Erschienen in Ausgabe: No 80 (10/2012) | Letzte Änderung: 13.02.13 |
von Heike Geilen
"Wir
waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir
wollen's uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen
hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir
können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es gethan
haben, - und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer
Sonne, daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten Ein Ziel
gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder
auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und vielleicht sehen wir
uns nie wieder, - vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht
wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir uns
fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: eben dadurch sollen wir uns auch
ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige
Freundschaft heiliger werden!"
Diese
Worte schrieb Friedrich Nietzsche im 279. Aphorismus seines Buches "Die
fröhliche Wissenschaft". Wenige Tage nach Erscheinen des Werks ist der
Freund - genauer genommen: der ehemalige Freund - in dieser so treffend
formulierten Lebensskizze tot. In diesen wenigen, aber ungeheuer prägnanten und
aussagekräftig Worten hält der Philosoph einen Abschnitt seines Lebens fest,
der zu den intensivsten und wohl glücklichsten seines Lebens gehören sollte. Zehn
Jahre war er der "Sohn" des "Niebelungenschöpfers" Richard
Wagner und seiner Familie ein wichtiges, wenn nicht gar der wichtigste
Bestandteil neben ihrer selbst - eine Seelen- und Gedankenverschwisterung.
"Lust
und Schmerz, Sieg und Niederlage, Leben und Tod - nicht nacheinander, sondern
in eins. Wenn Wagner der Komponist dieses Doppelakkordes ist - Friedrich
Nietzsche wird sein Denker werden, denn in dieser Zerreißung ist er sich selbst
begegnet.", weiß Kerstin Decker. Die Freundschaft der zwei großen
Seelenverführer, die bei einem Treffen am Abend des 8. November 1868 in Leipzig
begann und sich im Frühjahr 1869 und den darauffolgenden Jahren im Schweizer
Tribschen - Wagners Domizil bis 1872 - fortsetzte und intensivierte, ist in der
deutschen Geistesgeschichte wahrscheinlich nur mit der Goethes und Schillers
vergleichbar. "Mich schaudert immer bei dem Gedanken, ich könnte abseits
von Ihnen liegen geblieben sein", teilt der junge Friedrich Nietzsche dem
mehr als dreißig Jahre Älteren mit, der in den Wagners eine neue Familie
gefunden hat, ja, die ihm Heimat ist, um sich fünfzehn Jahre später zu
korrigieren: "Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine
Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt...". Was lag hier vor? Was
war passiert? Kerstin Decker, die bereits über Heinrich Heine, Paula
Modersohn-Becker, Else Lasker-Schüler und Lou Andreas-Salomé hervorragend
recherchierte, geht den Dissonanzen auf die Spur.
Nun
ist sicherlich nicht wenig geschrieben worden "über den Bund des Musikers,
der auch Philosoph war, mit dem Philosophen, der auch ein Musiker war".
Kerstin Decker begründet ihre Schrift folgendermaßen: "Nuancierungen sind
Grundsatzentscheidungen". Aufgebaut wie eine Wagnerische Oper (die Kapitel
werden mit Vorspiel sowie Erster bis Dritter Aufzug überschrieben) dringt die
Autorin tief ins Innere ihrer Protagonisten vor. Sie pflanzt sich in das
Gehirn, die Seele dieser beiden Genialen ein und erzählt dem Leser aus deren
Blickwinkel, deren Perspektive. Denn "kein Mensch", so Decker, "existiert
in der Faktizität seines äußeren Lebens." Sie baut
"Gedankenschiffe" und umsegelt ganz im Sinne ihrer Protagonisten
deren geistige Welt. Gerade das macht die vorliegende Abhandlung so
unnachahmlich. Ein weiterer, sehr angenehmer und hervorhebenswerter Punkt
dürfte das Herunterstoßen der vermeintlichen Heroen von ihren Sockeln sein.
Decker "gestattet" ihren Hauptpersonen schon bei ihrer ersten
Begegnung ihre Vergangenheit mitzubringen, "ja, ganze unzerhauene
gordische Lebensknoten, statt nur ihre großen, inzwischen vielleicht zu großen
Namen." Gedanken und Gefühlen der Personen, die nicht auf tatsächliche
Zeitzeugnisse zurückzuführen sind, nähert sie sich behutsam an, wägt ab,
variiert. Nie zwingt sie ihre Interpretation auf, sondern erzeugt eine Art
literarischen Schwebezustand, so dass der Leser sich eigenständig positionieren
kann. Entstanden ist eine sehr intime, einfühlsame, auch wenn keineswegs leicht
zu lesende und aufzufassende, aber dadurch herausfordernde und unglaublich
bereichernde Biografie auf höchstem Niveau. Geschichtliche, philosophische und
biografische Vorkenntnisse zu Wagner und Nietzsche sind keineswegs von
Nachteil, könnte man sich sonst allzu schnell im Strudel der überschlagenden
Ereignisse und philosophischen Denkweisen verlieren oder verheddern.
So
endet letztendlich das sich durch Tiefe und Substanz auszeichnende Buch mit dem
kürzesten gemeinsamen Nachruf auf Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, den
der Jüngere im letzten Herbst seines bewussten Lebens verfasst: "Das, worin
wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen
dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsere Namen ewig wieder
zusammenbringen..." Kerstin Decker trägt daran gleichfalls einen Anteil.
Kerstin Decker
Nietzsche und Wagner
Geschichte einer Hassliebe
Propyläen
Verlag, Berlin (Oktober 2012)
416
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3549074247
ISBN-13:
978-3549074244
Preis:
19,99 EURO
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