Erschienen in Ausgabe: No 84 (2/2013) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Norbert Blüm
Eine der schönsten Geschichten von der Liebe zwischen Mann
und Frau wird in Platons Symposion
erzählt. Einst lebten die Menschen als „Mannweiber“ unentschieden nach Geschlecht.
Die „Mannweiber“ waren mächtige Wesen; „an Kraft und Stärke waren sie gewaltig
und hatten auch noch große Gedanken“. Für Zeus und die Götter wurden die
Menschen zu gefährlichen Konkurrenten. Also schwächten die Götter die
„Mannweiber“ und Zeus zerteilte sie eigenhändig in zwei Hälften: „wie wenn man
Früchte zerschneidet, um sie einzumachen“. Die Götter hatten jedoch ihre
Rechnung ohne die Anhänglichkeit der getrennten Hälften gemacht. Fortan suchte
die eine Hälfte die andere und kam erst zur Ruhe, wenn sie andere gefunden
hatte. Conclusio: Liebe ist das
Heimweh nach dem verlorenen Gegenteil. Glücklich ist, wer sein Gegenstück findet und es ein
Leben lang festhält. Die Ehe ist das „happy end“ einer mythischen Suchaktion.
Die triviale Realgeschichte der Geschlechterbeziehungen verlief allerdings
nicht nach platonischem Vorbild. Am Beginn der Evolution stand nicht die Ehe.
In den Wildnissen der Vorzeit herrschte die Promiskuität. Man kann auch ohne
Ehe Kinder in die Welt setzen. Das klappte damals so wie heute. Damals aber war
es allgemeine Sitte. Die Fortpflanzung kommt also ohne Ehe aus. Schon früh gab
es jedoch kulturelle Anstrengungen, die schweifende menschliche Sexualität, die
nicht durch periodische Instinktsteuerung gebändigt wird, durch die Ehe zu formen
und durch Liebe zu besänftigen. Die Ehe ist also ein Kulturprodukt. Wie aber auch immer – ob wild oder gezähmt – die Sexualität war immer im Spiel
zwischen Mann und Frau. Die Sexualität ist der Triebstoff, der Mann und Frau zusammenführt.
Immanuel Kant, unser großer
Vernunftphilosoph, gründete die Eheschließung sogar schlicht und ergreifend auf
Geschlechtlichkeit: „Die Ehe ist ein Vertrag zweier Personen verschiedenen
Geschlechts zum lebenswierigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaft.“ Kant war
ein theoretisches Genie. Er schrieb über vieles, z.B. über Länder, die er nie
gesehen, von denen er aber viel gelesen hatte. Seine Junggesellenbetrachtungen
über die Ehe entnahm der Königsberger Stubengelehrte wahrscheinlich auch dem
Bücherschrank.
Die „bürgerliche“ Ehe ist ein Produkt der Neuzeit und auf
Besitz und Bildung gegründet. Nicht mehr Blutsverwandtschaft oder Stand
steuerten im bürgerlichen Zeitalter die Gattenwahl, sondern vor allem die
Eigentumsverhältnisse. Die Erbschaft ist der Kitt des bürgerlichen Generationszusammenhangs.
Das Erbe ist das Disziplinierungsmittel, das die Sorge der Kinder für die
Eltern aufrecht erhält, selbst wenn diese Kinder aus dem Hause sind.
Es gehört zu den oft übersehenen Tatsachen, daß bis weit in das bürgerliche
Zeitalter hinein nicht jede Frau und jeder Mann zur Ehe zugelassen worden war.
Ohne Nachweis, die Ehefrau unterhalten zu können, gab es keinen Trauschein. Das
öffentliche Aufgebot vor der Eheschließung diente zur allgemeinen Begutachtung
dieser Ehevoraussetzung. Diese materiellen Ehehindernisse waren der Grund,
weshalb vom Gesinde nur wenige den Weg zum Traualtar fanden und diese auch nur
mit gütiger Erlaubnis der Herrschaft. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts
zählte in Preußen jeder Siebte zum Gesinde. Zählt man mittellose Handwerksgesellen
und Soldaten hinzu, erkennt man, wie schmal der Zugang zur Ehe damals war.
