten gewählte Politiker. Glücklich die Länder,
die beides haben und beides hegen und schützen!"
Man mag sich fragen, wie denn
eine unabhängige Justiz installiert werden kann, wenn demokratische Institutionen
und Kontrolle fehlen und die Mächtigen schalten und walten können wie sie wollen.
Gerade wir Deutschen haben allen Anlass, dieser Möglichkeit gegenüber skeptisch
zu sein. Andererseits ist gewiss nicht zu verkennen, dass unsere Parlamente an
Bedeutung und Einfluß verloren haben. Sie sind längst nicht mehr das wichtigste
Forum auf dem Markt der Meinungen; diese Funktion haben sie in Deutschland seit
langem abgegeben an Talk-Shows und andere Medienspektakel. Die Spitzenpolitiker
präsentieren sich allemal lieber bei Günther
Jauch und auf anderen Medienmärkten der Eitelkeit als in mühsamen
Parlamentsdiskussionen – es sei denn, die Themen versprechen ob ihrer
populistischen Akzente eine spektakuläre öffentliche Resonanz, auch ohne dass
Boulevard-Presse und Fernsehen die Propaganda-Trommeln rühren.
Dennoch: die Demokratie
bleibt auf Parlamente angewiesen. In seiner Mainzer Rede kam Dahrendorf zu dem
Ergebnis: „Die repräsentative parlamentarische Demokratie wird durch mehrere
Trends bedroht, aber sie hat weder ihre Kraft noch ihr Recht verloren. Es lohnt
sich, sie neu zu beleben und zu stärken."[9]
Freilich ist offen, ob die
Institutionen der Freiheit den populistischen Tendenzen und einem neuen
Autoritarismus standhalten können. Für Dahrendorf ist dies eine Frage, die sich
dadurch zugunsten der Freiheit entscheiden läßt, dass die Bürger in der civil society ihre Interessen selbst
aktiv verfolgen und dies nicht Funktionären oder gar Demagogen überlassen: „Aktive
Bürger, die die liberale Ordnung verteidigen, sind daher das Schutzschild der
Demokratie."[10] Dabei ist eine Ordnung
anzustreben, von der alle Menschen profitieren, nicht nur die privilegierten,
die klugen, die mächtigen oder die reichen. "Die liberale Ordnung ist aber
die Ordnung für alle Bürger. Erst wenn diese hergestellt ist, kann man von
einer freien Gesellschaft sprechen."[11]
Friedrich August von Hayek und die Verfassung der
Freiheit
Um eine solche Ordnung
herzustellen, bedarf es des Mutes, Konflikte offen auszutragen und neue
Möglichkeiten, Innovationen, zu entwickeln, um mehr und neue Lebenschancen
möglich zu machen. Geschlossene Systeme sind dazu nach der festen Überzeugung
Dahrendorfs ungeeignet. Auch das System, das der Ökonomie-Nobelpreisträger
Friedrich August von Hayek die „Verfassung der Freiheit" nennt, hilft
dabei im Grunde nicht weiter. Überhaupt: Hayek. Mit ihm setzte sich Dahrendorf
in fast allen seinen Büchern und in vielen seiner Aufsätze kontrovers
auseinander. Hayeks libertäre Theorie einer (ökonomischen) Ordnung, die dem
freien Spiel der Kräfte möglichst unbegrenzten Raum läßt, damit sich die
unabhängig von menschlichem Einfluß irgendwie existierenden Gesetze des Marktes
Geltung verschaffen (George Soros würde von "Marktfundamentalismus"
sprechen), hält Dahrendorf für ein metaphysisches, spekulatives System, das
Fortschritt letztlich unmöglich macht, weil es neue Ideen, andersartige
Konzepte von vornherein ausschließt. In den „Lebenschancen" von 1979
schreibt Dahrendorf: "Ich verachte jene negative Haltung, die sich liberal
nennt, aber tatsächlich kaum etwas anderes ist als die Verteidigung der
Positionsinteressen der Besitzenden; Hayeks Verfassung
der Freiheit ist nur ein halb liberales Buch, dem es zutiefst an Phantasie
und an Mut fehlt. Der aktive Begriff der Freiheit, den ich vertrete, erlaubt
keine Ruhe, bevor nicht alle Wege zur Erweiterung menschlicher Lebenschancen
erkundet sind, und das heißt, er erlaubt niemals Ruhe. Liberalismus ist
notwendig eine Philosophie des Wandels."[12]
Dahrendorf wirft Hayek vor
allem vor, er habe nur einen negativen Freiheitsbegriff, Freiheit sei für ihn
also nichts weiter als die Abwesenheit von willkürlichem Zwang. Dies aber sei
in der Offenen Gesellschaft zu wenig; um Fortschritt zu ermöglichen, müsse
Freiheit aktiv verstanden werden, als „tätige Freiheit“, denn die Abwesenheit
von Zwang führe nicht automatisch zu mehr Freiheit, sondern könne zur
Herrschaft weniger über viele führen, wenn der Markt mit seinen Tendenzen zur
Affirmation und zum Ausbau der Position des Stärkeren nicht gebändigt werde.
