Erschienen in Ausgabe: No 83 (1/2013) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Christian J. Grothaus
Vor rund 100 Jahren war es für
die klassische Wissenschaft an der Zeit, das deterministische Weltbild zu
begraben, denn die Unschärferelation verdeutlichte, dass man Ereignisse nicht
exakt bestimmen kann. Im Text „Quantenmechanik und Kantsche Philosophie“
verdeutlichte Werner Heisenberg denn auch sehr anschaulich, dass die Gesetze
der modernen Physik vielmehr in einer Beobachtungssituation gefunden werden,
die zwischen dem Möglichen und Wirklichen förmlich changiert. Die Unvorhersehbarkeit
und eine zugehörige Unbestimmbarkeits-Erfahrung, die damals einen Albert
Einstein noch empörte und zum Ausruf „Gott würfelt nicht“ brachte, ist
heutzutage allgemein akzeptiert und wird vor allem in der zeitgenössischen
Kunst reichlich bearbeitet. So werden nach der Berliner Schau über Gerhard
Richter aus diesem Sommer im selben Kontext derzeit in München auch die
Arbeiten von Hiroshi Sugimoto vorgestellt.
Clemens Bellut, der Leiter des
Instituts Design2context an der Zürcher Hochschule der Künste, stößt ebenfalls
in dieses Horn, denn er brachte kürzlich einen Sammelband heraus, der den
einfachen wie ausdrucksstarken Titel „unbestimmt“ trägt. Philosophen, Künstler,
Grafiker, Kunstwissenschaftler, Dramaturgen und Medienwissenschaftler schreiben
darin über etwas, das sich nicht (be)schreiben lässt. Diese Gemengelage scheint
paradox und mancher mag geneigt sein, Ludwig Wittgensteins Diktum zu folgen und
zu schweigen. Andere jedoch mögen nicht stehenbleiben an einer Grenze, die nur
entstehen kann, wenn die tradierten logisch-kausalen Erbschaften des Abendlands
inklusive der Dichotomie zwischen Objekt und Subjekt kritiklos angenommen
werden.
Maurice Merleau-Ponty
jedenfalls wollte sich nicht auf diese Weise einschränken lassen und hat u.a.
im Buch „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ eine Art vorintentionale Matrix
beschrieben, die als Drittes fungiert und Weltbildung mit bewussten und
unbewussten ‚Teilnehmern‘ zuallererst möglich macht: „Mit dem ersten Sehen, mit
dem ersten Kontakt, der ersten Lust findet eine Initiation statt, und das
bedeutet nicht Setzung eines Inhaltes, sondern Eröffnung einer Dimension, die
fortan nie wieder verschlossen werden kann, es bedeutet Einrichtung einer
Ebene, die fortan jede andere Erfahrung mitbestimmen wird […] Sie ist das
Unsichtbare dieser Welt, das, was diese Welt bewohnt, sie stützt, sie sichtbar
macht, sie ist ihre innere und ureigene Möglichkeit“.
Die meisten der Beiträge im
vorliegenden Sammelband folgen dem Anspruch einer solchen Dimensionseröffnung.
Es rahmen dabei bildreiche Suchbewegungen am Anfang und Ende einen rund 100
Seiten starken Textblock, den sich wiederum zwölf Autoren teilen. Da sie
allesamt mit einer Leserschaft rechnen müssen, die noch nicht ablassen will
(oder kann…) von den eintrainierten, logischen Prozeduren der Weltbestimmung
ist es nicht unklug, der Frage den Vorzug vor der Antwort zu lassen. So
jedenfalls arbeitet der erste Beitrag und führt den Betrachter u.a. am Beispiel
des o.g. Hiroshi Sugimoto behutsam in eine Art visuelle Rückabwicklung der
eigenen Wahrnehmungen. Eine charmante Mischung aus Dekonstruktion und
strukturalistischer Kritik hingegen stellt der schließende „Visual Essay“ dar.
Durch geschickte Gegenüberstellung von Bildern mündete er nämlich in ein
Plädoyer für das Unperfekte, um dieses als gleichberechtigtes Maß für zu
gestaltende Objekte zu reklamieren.