Die industrielle Revolution löste den bürgerlichen Heiratscomment auf. Die aus
den Zünften entlassenen Handwerksgesellen und die von Gütern und von Höfen entlaufenen
Bauernsöhne strömten als Proletarier, die nichts besaßen außer ihrer Arbeitskraft,
in die Fabrikhallen. Auf diese Armee der Industriearbeiterschaft war das
Fabriksystem angewiesen. Nachschub war gefragt. Kinder wurden gebraucht – auch
in den Fabrikhallen. So fielen die bürgerlichen Ehehindernisse. Es gehört zu
den Emanzipationsbestrebungen dieser Zeit, daß sie die Arbeiter zur Ehe
befreite.
Von der alten innerfamiliären Fürsorge des großen Hauses, die lebensumfassend
gewesen war, – Familie und Produktion unter einem Dach versammelte – blieb nur
der Patriarch übrig, der die Familie kommandierte und ernährte. Die Hausfrau und
treusorgende Mutter war als abhängig Beschäftigte untergeordnet. Die
bürgerliche Familie wie ihr Stiefkind, die proletarische, bildeten die
autoritären Strukturen der Gesellschaft ab. Der Mann war der Chef, die Frau der
Untertan. Basta! Wenn später Friedrich Carl
von Savigny, Rechtsgelehrter und preußischer Staatsminister, die Ehe als
„Keimzelle des Staates“ definiert, dann hatte er diese autoritären Strukturen
von Familie und Staat vor Augen. Das 1900 entstandene Bürgerliche Gesetzbuch
und sein Eherecht atmeten diesen Geist.
Der doppelte Boden
der bürgerlichen Emanzipation
Doch die bürgerliche Emanzipation selbst unterspülte fast
lautlos die institutionellen ständischen Sicherheiten. Die alte Gesellschaft
löste sich auf und mit ihr Bindungen und Beziehungen. „Alles Ständige und
Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich
gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen
Augen zu sehen.“ Schreibt hellsichtig Karl
Marx 1848 im Kommunistischen Manifest. Die bürgerliche Gesellschaft wurde
langsam aber sicher von der Arbeitsgesellschaft verdrängt. Die Erwerbsarbeit sollte
das Gesicht des Industriezeitalters prägen.
Die Befreiung der Arbeiter hinterließ jedoch eine hinterlistige
Falle für Ehe und Familie. Wenn die Produktivität wächst, die Löhne steigen,
die Arbeitszeit sinkt: warum sollte der Ernährer seinen Lohn mit Ehefrau und
Kindern teilen? Die Nur-Hausfrau brachte keinen Spareffekt mehr. Der Mann will
sein Geld für sich und die Frau ihr eigenes. Sie wird in der Fabrik mehr
gebraucht als im Haus.
„Jeder sorgt für sich“ – dieses liberal-kapitalistische Credo ist das
Gesinnungsfundament des modernen Eheverständnisses.
Der Verselbständigung der Kernfamilie wurde durch die Sozialversicherung der
Weg geebnet. Die Sozialversicherung ersetzte die traditionelle Fürsorgepflicht
der Kinder für die Eltern. Hinzu kam, daß die Sozialversicherung die
Marktwirtschaft überhaupt erst funktionsfähig macht. Die Sozialversicherung
befreite nämlich die Betriebe vom Invaliditäts-, Unfall- und Krankheitsrisiko.
Erst nachdem diese Risiken aus dem Zuständigkeitsbereich der Betriebe externalisiert
worden waren, konnte sich eine unternehmerische Ratio entfalten, die sich im Wettbewerb
behauptete und am Gewinn orientiert. Die Wirtschaft verselbständigte sich also zu
einem eigenen Sektor der Gesellschaft und machte so die Trennung vom Staat
möglich. Die Ehe geriet in den Sog der Wirtschaftsgesellschaft, deren
integrierter Bestandteil sie inzwischen ist.
