Erschienen in Ausgabe: No 84 (2/2013) | Letzte Änderung: 01.05.14 |
von Ingo Friedrich
Normalerweise freut
man sich über einen Preis, über den Friedensnobelpreis allemal. Aber
hierzulande war von Euphorie wenig zu spüren. Haben wir den Nobelpreis
verdient, Herr Dr. Friedrich?
Viele Menschen und auch ich haben sich sehr über die Vergabe
des Friedensnobelpreises an die Europäische Union gefreut. Ja, wir haben den
Preis verdient, denn die Europäische Union wirkt als eines der größten und
erfolgreichsten Friedensprojekte der Geschichte. In seinem Testament hat Alfred
Nobel von einer „Bruderschaft zwischen den Nationen“ und einer Art
„Friedenskongress“ als Kriterium für den Nobelpreis gesprochen. Genau das
trifft auf Europa zu.
Ein Blick in die
deutsche Bevölkerung befreit den Beobachter zumindest nicht vom Verdacht, das
Brüssel weit weg ist. Sind wir hierzulande eher Euroskeptiker, oder einfach
noch nicht reif für ein gemeinsames Europa, für eine europäische Bewegung,
deren Präsident Sie für Bayern sind?
Die Deutschen sind m. E. derzeit geistig-politisch auf dem
Weg vom bisher Europabegeisterten „Nationalskeptiker“ zum Europa-realistischen
und nationalstaatlich orientierten Bürger. Sie nähern sich damit der üblichen
Haltung der anderen großen EU-Staaten an. Solange diese neue Haltung der
Deutschen notwendige und sinnvolle europäische Gemeinsamkeiten, etwa der
Bankenkontrolle, der gemeinsamen Außenpolitik oder der Bewältigung der
Schuldenkrise nicht blockiert, erleichtert sie zwar nicht die Arbeit für
Europa, ist aber auch nicht wirklich schädlich.
Der Weg zu einem gemeinsamen Europa vollzieht sich eben
manchmal in kleineren und manchmal in größeren Schritten. Deswegen bleibt die
Arbeit europäischer Verbände und Bewegungen wichtig und hilfreich, gerade auch
um die Komplexität europäischer Vorgänge zu erklären und für eine positive
europäische Grundüberzeugung der Bürger zu arbeiten.
Wie sieht die Zukunft
Europas aus? Finanzminister Schäuble meinte: „Wir profitieren man meisten von
Europa.“ Was meint er damit?
Das Ziel bleibt ein Europa, das überall dort Kompetenzen und
gemeinsame Kapazitäten bekommt, wo der Nationalstaat nicht mehr „liefern“ kann,
weil er überfordert ist. Vor diesem Hintergrund wird Europa auch zukünftig kein
klassischer Staat analog des völkerrechtlich definierten Modells der heutigen
Nationalstaaten werden. EU-Europa wird sich aber immer staatsähnlicher
entwickeln und wichtige Aufgaben als additive Entscheidungsebene subsidiär und
zusätzlich zur regionalen und nationalen Entscheidungsebene übernehmen.
Erschwert wird die Erfüllung dieser Aufgabe naturgemäß durch die immer noch
bestehenden großen mentalen und kulturellen Unterschiede.
Für Deutschland haben sich folgende Vorteile ergeben:
In der Finanzkrise hat das deutsche Wirtschaftsmodell europaweit
Vorbildcharakter gewonnen, auch wenn die dadurch bewirkten Anstrengungen für
die sog. peripheren Staaten immens und unpopulär sind. Insgesamt wird Europa
dadurch wettbewerbsfähiger und stärker. Diese zu erwartenden Stärkung bedeutet
mehr Stabilität und nutzt damit auch Deutschland, weil dadurch langfristig
verlässlich kalkuliert werden kann. Hinzu kommt, dass Deutschland durch den
relativ niedrigen Euro-Kurs (der DM-Kurs würde deutlich höher liegen) im
globalen Wettbewerb einen erheblichen Exportvorteil für sich verbuchen kann.
Immer lauter werden
die Stimmen gegen den Euro, zerstört die gemeinsame Währung die Identität
Europas?
Der gemeinsame Euro zwingt gerade die Südstaaten zu zwar
unpopulären aber auf Dauer richtigen, weil wettbewerbsfördernden
Strukturanpassungen. Durch die vor der Euroeinführung bestehende Möglichkeit
der Währungsabwertung war der Anpassungsdruck wesentlich geringer. Auf Dauer
werden diese Staaten den Sinn der Maßnahmen erkennen und es ist zu erwarten,
dass durch ein stärkeres Europa die gemeinsame Identität ebenfalls nicht ab,
sondern zu nimmt.
Was hätte der
Austritt Englands für Folgen für die gesamteuropäische Wirtschaft?
