Erschienen in Ausgabe: No 84 (2/2013) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Heike Geilen
"In Christchurch hatte ein Junge mit
dem Revolver seines Vaters einen Freund erschossen. An der Nordküste waren drei
Dutzend Grindwale gestrandet und erstickt, und drei von fünf
Besatzungsmitgliedern waren ertrunken, nachdem ein Fischkutter in einer
Monsterwelle gekentert war. In Afghanistan war Krieg. In einer Kleinstadt des
amerikanischen Mittelwestens war ein Schüler Amok gelaufen." Meldungen wie
diese geistern tagtäglich durch die Gazetten, beherrschen die
Berichterstattungen auf der ganzen Welt. Doch unter ihrer destruktiven
Oberfläche sucht sich ein zartes Pflänzchen seinen Weg ins Licht. Es trägt den
Namen Hoffnung, erwachsen aus der Schönheit des Augenblicks. Und dies klingt
dann so: "...die fernen, lautlos rauschenden Bäume der Donau-Auen, sanft
bewegte Kronen riesiger Schwarzpappeln, Silberweiden und Eichen, Wasserwälder,
in denen ein Labyrinth von Altarmen der Donau, ausgedehnte Schilfseen und von
blühendem Dickicht umschlossene Tümpel das Spiegelbild abendlicher Wolkentürme
in den Himmel zurückwarfen."
Beide Textpassagen stammen aus Christoph
Ransmayrs "Atlas eines ängstlichen Mannes". Sie stehen bezeichnend
für den Stil der siebzig Episoden, die der österreichische Autor in seinem
neuen Buch erzählt. Sie nehmen den Leser auf eine Reise quer über den Kontinent
mit, von Europa nach Chile, Brasilien, Mexiko und Bolivien, von Nepal über
Indien bis nach Sri Lanka, springen über nach Kambodscha, Malaysia, Indonesien
und Neuseeland, um sich hernach einen Weg über die Russische Arktis zum
nördlichsten Punkt der Erde zubahnen.
Ransmayr berichtet aus Südafrika, Mauritius oder Japan und strandet wie einst
die Meuterer der Dreimastbark Bounty im Südpazifik, auf der Insel Pitcairn. Aber
es sind keine Reiseberichte der üblichen Art. Sondern allen wohnt ein
Erkennungszeichen inne: die Grenze zwischen den Orten der Lebenden und denen
der Toten verwischen, deren Welten fließen ineinander. Jede Erzählung handelt zugleich
von Trauer und Freude, von Grauen und Schönheit, von Gewalt und Hoffnung. Manchmal
trennt diese Gegensätze nur ein kurzer Augenblick, ein anderes Mal liegen Jahre
dazwischen. Sicher sein kann man sich jedenfalls nie am eben noch geschilderten
"funkelnden Frieden einer Sommernacht, an dieser Windstille, dieser
Wärme", da ihnen immerzu etwas Trügerisches, ja Bedrohliches innezuwohnen
scheint, deren seismische Wellen zerstören können oder nur ein leichtes, die
Gefahr andeutendes Vibrieren zurücklässt..."eine trügerische Ferne".
In seiner unverkennbaren, poetischen, zögernden,
zweifelnden und suchenden Sprache verwebt Christoph Ransmayr Erlebnisse aus
vierzig Jahren Reiseerfahrung zu einem unglaublich dichten Textgewebe, das
letztendlich wie ein Samen als "eine Art Ewigkeit aus den Zweigen auf uns
herab"fällt und den Leser in ein Kokon vielfältigster Emotionen einspinnt.
Der Autor folgt dabei keinem stringenten Weg, läuft auf keinem geraden Pfad zur
Pointe jeder Erzählung. Er nähert sich stets aus zwei Gesichtspunkten seinem
Ziel, legt konträre Schichten übereinander, die gegenseitig konkurrieren und
findet manchmal sogar Wege zurück in die Vergangenheit, an den Ursprung der
Zeit, Wege in die Kindheit. Fernab jeder gewöhnlichen Touristenpfade sieht er
Außergewöhnliches, Ungewöhnliche und Faszinierendes, beobachtet Scheues oder
entdeckt Verborgenes. Er folgt Flussläufen, Straßen oder klettert auf Berge und
Hügel, um die Schönheit unseres Planeten zu entdecken, sich aber auch seiner
dunklen Seite zu stellen und um vielleicht so wie Pavlik, ein pensionierter
Lehrer aus dem tschechischen Třebič, der Tag um Tag die verfallene Mauer eines
ehemaligen jüdischen Friedhofs neu errichtet, "mehr Licht in die Köpfe der
nächsten Generation" zu bringen.
In Ransmayrs Weltenatlas taucht man ein
und nimmt dabei den Lärm der Oberwelt nur noch gedämpft war. Alle Bilder, die
unweigerlich bei der Lektüre dieses großartigen Buches vor dem geistigen Auge
entstehen, spiegeln nicht nur die Farben seiner literarischen
"Wandgemälde" wider, sondern sie steigen Bild um Bild aus einer
imaginären Tiefe empor. Vergleichbar mit einem beeindruckenden Erlebnis, das
der Autor bei einer Begegnung mit einer Buckelwalkuh auf den Silverbanks vor
der Küste von Haiti und der Dominikanischen Republik hatte: "Vielleicht
war diese Riesin in Schwarz tatsächlich aus ihrer Tiefe zu einem
Atlantikschwimmer emporgeschwebt, um ihm eine Ahnung davon zu vermitteln, wie
reich, wie vielfältig, unverändert und selbstverständlich die Welt ohne ihn
war."
Christoph Ransmayr
Atlas eines ängstlichen Mannes
S. Fischer Verlag (Oktober 2012)
456 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100629515
ISBN-13: 978-3100629517
Preis: 24,99 EUR
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