Die Ehe gerät in die Klemme
Die bürgerliche Ehe unterwarf sich der neoliberalen Maxime der Vorteilssuche,
deren Leitfigur der homo oeconomicus
ist. Herausgekommen ist ein Eheverständnis, das dem Arbeitsvertrag nachgebildet
ist. Beide, Ehe- und Arbeitsverhältnis, werden zusammengehalten durch ein
jederzeit kündbares Bündnis. Die Ehe ist ein Austausch-Vertrag zwischen Mann und
Frau. Das Eherecht übernahm eine Vorreiterrolle im neoliberalen Projekt
Deregulierung. Der Kündigungsschutz im Eherecht ist inzwischen niedriger als im
Arbeitsrecht. Es ist leichter, die Ehefrau oder den Ehemann loszuwerden als den
Arbeitnehmer. Im Eherecht sind wir inzwischen bei der einfachen Zerrüttung als
Scheidungsgrund angekommen. Soweit sind wir im Arbeitsrecht noch nicht.
Im neuen Arbeitsvertragsrecht wird allerdings über eine Variante der Beendigung
des Arbeitsvertrages nachgedacht, der im Eherecht schon allenthalben empfohlen
wird: Vor Beginn der Modalitäten die Beendigung vertraglich festzulegen. In
beiden Fällen wird das Ende am Anfang antizipiert. Das Eherecht verinnerlicht
die Mobilitäts- und Flexibilitätsgebote der freizügigen Gesellschaft.
Vom Mietrecht könnte sich allerdings das Scheidungsrecht
noch eine Scheibe abschneiden. Dort gibt es Eigenbedarf als Kündigungsgrund.
Das ist der seltene Fall, wo das Eherecht in Sachen Kündigungserleichterung
nachhinkt. Der Gatte der einen neuen Eigenbedarf nach neuer Liebe spürt, muß im
Eherecht noch den Weg über fristgeregelte Zerrüttung gehen, um zur Trennung zu
gelangen. Bedarf reicht noch nicht, um „abhauen“ zu können.
Was bleibt als Kern des neuen Eheverständnisses? Die Ehe
wandelt sich zum Bündnis zweier Lohnempfänger zur wechselseitigen Optimierung
ihrer Freizeitgewohnheiten. Zur Fortpflanzung ist Ehe nicht mehr „notwendig“.
Sexualität wird mit und ohne Kindersegen inner- und außerhalb der Ehe „normal“.
Wir entwickeln uns also wieder zurück ins Neandertal. Elternschaft beginnt
unmodern zu werden. Schon sind „Alleinerziehende“ von einem gewissen Nimbus der
Fortschrittlichkeit umgeben. „Uneheliche“ Väter und Mütter genießen im
Unterhaltsrecht bereits Vorzüge gegenüber ehelichen.
Alleinsein und Selbständigsein werden synonym. Der tiefere Grund der Auflösung
von Ehe und Familie ist die Aushöhlung jedweder sittlichen Bindungskraft. Ethik
wird so etwas wie Hobby für den Hausgebrauch – etwa so wie die Einladung zu
einem Loriotschen Jodelkurs oder Teilnahme an einem Häkelkurs in der Volkshochschule.
Das Leben zerbröselt in eine Summe von zusammenhanglosen Augenblicken. Wir zappen
als Beziehungsvagabunden durchs Leben. Schalten mal hier aus und dort mal
wieder ein.
Maximaler
Freiheitsgenuß in der Tauschgesellschaft
Wenn Freiheit lediglich die Optimierung von Wahlchancen ist,
wird jede Ehe und jedes Kind zur Freiheitseinschränkung. Denn Kinder wie
Ehepartner mindern die Optionen. Schon so einfache Sachen wie z.B. die
Urlaubsplanung werden mit Kindern schwieriger als ohne – und als Single
leichter als für Eheleute. Alle Lebensverhältnisse geraten so unter das Diktat
der solistischen Selbstbestimmung. Existenz wird permanenter Wahlakt. „Der
Mensch, das ist seine Wahl“ proklamierte Jean
Paul Sartre in hybrider existentialistischer Selbstüberschätzung.