(Ein anschauliches Beispiel dafür, wie schwer, ja geradezu unmöglich es zu sein
scheint, eine marktbeherrschende Position, wenn sie sich im Zuge des
Marktgeschehens erst einmal etabliert hat, wieder zu beschneiden, zeigen die
Kartell-Auseinandersetzungen mit dem Software-Riesen Microsoft in den USA und in der Europäischen Union.) Im übrigen
würden die Kräfte des Marktes als eine „Bewegung um ihrer selbst willen"
(von der Hayek in der Constitution of
Liberty spricht) verstanden, die in ihrem Absehen von der jeweiligen Lage
der Menschen nachgerade zynischen Charakter annehmen könne.
Um die Kritik an Hayek zu
verdeutlichen, sei noch einmal aus den „Lebenschancen" zitiert:
"Hayek wehrt sich gegen den Vorwurf, sein Freiheitsbegriff sei 'bloß
negativ: Er wird positiv durch das, was wir aus ihm machen. Er gibt uns keine
Garantie für bestimmte Möglichkeiten, sondern überläßt es uns zu entscheiden,
welchen Gebrauch wir von den Möglichkeiten machen, in denen wir uns finden.'
Hier wird der tief konservative Zug eines Freiheitsbegriffs deutlich, der sich
auf die notwendigen Bedingungen [im Unterschied zu den zureichenden Bedingungen
– K.H.] beschränkt. Es gibt – das sei sogleich hinzugefügt – schlimmeres als
die Selbstbeschränkung des liberalen Konservativen; 'leben und leben lassen'
ist die schlechteste Maxime nicht. Aber sie ist weit davon entfernt, die beste
zu sein. Die 'Möglichkeiten, in denen wir uns finden', setzen eben das als
Konstante, was variabel ist. Freiheit wird dann nichts anderes als die
Realisierung der Lebenschancen von hier und heute. Es gibt aber andere Fesseln
menschlicher Entfaltung. Das, was wir (noch) nicht kennen oder können, ist eine
Begrenzung dessen, was wir tun, die beseitigt werden kann. Zufriedenheit mag
ein erstrebenswerter Seelenzustand sein; aber Sich-zufrieden-Geben ist in einer
unvollkommenen Welt kein erstrebenswerter Geisteszustand. Der klassische
Freiheitsbegriff der Liberalen ist negativ, weil er sich zufriedenzugeben
scheint mit vorhandenen Bedingungen."[13]
Also bedarf es eines neuen
Freiheitsbegriffes. Dahrendorf geht es um die Veränderung der Bedingungen,
damit Freiheit in der ganzen Fülle ihrer Möglichkeiten praktisch realisiert
werden kann, um einen tätigen, aktiven Freiheitsbegriff. Um das Schaffen immer
neuer Lebenschancen. Was dies in der Praxis heißt, darüber schreibt er in
seinem Buch „Betrachtungen über die Revolution in Europa" im Bezug auf
Hayek Folgendes: „Wie Hayek habe ich keine Geduld mit denen, die die Grundlagen
der Freiheit attackieren, aber im Gegensatz zu ihm finde ich es nicht schwer,
diejenigen zu tolerieren, die zum Beispiel dem Staat eine größere Rolle in der
Wirtschaftspolitik geben wollen oder einen massiven Transfer von Steuergeldern
für soziale Zwecke verlangen, auch wenn ich deren Meinungen nicht teile."[14] Statt
Andersdenkende also zu denunzieren, wie Hayek es gelegentlich tut (vor allem in
seinem berühmten Buch Der Weg zur
Knechtschaft), ist es nötig, sie zu tolerieren, solange sie nicht selbst
Intoleranz üben. Das Vertrauen in die Überlegenheit liberaler Überzeugungen
verleiht die Kraft zur Toleranz; auch dies ist ein Prinzip aktiver Freiheit.