Ein Austritt Englands würde global als Beginn eines
Auseinanderdriftens Europas verstanden werden. Wir Europäer müssen – auch wenn
manchmal mit zusammengebissenen Zähnen – England als Mitglied ertragen und es
immer wieder durch geeignete Maßnahmen auf den „Pfad der europäischen Tugend“
zurückführen. England selbst will wirtschaftlich beim Binnenmarkt bleiben, es
darf aber andererseits die übrigen EU-Staaten nicht daran hindern, weiter
voranzuschreiten.
Wäre die Türkei ein
würdiger Partner in Europa, oder sollte man derartige Spekulationen derzeit
noch zurückschieben?
Ein Beitritt der Türkei würde derzeit und auf absehbare Zeit
sowohl die Aufnahmefähigkeit der europäischen Institutionen, als auch die
Akzeptanzbereitschaft der EU-Bürger weit überfordern, ganz zu schweigen von der
sicher auch bestehenden Überforderung der türkischen Bürger. Insofern müssen
die vereinbarten Verhandlungen mit der Türkei weitergeführt werden, um für
dieses große und stolze Land einen Sonderstatus mit allen Möglichkeiten und
Öffnungen knapp unterhalb der Vollmitgliedschaft zu erreichen.
Was bedeutet heute
Souveränität oder Gemeinwohl, muss es länderspezifisch gedacht werden, oder
eben doch europäisch?
So wie wir heute, realistischerweise eine mehrdimensionale
Identität praktizieren (also gleichzeitig bayerische Deutsche, deutsche
Europäer und europäische Weltbürger sind) so müssen wir auch die Begriffe
Souveränität und Gemeinwohl heute neu denken und ergänzen. Faktum ist, dass es
heute gilt, ein europäisches Gemeinwohl neben dem regionalen und nationalen
Gemeinwohl zu definieren und zu berücksichtigen. Dieser Lernprozess bleibt uns
nicht erspart.
Während Europa
einerseits zur Einheit strebt, gibt es in vielen Ländern, zumindest verbal, den
Wunsch zur Länderautonomie, zur Renationalisierung, Bayern will sich von Berlin
distanzieren, Thema Länderfinanzausgleich, die Katalonen hegen seit Jahren den
Wunsch, sich vom Rest Spaniens zu separieren, Tirol träumt schon lange von
seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom finanzschwächeren Süditalien. Sehen
Sie hier eine ernsthafte Gefahr?
Das Recht auf Heimat und damit der Wunsch im vertrauten
Lebensumfeld „zu Hause“ zu bleiben, wird durch die schnell voran schreitende
Globalisierung und Internationalisierung verstärkt und muss von einer
verantwortungsbewussten Politik ernst genommen werden. Es gilt abzuwägen,
zwischen sinnvoller Stärkung der Regionen und einem überzogenem Partikularismus
beziehungsweise einer rückwärtsgewandten Renationalisierung und Kleinstaaterei.
Statt gewachsene Staaten zu spalten und Europa noch unübersichtlicher zu
machen, sollte man sich an Erfolgsmodellen, wie z. B. Bayern orientieren und
den Regionen so viel Gestaltungsmöglichkeiten, wie verkraftbar einräumen. Dies
auszudiskutieren wird im Einzelfall stets eine schwierige Herausforderung
bleiben. Dies gilt übrigens aber auch für die Problematik einer sinnvollen
Abgrenzung zwischen nationalen und europäischen Kompetenzen.
Brauchen wir Europa
aus wirtschaftlichen Gründen? Schon jetzt ist absehbar, dass aufgrund der
demografischen Entwicklung und der niederen Geburtsraten in der Bundesrepublik
Arbeitskräftemangel in Zukunft droht.
Ja, wir brauchen Europa auch, aber nicht nur aus
wirtschaftlichen Gründen. Eine Öffnung Europas für sinnvolle Zuwanderungen,
etwa im Bereich der Fachkräfte ist dabei ein Zeichen für Stärke und
Zukunftsfähigkeit. In der globalen Welt des 21. Jahrhunderts ist das gemeinsame
Auftreten und die Formulierung gemeinsamer Interessen auf Weltebene auch für
die großen EU-Staaten und für die EU-Bürger sehr vorteilhaft. Ein europäischer
Beitrag zur globalen Stabilität in allen Teilen der Welt hat dabei auch
unmittelbar positive Wirkungen für das „alte Europa“.
Was macht die
Europäische Bewegung Bayern e. V.?
Die europäische Bewegung Bayern versucht durch Veranstaltungen
mit den großen Verbänden und Organisationen, die Komplexität europäischer
Entscheidungen zu erklären und damit das Verständnis für und die Zuwendung zu
Europa zu verbessern und zu intensivieren. Europa mussnicht nur aus pragmatischen und wirtschaftlichen
Gründen gebaut werden, sondern es gründet auch auf geistig-ethischen Werten,
die häufig ihren Ursprung im christlich-abendländischen Wertefundament finden.
In diesem Sinne ist Europa mehr als der nüchterne Zusammenschluss souveräner
Staaten, sondern auch eine Angelegenheit des Herzens.
Herzlichen Dank für das Interview, das Dr. Stefan Groß führte.
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