Die Ehe und die Familie ist in ihrem Wesen das existentialistische Antiprojekt.
In Ehe und Familie schafft sich der Mensch nicht selber, sondern durch und mit
anderen. Die Familie ist die „zweite Geburtsstätte der Menschen“ (Rene König). Die
moderne Ehe gerät in Gefahr, so vorübergehend zu werden wie eine Fahrt mit der
U-Bahn: Einsteigen-Aussteigen-Umsteigen mit kurzen Haltezeiten zwischen zwei
Lebensabschnittspartnerschaften. Diese Ehe als Abenteuerurlaub mit Fahrt ins
Blaue bietet maximale Abwechslung. Die Endstation bleibt allerdings unbekannt.
Auf dem Zielbahnhof stehen relativ viele traurige Singles herum. Daran ist die
Ankunft auf der Endstation erkennbar: Nach maximalem Freiheitsgenuß endet das Finale
in der Einsamkeit.
Wir kehren zur Polygamie der Vorzeit zurück. Unsere unterscheidet sich von den
früheren, daß wir Polygamie in den Zeitverlauf eingebaut haben, also
nacheinander die Partner aufreihen, während früher „Vielweiberei“ oder
„Vielmännerei“ gleichzeitig genutzt wurden. Beim polygamen Wechselspiel stören
vorerst noch die Kinder wie beim Umsteigen die Gepäckstücke. Denn Kinder sind
Lasten. Das unterscheidet die neue von der alten Polygamie. Auch im
Innenverhältnis der ehelichen Zweisamkeit drängen sich die wirtschaftlichen Gesichtspunkte
vor. Es gelten in dem modernen Familienrecht bevorzugt die Gesetze der Äquivalenz,
also Leistung für Gegenleistung, die in der Tauschgesellschaft zu Hause sind. Der
Tausch ist allerdings entgegen den Lehrbüchern der Ökonomie nicht die Ursprungskonstellation
der menschlichen Gesellung. In der Familie war das Tauschprinzip ursprünglich
nicht zu Hause. Wie soll sich denn der Tausch in der Urgesellschaft vollzogen haben?
Wie soll unter den Nomaden und wie zwischen Nomaden und den ersten Sesshaften getauscht
worden sein?
Wenn einer des Pfeiles bedurfte und ihn gegen Fleisch eintauschen wollte, mußte
er jemanden finden, der einen Pfeil zuviel besaß und ihn gegen Fleisch tauschen
wollte, obwohl der den Pfeil wollte, nur Felle hergeben konnte. Solch komplizierte
Austauschprozesse „über vier Ecken“ waren erst nach Erfindung des Geldes
möglich. Tausch ist also nicht die Quelle der ursprünglichen menschlichen Sozialität.
Gabe statt Tausch
Die Sippe wurde eher durch die „Sitte der Gabe“ zusammengehalten als durch das
Geschäft des Tausches. Gabe folgt nicht der Solidaritätsform, „wie Du mir, so
ich Dir“, welche die Äquivalenz bestimmt, sondern eher der Maxime „Einer für
alle – alle für einen“. Der ursprüngliche familiäre Austausch hat mehr mit Geben
und Schenken zu tun als mit Tauschen und Vergelten. Die Gabe ist zwar auch auf
Gegengabe angelegt. Diese ist aber nicht das Ergebnis des Tausches, sondern
eines grundlegenden Anerkennungsverhältnisses, das davon ausgeht, daß das Wohl
ein allgemeines Gut ist. Das WIR steht am Anfang. Zum ICH führt der Zugang über
das DU. Das ist der Gang der Evolution, die auch in ihrer letzten Vollendung ihren
Ursprung nie gänzlich eliminieren kann. Der Tausch als Gründungsmythos der Ökonomie
ist, wie neue Forschungen von Maus
und anderen nachgewiesen haben, eher das Konstrukt ökonomischer Lehrbücher im
Gefolge von Adam Smith als das
Ergebnis anthropologischer Forschung.
