Erschienen in Ausgabe: No 81 (11/2012) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Heike Geilen
"Das
Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten". Waren die Herausgeber Visionäre,
als sie dieses Schiller-Zitat aus dem Wilhelm Tell für ihren
"Drogisten-Taschen-Kalenders 1913" auswählten? Die Angst, dass sich
dieses Jahr gar als Unglücksjahr erweisen sollte, sitzt jedenfalls einigen
Zeitgenossen mächtig im Nacken. "Gabriele D'Annunzio schenkt einem Freund
sein 'Martyrium des Heiligen Sebastian' und datiert es in der Widmung lieber
vorsorglich als '1912 + 1'.", findet Florian Illies heraus. Für Arnold
Schönberg, der nicht ohne Grund die "Zwölf-Ton-Musik" erfand, ist es
gar ein Martyrium. In seinen Stücken wird man die Zahl 13 vermissen. Sie kommt
nicht als Takt vor und auch kaum in den Seitenzahlen. Als er voller Entsetzen
bemerkt, dass der Titel seiner Oper "Moses und Aaron" 13 Buchstaben
haben würde, strich er dem älteren der beiden Brüder einfach ein "a"
aus seinem Namen. Seitdem heißt sie halt "Moses und Aron". Eines
konnte Schönberg allerdings nicht zu seinen Gunsten beeinflussen. War er schon
an einem 13. September geboren, so trieb ihn die panische Angst um, an einem
Freitag, dem 13. zu sterben. "Aber es half alles nichts. Arnold Schönberg
starb an einem Freitag, dem 13. (allerdings erst 1913 + 38, also 1951). Doch
auch 1913 wird für ihn noch eine schöne Überraschung bereithalten. Er wird
öffentlich geohrfeigt.", stellt Illies lakonisch fest.
Monatsweise
entfaltet der ehemalige Ressortleiter der "Zeit", Mitbegründer und
Herausgeber der Kunstzeitschrift "Monopol" und heutiger Partner des
Berliner Auktionshauses "Villa Griesebach" ein virtuoses Panorama
dieses wohl unvergleichlichen Jahres, in welchem nicht nur Da Vincis aus dem
Louvre gestohlene Mona Lisa wiedergefunden wird, sondern auch zwei
Nationalmythen begründet werden: In New York erscheint die erste Ausgabe der
"Vanity Fair". In Essen eröffnet die Mutter von Karl und Theo
Albrecht den Prototyp des ersten Aldi-Supermarkts. Wenn das nicht aufhorchen
lässt! Mit Witz, Charme, interessantem Hintergrundwissen, Kenntnis und
Virtuosität gelingt Illies ein faszinierender Rundblick, so dass man sich
beinahe physisch in die Zeit vor bald 100 Jahren zurückversetzt erlebt. Als
Vergleich dürfen hier vielleicht die monumentalen 360-Grad-Panoramen des alten
Roms oder Dresdens im Jahr 1756 des Künstlers Yadegar Asisi herangezogen
werden, die er in den ehemaligen Gaspanometern in Leipzig und Dresden zur Schau
stellt(e).
Es
ist fürwahr ein völlig überdrehtes Jahr. Es wimmelt nur so vor
expressionistischer Kunst und Künstlern. So fühlt man in der Berliner
Humboldtstraße 13 mit der liebessüchtigen, aber lebensuntüchtigen Else
Lasker-Schüler als sie dem Pathologen Gottfried Benn verfällt und aus dieser
kurzen Liason einige der schönsten Zeilen dieser beiden Lyriker entstehen
lässt. Oder man ist auf dem Eis dabei, als der österreichische Alois Lutz sich
so gekonnt in der Luft dreht, dass dieser Sprung bis heute seinen Namen trägt.
Stalin verweilt gerade in Wien und vielleicht hat er bei seinem Spaziergang
durch den Park von Schloss Schönbrunn auch den 23 Jahre alten gescheiterten
Maler getroffen, dem die Akademie die Aufnahme verweigerte und der nun die Zeit
mit Postkartenmalerei im Männerwohnheim in der Meldemannstraße totschlägt und
wie der Russe auf seine große Chance wartet. Seinen Namen kann man heute nur
noch voller Widerwillen aussprechen: Adolf H.
