Erschienen in Ausgabe: No 84 (2/2013) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Wolfgang Ockenfels
Deutschland
ist nicht arm, aber ärmer geworden. Mit diesem Komparativ wird keine absolute Steigerung,
sondern ein statistischer Vergleich zwischen armen und reichen
Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck gebracht. Nach den Regeln der statistischen
Armutsmessung würde eine Stadt wie Berlin im Durchschnitt noch mehr Arme
aufweisen, wenn ein Milliardär wie Bill Gates eingebürgert würde. Ohnehin
fühlen sich die Deutschen lieber als arm denn als reich. Und viele wollen
als arm gelten, ohne am eigenen Leib erfahren zu müssen, was materielle Not bedeutet.
Merkwürdig auch, daß in der öffentlichen Wahrnehmung des Armutsdiskurses der
breite Mittelstand ausgeblendet bleibt, wenn von einer sich öffnenden „Schere“
von arm und reich die Rede ist.
Die
Schere scheint hier vor allem in den Köpfen zu walten. Abgeschnitten werden qualitative
Formen der Armut, die als geistig-moralische Defizite in Erscheinung treten,
aber nicht so leicht quantifizierbar und statistisch erfaßbar sind. In diesem
Sinn- und Wertemangel liegt vielleicht der tiefere Grund dafür, daß es auch
ökonomisch bergab geht. Und daß die heilsökonomischen Wachstumsträume in einer
demographisch ausgedünnten und rapide alternden Gesellschaft nicht in Erfüllung
gehen können.
Es
gehört sich nicht, über die „wirklich“ Armen zu spotten oder sie auszubeuten.
Es verstößt aber nicht gegen ihre Würde, einmal zu fragen, wer alles zu diesem
Personenkreis zählt, was Armut hier und heute bedeutet und wie sie zu
überwinden sei. Habt Erbarmen mit den Armen! Dieser christliche Aufruf zur
Barmherzigkeit mit den „Geringsten der Brüder“ läßt sich freilich leicht
manipulieren und mißbrauchen. Vor allem im säkularisierten Deutschland, wo die
Mitleidsreligion Friedrich Nietzsches besonders die Tiere schützt, im
Nazireich die Euthanasie legitimierte und im „Winterhilfswerk“ nur die
bedürftigen, eugenisch einwandfreien „Volksgenossen“ unterstützte.
Der
Mißbrauch mit dem Mitleid zeigt sich bei einigen florierenden Spendensammelorganisationen
und nimmt gelegentlich groteske Formen an, auf die Satiriker wie Henryk M.
Broder gerne hinweisen. Von dieser Sorte in der Tradition des Karl Kraus
gibt es leider nur wenige, die in Zeiten der political correctness
Dinge kritisch aufspießen, die vom mainstream kaum als problematisch
empfunden werden. Broder hat sich erlaubt, ein Exponat der
Plakat-Ausstellung „Mut zur Wut“, organisiert von der Kunsthalle Heidelberg, zu
entlarven. Es stellt einen gelben Davidstern dar, in dessen Mitte „Hartz IV“
geschrieben steht. Was bedeuten soll: „Die Sozialhilfeempfänger werden heute so
behandelt wie die Juden im Dritten Reich.“ Dieser verrückte Vergleich schädigt
das Ansehen unseres Sozialstaats und beleidigt die jüdischen Opfer des
Nationalsozialismus.
Der
Sozialstaat bundesdeutscher Prägung gehört zur Substanz dessen, was man immer
noch eine soziale Marktwirtschaft nennen darf. Bei aller Kritik, die sich gegen
einzelne sozialpolitische Reformen richtet, ist es ihm doch weithin gelungen,
materielle Massenarmut zu vermeiden und „das Soziale“ im Sinne der Gerechtigkeit
und der Solidarität auszulegen. Damit wurden Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit
angeregt und „das System“ insgesamt stabilisiert. Wenn nun die sozialen
Sicherungen trotz gegenteiliger politischer Wahlkampf-Versprechungen
abzubröckeln beginnen, so hat das mehrere Ursachen - und auch Wirkungen, auf
die man – vorsorglich klagend – hinweisen muß.
Zu
den Ursachen gehört jedenfalls die vermaledeite Schuldenmacherei, bei der man
sich nicht auf die Soziale Marktwirtschaft und auch nicht auf Keynes berufen
kann. Schulden machen bedeutet, Armut auf später zu verschieben, weil man sich
jetzt ein üppiges Leben gönnen will, das man sich aber nicht leisten kann. Was
ist, wenn die ökonomisch-ökologischen Wachstumsgrenzen, die man immer weiter
vor sich hergeschoben hat, plötzlich ganz nahekommen? Dann „schlägt des
Erwachens qualvolle Stunde“ (Johannes Maria Verweyen).
Dieser
Ernstfall ist in einigen europäischen Staaten bereits eingetreten, nicht nur in
Griechenland. Wenn er das überforderte Deutschland erreicht, das sich noch als
Retter Europas gebärdet, gibt es auch bei uns Massendemonstrationen und Generalstreiks.
Weil unsere Demokratie legitimatorisch vor allem von einem funktionierenden
Sozialstaat abhängt, könnte sie in dem Maße delegitimiert werden, wie seine Wohlfahrtsverheißungen sich nicht mehr erfüllen lassen. Und weil unsere
Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Rentner sich nicht hilfesuchend nach
Brüssel wenden, sondern Berlin zur Verantwortung rufen, könnten die
Anforderungen an einen sozialen Nationalstaat stark anwachsen. Am europäischen
Krisenhorizont bahnt sich die Wiedergeburt eines - hoffentlich geläuterten -
Nationalstaatsbewußtseins an, das aber mit einigen nationalistischen Exzessen
zu rechnen hat.
In
dieser Lage wird man grundsätzlich neu über die Erblast der französischen Revolutionsparole
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ reden müssen. Ist Gerechtigkeit mit Gleichheit
gleichzusetzen? Was bedeutet die realsozialistische Regel „But some are more
equal” aus George Orwells „Animal farm“? Christen geht es um quality,
not equality. Es geht überdies um eine Freiheit, die sich nach stabilen
ethischen Maßstäben messen lassen muß, um nicht beliebig zu werden.
Und
um eine Solidarität, der die Frage nach der echten Hilfsbedürftigkeit der
„Armen“ und nach der Zumutbarkeit (vor allem der Hilfeleistenden) ans
Herz gewachsen ist. Christliche Sozialethiker werden sich, wenn sie eine
tragfähige Antwort auf diese Fragen suchen, gewiß an das Prinzip der
Subsidiarität erinnern. Das aber ist ziemlich in Vergessenheit geraten.
Schließlich
werden wir durch die Wirklichkeit belehrt, wie eng soziale Strukturfragen mit
moralischen Problemen verknüpft sind. Die Lockerung der Ehemoral hat zur
Auflösung der Familien beigetragen und kann schließlich zur Kernschmelze der
Gesellschaft führen. Kinderreichtum ist nicht erwünscht, er führt heute zur
Verarmung der Kinder. Die Kinderarmut wird man freilich durch Ökonomisierung
und Verstaatlichung der Familien eher verstärken als beheben.
Mit freundlicher Genehmigung: Prof. Dr. Dr. Ockenfels: http://www.die-neue-ordnung.de/
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