Die Kultur der Gabe ist mit dem zivilisatorischen Fortschritt keineswegs aus
der Welt verschwunden. Jedes Fest ist ein Fest des Schenkens. An Weihnachten beschenken
Eltern Kinder. An Allerseelen gedenken Kinder der Eltern. Wahrscheinlich haben
die Menschen erst Feste zu feiern verstanden, bevor sie die Kunst der
Erwerbstätigkeit lernten, und wahrscheinlich haben sie singen können, bevor sie
mit der Steinaxt die Welt bearbeiteten. Die ursprünglichen Feste sind „Auszeiten“
an den Knotenpunkten des Lebens, wie beispielsweise Geburt und Tod. Die
familiäre Festlichkeit bewahrt die Erinnerung an diese Ursprünge der Kultur
auf, in denen auch die Religion entstand. Das Fest und die Familie sind älter
als „die Wirtschaft“.
Die letzte Bastion der Gabe ist die Familie. Sie ist der Rest
der Kultur des Schenkens, der unter dem verschärften Ansturm des homo
oeconomicus steht, der seinen Vorteil sucht, sonst nichts! Für diese Theorie
hat der neoliberale Vordenker Garry S. Becker sogar den Nobelpreis erhalten.
Ehe und Familie folgen nicht den Gesetzen der wechselseitigen Vorteilssuche.
Die familiäre Fürsorge ist nicht das Ergebnis rechnerischer Gegenseitigkeit.
Die eheliche Treue entspringt keiner Kosten-Nutzen-Analyse. Die Verläßlichkeit
ist kein Rechenexempel. Die Beziehungen in den Familien sind asymmetrisch und
diskontinuierlich.
Wir geben mehr als wir nehmen und wir nehmen mehr als wir geben. Und wir
wissen, biblisch gelehrt: Geben ist seliger denn nehmen. Eltern schenken
Kindern das Leben. Mütter gebären ihre Kinder unter Schmerzen. Für diese Gaben
gibt es keine Abrechnung. Und würde ein Mensch am Ende seiner Kindheit eine
Abrechnung verlangen, um seinen Eltern auf Euro und Cent die Leistung zu
vergüten, welche diese für ihn aufgebracht haben, so wäre diese marktwirtschaftliche
Reziprozität eine Perversion des familiären Zusammenhaltens und das Ende des
Generationenzusammenhangs.
Später freilich treten die Kinder für die Lebenssicherung der Eltern ein. Das
ist freilich kein Tauschgeschäft, sondern eine Art von Wiedergutmachung.
Deshalb steht das Umlagesystem unserer Rentenversicherung dem familiären
Generationenzusammenhalt näher, als die private kapitalgedeckte
Privatversicherung, in der jeder angeblich für sich selber sorgt. „Jede Generation
sorgt für sich selber“ (Junge Liberale). Auch das vierte Gebot der Ehrung von Vater
und Mutter verkündet seine Zusage „auf daß es Dir wohl ergehe und Du lange
lebst auf Erden“ nicht als ein Tauschgeschäft sondern als göttliche Verheißung.
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Seit längerer Zeit wird die familienpolitische Diskussion durch die Forderung
von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dominiert. Die Diskussion ist
jedoch gar keine Diskussion, sondern eher eine einstimmige Kundgebung. Ich
kenne niemanden, der gegen „die Vereinbarkeit“ ist. Die Schuldigen stehen auch fest.
Erstens: Väter, die keine Familienarbeit leisten. Zweitens: Betriebe, die keine
familienfreundliche Arbeitsverhältnisse (Arbeitszeit etc.) anbieten und drittens:
der Staat, der nicht Betreuungsangebote flächendeckend bereitstellt. Alles gut
und recht.