Ein
Jahr, aber was für eins: Kokoschka und Alma Mahler lieben sich. Gustav Klimt,
Egon Schiele und Marcel Duchamp malen Akte. Freud liest derweil in entblößten
Seelen. Heinrich und Thomas Mann enthüllen sich literarisch in ihren neuen
Werken. Rilke leidet. Kafka zögert. Coco Chanel expandiert. Picasso fällt im
Frühjahr in seine größte seelische Krise. Brecht wiederum langweilt sich in der
Schule, kränkelt und fängt daher an zu dichten.
München
ist damals mit 600 000 Einwohnern den 2,1 Millionen in Wien deutlich
unterlegen. Dafür wurde letzteres wohl mit schlechtem Wetter belegt. Im August
herrschte hier nur eine Durchschnittstemperatur von 16 Grad. Da half nur eines:
eine Reise zum Mittelpunkt der Erde. Gleich zwei davon finden 1913 statt.
"Piero Ginori Conti gelingt es in Lardello in der Toskana, Wasser aus dem
Erdinneren für die Stromerzeugung zu nutzen. Die Geothermie ist entdeckt.
Gleichzeitig schreibt Marshall B Garner sein Buch, in dem er belegt, dass im
Innern der Erde noch immer Mammuts leben. Sie seien mitnichten ausgestorben,
hätten sich nur in wärmere Regionen zurückgezogen.", liest man bei Illies.
"Jedenfalls
1913 ist ziemlich harmlos verlaufen, nicht tot und schläfrig, ziemlich viel
inneres Leben.", wie die vom Leben mit ihrem Mann und unschlüssig, in
welche Richtung ihre Kunst gehen soll ermüdete und in der Silvesternacht
bilanzierende Käthe Kollwitz feststellt. Ganz so harmlos dann vielleicht doch
nicht. Genau: Ziemlich viel inneres Leben! "Und etwas stand offen: es war
wohl die Zukunft..." Das schreibt wiederum Robert Musil in seinen Notizen,
aus denen sehr viel später sein Roman: "Der Mann ohne Eigenschaften"
erwachsen wird.
Oswald
Spengler, der dreiunddreißigjährige Misanthrop, Soziopath und Mathematiklehrer
außer Dienst erkennt vielleicht als einer der Wenigen die dunkle Zukunft.
Täglich neu notiert er: Es geht eine große Zeit zu Ende, merkt es denn keiner?
"Kultur - noch letztes Aufatmen vor dem Erlöschen." Ach nein, da ist
noch jemand. Marcel Proust sitzt in seinem Arbeitszimmer am Boulevard Haussmann
102 in Paris, baut sich seinen eigenen Käfig - eine Art Schallschutzkammer -
und notiert im gerade begonnenen ersten Teil seiner "Suche nach der
verlorenen Zeit" folgendes: "Die Wirklichkeit, die ich einst kannte,
existiert nicht mehr. Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles
Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Hauser, Straßen, Avenuen sich
flüchtig, ach! die Jahre."
Florian
Illies berichtet von Bekanntem und Bekenntnissen, von Populärem und weniger
Eingängigem. Er streift politische Gegebenheiten, findet aber immer wieder in
die Kunst zurück. Mit unglaublich viel Verve und Esprit verführt er den Leser
zu einer Lektüre, wie man sie sich jedem Geschichts- oder
Gesellschaftsunterricht nur wünschen würde. Spannend, witzig, mitreißend und
trotzdem auf hohem Niveau. Ein großartiges Kompendium, dem gern noch einige
Jahresrückblicke mehr folgen dürfen.
Florian Illies
1913
Der Sommer des Jahrhunderts
S.
Fischer Verlag, (Oktober 2012)
319
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3100368010
ISBN-13:
978-3100368010
Preis:
19,99 EURO
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