Lebenschancen und tätige Freiheit
Was Dahrendorf unter tätiger,
aktiver Freiheit versteht, wird besonders deutlich, wenn man den Begriff der „Lebenschancen",
den er von Max Weber übernommen hat, untersucht. “Lebenschancen ... sind eine
Funktion von zwei Elementen, Optionen und
Ligaturen, die unabhängig voneinander
variieren können und in ihrer je spezifischen Verbindung die Chancen
konstituieren, die das Leben der Menschen in Gesellschaft prägen. (...)
Ligaturen ohne Optionen bedeuten Unterdrückung, während Optionen ohne Bindungen
sinnlos sind."[15] Es
ist also nötig, sinnvolle Bindungen zu schaffen, um Optionen wahrnehmen zu
können, die zu neuen Lebenschancen führen. Dabei geht es nicht nur um ein Mehr,
sondern vor allem um eine qualitativ neue Stufe des Fortschritts. Eine
Gesellschaft, die in diesem Sinne voranschreitet, nennt Dahrendorf in seinem
Buch „Die neue Freiheit" von 1975 die „Meliorationsgesellschaft".
Damit meint er „Melioration statt Expansion, gutes Haushalten statt Überfluß,
menschliche Tätigkeit statt Arbeit".[16] Man
ist an den Begriff des „qualitativen Wachstums" erinnert, und in der Tat
hat die Meliorationsgesellschaft damit zu tun. Jedoch gibt sie die Art der
neuen Qualitäten nicht vor, verpflichtet die Menschen nicht zu einer bestimmten
Ideologie, sondern erblickt das Bessere eben darin, dass sie sich frei für eine
bessere Alternative entscheiden können.
Immer wieder kommt es in
Dahrendorfs Gedankenwelt darauf an, dass die Menschen sich nicht selbst die
Wege in eine bessere Zukunft verbauen, indem sie sich in geschlossene Systeme
einsperren. Denn damit liefern sie sich der Unfreiheit und dem Dogmatismus des
Irrtums aus. Um dieser Verirrung, die meist mit dem Versprechen von mehr
Sicherheit einherkommt, zu entgehen, bedarf es des Prinzips von Versuch und
Irrtum, das die Offene Gesellschaft kennzeichnet. In Dahrendorfs Worten: „Wir
leben in einer Welt der Ungewißheit, in der unsere Antworten falsch sein können
und es häufig auch sind; wenn wir die Tyrannei des Irrtums vermeiden wollen,
müssen wir daher jede Tyrannei vermeiden und dafür sorgen, dass es möglich
bleibt, neue Antworten zu geben und dies wirksam zu tun."[17] Und
wenn wir dafür sorgen, so Dahrendorf, dann handeln wir nach dem Prinzip der „tätigen
Freiheit".