Wolken sind nicht nur bei den
Architekten von Coop Himmelb(l)au beliebte Motive, um die Suche nach neuen
Formen zu symbolisieren. So werden im zugehörigen Text Theorieversatzstücke aus
der Romantik von Johann Wolfgang v. Goethe und Henrich v. Kleist kenntnisreich
kombiniert mit Dichtung, Fotografie, Architektur und Malerei der Vergangenheit
und auch Gegenwart. Die Wolke steht nicht nur für permanenten Wandel, sondern
lässt sich auch vom Unbestimmten bestimmen. Sie ist die Manifestation des
Übergangs und als solche reicht sie fast in die Ebenen der Musik bzw. Klänge,
die ja auch im Moment ihres Entstehens wieder vergehen. Dieser „metaphorische
Überschuss“ macht die Wolke ebenfalls resistent gegen die Ermächtigungsversuche
der modernen Rechenmaschinen.
Ein fiktiver Dialog zwischen
einem Künstler und einem Philosophen verweist auf die Begrenztheit
ausschließlich diskursiver Weltbestimmung. In sokratischer Manier werden in
prägnanter Weise die Versuche zur Einhegung des Ungewussten mit Gewusstem
beschrieben. Ob nun metaphysische Wünsche einer epiphanischen
Wiederverzauberung, waghalsige Versuche der Differenzierung des
Undifferenzierbaren oder Ausflüge in die existenzialistische Angsttheorie,
stets geht es in unserem Kulturraum darum, das Unbestimmte dingfest zu machen,
damit es kontrollierbar ist. Menschenwerk wird zu einer Himmelsmaschine und
damit zum Naturgesetz. Wiederum der (Rechen-)Maschine kommt dabei große
Bedeutung zu, denn mittlerweile ist die Simulation an die Stelle der
Repräsentation getreten und besetzt als nun steuerbarer Platzhalter die
Unbestimmtheit, die daraufhin „das perfekte Instrumentarium ist, um die
allgemeine Mobilmachung, die wir heute Globalisierung nennen, voranzutreiben“.
Auch die Musiker bzw.
Klangkünstler bekommen im vorliegenden Band die Gelegenheit, ihre Blicke in das
Chaotische, Rauschende, Zufällige und Interaktive zu werfen. Nirgendwo wird
wohl die Reduktion der begegnenden Welt deutlicher als in einer Profession, die
über die Jahrtausende gelernt hat, Töne gegen Geräusche auszuspielen. Letztere
nämlich umgeben einen jeden Menschen zu jeder Sekunde seines Lebens und
formulieren Hörräume, die sich der geordneten Strukturierung, eben Bestimmung
entziehen. Ein Ruf im Wald, dessen „akustisches Nachglühen“ zu einem
„Echoraumklanginstrument“ wird und die „Klangbaustelle“ unter der
Nibelungenbrücke in Linz können so zu „akustischen Arenen“ werden, die
Ausblicke in und über unsere Klangdimensionen ermöglichen.
Wiederum Maurice Merleau-Ponty
gibt einen Hinweis, warum „unbestimmt“ unter die Augen vieler Leser gehört. Die
Ergebnisse der künstlerischen Forschung aus Zürich zeigen nämlich, dass
Unbestimmtheit die ‚normale‘ Verkehrsform der Menschen ist und nicht etwa das
kulturell so mühsam und unaufhörlich beschworene Gegenteil. Es ist an der Zeit,
auf breiter Basis Denk- und Handlungsmodelle anzubieten, die die selbstgebauten
(goldenen) Teleologie-Käfige des Abendlands überwinden: „Es gibt nicht mehr
Bewusstsein, Projektionen, Ansich oder Objekt. Es gibt Felder, die sich
überschneiden, Felder in einem Feld, wo die »Subjektivitäten« integriert sind“.
Bellut, Clemens (Hrsg.): unbestimmt. Ein gestalterischer und
philosophischer Reflektionsbegriff; Zürich 2012
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