Habermas und das Anrecht auf Freiheit
Dahrendorf war Jahrgang 1929,
sein Jahrgangsgenosse ist Jürgen Habermas. Einen Tag vor dem 80. Geburtstag
Habermas’, am 17. Juni 2009, ist Ralf Dahrendorf gestorben. Mit Habermas, den
er „lieber Freund und Zeitgenosse“ nannte, verband ihn sein westlich
orientiertes, freiheitliches Denken; indessen gab es auch eine Fülle
unterschiedlicher Positionen, die kontrovers blieben. In einem Merkur-Aufsatz zum 60. Geburtstag
Habermas’ formuliert Dahrendorf eine Würdigung des Kollegen, die beider Positionen
und damit die beiden wichtigsten Strömungen freiheitlichen Denkens im
Nachkriegsdeutschland kennzeichnet. Über Habermas: „Sein Herz schlägt links,
aber es schlägt vor allem für das Anrecht auf Freiheit.“ Während die Freiheit
aber für Habermas in der „herrschaftsfreien Kommunikation“ hergestellt werden
solle, denke er, Dahrendorf, pragmatischer: „Ich verlasse mich auch lieber auf
die Bändigung der Macht in der Verfassung der Freiheit als auf den allgemeinen
guten Willen und den langwierigen Prozeß, der ihn möglicherweise gelegentlich
zustande bringt.“[18] Für Deutschland, das er
damals gerade verlassen hatte, findet Dahrendorf keine freundlichen Worte: „In
Deutschland dagegen regiert das flache Mittelmaß, der Rundfunkratsproporz, die
beamtete Langeweile. (…) Ich brauche die freiere Luft der unzweideutig
westlichen Welt zum Atmen.“ In Deutschland, so argwöhnt der Gegner aller
metaphysischen Wahrheits-Konzepte, würden Hegel und Marx dem freiheitlichen und
offenen Denken eines Immanuel Kant noch allzu häufig vorgezogen, Freiheit und
Offenheit blieben allzu oft Rhetorik. Seinen Gefährten Habermas freilich nimmt
Dahrendorf von seiner Kritik aus: „Habermas hat die negative Dialektik gleich
doppelt überwunden, nämlich einmal durch das Projekt einer kommunikativen
Begründung von Normen und zum anderen durch ein unbefanges liberales Verhältnis
zur Realität demokratischer, ja westlicher Gemeinwesen.“ – Dass Habermas
Dahrendorf nach dessen Tod den „entschiedensten und weitsichtigsten Geist
unserer Generation“ nannte, war sicher nicht nur dem Respekt, sondern auch der
intellektuellen Wahlverwandtschaft geschuldet.
Es sind die
„Erasmus-Menschen“, die „Erasmier“, wie Dahrendorf sie in seinem letzten Buch
„Versuchungen der Unfreiheit“ nennt, die zu allen Zeiten dafür sorgen, dass
Gesellschaft und Denken offen bleiben, daß Ideologien jeglicher Färbung radikal
in Frage gestellt werden. Dahrendorf hat sich in seinen jungen Jahren, vor
allem im Zusammenhang mit seiner ersten Dissertation, intensiv mit Karl Marx
beschäftigt und kommt zu der Erkenntnis: „Im Marxschen Gedanken der
historischen Notwendigkeit liegt nicht nur die religiös anmutende Eschatologie
der kommunistischen Gesellschaft begründet, sondern auch der Totalitarismus des
Weges durch die ‚Diktatur des Proletariats‘.“ Folgerichtig wandte er sich ab
von frühen sozialistischen Vorstellungen, um fortan als Liberaler seinen Weg zu
gehen. Freilich als einer, dem es nicht auf die Partei, sondern auf die
politische Position ankam. So blieb es bis zuletzt. Seit 1993 hatte Lord
Dahrendorf als „Baron of Clare Market in the City of Westminster“ seinen Sitz
im britischen Oberhaus. Von der Förmlichkeit dieses Titels sollte man sich
indessen nicht täuschen lassen, denn: „Die Förmlichkeit ist bis heute mein Stil
geblieben; sie macht es so viel leichter, die innere Aufsässigkeit zu
verbergen.“[19]
Es gibt nicht viele Denker
vom Schlage eines Ralf Dahrendorf, denen es gelingt, der Verlockung eines
geschlossenen Modells zu entgehen und damit der menschlichen Natur gerecht zu
werden statt sie zu überfordern. Denn niemand von uns kann wissen, was der
richtige Weg in die Freiheit ist, wir können nur dafür sorgen, dass wir die
Möglichkeit, stets neu zu entscheiden, offen halten. Es wäre zu wünschen, dass
gerade die liberalen unter unseren Politikern sich immer wieder auf dieses
Prinzip besinnen. Allerdings läßt sich eine Tendenz nicht übersehen, die dem
dogmatischen Stil mehr abzugewinnen scheint als dem offenen Weg in die
Freiheit, seien es nun Fundamentalismen jeglicher Prägung, Populismen oder Protestbewegungen,
die sich auf dem Markt der Meinungen Gehör verschaffen. Nicht um Piraterie
sollte es freilich einem freiheitlichen Politikstil gehen, sondern im Sinne
Dahrendorfs um den friedlichen Austrag von Antagonismen und Konflikten.
Karl-Heinz Hense, Jg. 1946, ist freier Schriftsteller und Journalist. Ehem.
Redaktionsleiter der seinerzeit von Ralf Dahrendorf herausgegebenen Zeitschrift
liberal – Vierteljahreshefte für Politik
und Kultur. Ehem. Leiter der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach.
Anmerkungen
[1] Ralf Dahrendorf: Betrachtungen über die Revolution in
Europa. Stuttgart 1990. S. 41.
[2] Ders.: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland.
München 1971 (dtv-Taschenbuchausgabe). S. 25.
[3] Ders.: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung.
München 2003. S. 134 f.
[4] A.a.O. S. 132.
[5] Ders.: Popper und die „Offene Gesellschaft“ –
Reminiszenzen und Reflektionen. In: Neue Zürcher Zeitung – Folio vom 27. Juli
2002. S. 3.
[6] A.a.O. S. 4.
[7] Wieland Europa (d.i. Ralf Dahrendorf): Ein neues Ziel
für Europa. In: DIE ZEIT vom 16. Juli 1971. S. 3.
[8] Ralf Dahrendorf: Die Zukunft der repräsentativen
Demokratie. In: Ders.: Der Wiederbeginn der Geschichte. München 2004. S. 277 f.
[9] A.a.O. S. 282.
[10] Ders.: Demokratie ohne Demokraten. In: Süddeutsche
Zeitung vom 18. Februar 2004. Online-Ausgabe.
[11] Ders.: S. Anm. 3. S. 137.
[12] Ders.: Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und
politischen Theorie. Frankfurt am Main 1979. S. 61.
[13] A.a.O. S. 128 f.
[14] Ders. S. Anm. 1. S. 35.
[15] Ders. S. Anm. 12. S. 51 f.
[16] Ders.: Die neue Freiheit. Überleben und Gerechtigkeit
in einer veränderten Welt. München 1975. S. 160.
[17] Ders. S. Anm. 12. S. 80.
[18] Ders.: Jürgen Habermas – Der Zeitgenosse. In: Ders.:
Liberale und andere. Portraits. Stuttgart 1994. S. 324. Erstmals erschienen in:
Merkur. Heft 6/1989.
[19] Ders.: Über Grenzen. Lebenserinnerungen. München
2003. S. 45.
Literatur
Immanuel Kant: Schriften
zur Politik. Band XI der Werkausgabe. Frankfurt am Main 1964.
Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 6. Auflage. München 1980. 2
Bde.
Friedrich A. von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft. 2. Auflage. München 1971.
Ders.: Die
Verfassung der Freiheit. 2. Auflage. Tübingen 1983.
Alfred Blatter (Hrsg.):
Was heißt „liberal“? Eine Frage – sieben Antworten. Basel 1969.
Gilbert Gratzel: Freiheit, Konflikt und Wandel. Bemerkungen zum Liberalismus-Verständnis
bei Ralf Dahrendorf. In: Friedrich-Naumann-Stiftung (Hrsg.): Jahrbuch zur
Liberalismus-Forschung. 2. Jahrgang. Baden-Baden 1990. Seite 11 – 45.
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