Aber wollen wir überhaupt perfekte Vereinbarkeit? Und um welchen Preis? Die moderne
Familie war das Ergebnis einer Trennung von privatfamiliärer und ökonomisch
öffentlicher Sphäre. Die moderne Familie ist nicht wie in Agrarzeiten
Wohnarbeitsstätte. Betrieb und Familie trennten sich. Familienpolitik wurde auf
die Pflege und Bewahrung der Intimität der Kernfamilie von Eltern und Kindern
konzentriert. Vereinbarkeit stand gar nicht auf dem Programmzettel der
Emanzipation der familiären Privatsphäre. Im Gegenteil. Es ging im Familienlastenausgleich
zunächst um die Selbständigkeit der Familie gegenüber der Wirtschaft. Die auf
dem Markt erzielten Einkommensunterschiede zwischen Familie und Kinderlosen
sollten kompensiert und die Belastungsdifferenzen ausgeglichen werden. Das Programm
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist gar nicht so „einwandfrei“, wie es dargestellt
wird.
Familienarbeit und Erwerbsarbeit folgen unterschiedlichen Lebensmaximen. Wer
nicht versteht, daß Arbeit nicht erst Sinn fürs Leben macht, wenn sie „für
sich“ geschieht, sondern daß arbeiten „mit und für andere“ die ursprüngliche Konstante
unserer Menschwerdung ist, wird für den Eigenwert der Familienarbeit kein
Verständnis aufbringen. Der Eigensinn der Familie ist das „Füreinander“ und
deshalb der Antipode des Konkurrenzprinzips „Gegeneinander“. Diese Eigenständigkeit
der Familie muß verteidigt werden, wenn wir der totalen Verwirtschaftung des
Lebens entgehen wollen. Selbst der Wirtschaft bekäme dieser Totalitarismus
nicht, weil es der Mensch nicht aushält, nur an sich zu denken. Autismus ist
eine Krankheit.
Die Programme zur Vereinbarung von Familie und Beruf stehen bei Licht
betrachtet unter dem Verdacht, wie ein sanftes Unterwerfungsmittel der Familie
unter die Knute der Erwerbsgesellschaft zu wirken. Es handelt sich um ein „Unterstützungsprogramm“
für die Familie, das die volle Einbeziehung beider Ehepartner in die Lohnarbeit
zum Ziel hat. Das vorerst noch störende Element Kind soll durch frühestmögliche
Überführung in die staatliche Erziehungsarbeit stillgelegt werden. Anstelle der
Amateure „Mama und Papa“ tritt eine professionalisierte Elternschaft namens
„Schule“, die für das ganze Kind zuständig ist. Mutterarbeit wird erst
anerkannt, wenn sie für die Nachbarkinder eingesetzt wird, wenn die Mütter ihre
Kinder austauschen, werden sie bezahlt. Das ist das System „Tagesmutter“, in dem
Erziehungsarbeit nur als Fremdbetreuung „gezählt“ wird. Die Anstrengung zur Abschaffung
der Elternschaft könnte konsequenterweise bis zum staatlichen Brutkasten vorwärts
getrieben werden. Dann würden auch Schwangerschaft und Mutterschutz nicht mehr die
Vereinbarkeit stören. Die Familie soll sich der Ratio des Erwerbs unterwerfen,
weil in ihr nur, wer am Erwerb teilnimmt, anerkannt wird. Der Imperialismus der
Erwerbsgesellschaft schickt sich an, die Familie zu erobern.
Schon Emil Durkheim, ein Bahnbrecher
der Soziologie, schwärmte von dem Ersatz der Familie durch die Schule.
„Erziehung ist dann selbst Teil der entlohnten Erwerbsarbeit.“ Wir haben hier
also einen entscheidenden einzigartigen und unersetzlichen Augenblick, wo wir das
Kind erfassen können, wo die Lücken unserer sozialen Institutionen noch nicht
zu tief seine Natur verändert und seine Gefühle haben erwecken können. Die
Enteignung der Kindheit durch Verschulung hat eine doppelte Funktion:
Vereinbarkeit von Familie und Beruf heißt erstens Entlastung der Eltern von der
unentgeltlichen Arbeit für Kinder und zweitens Konditionierung der Kinder für
den maximalen Berufseinsatz. Mit dem Programm Kinderhort, Kindertagesstätte,
Kindergarten, Ganztagsschule, schulische Ferienbetreuung sind die Lücken der
Verstaatlichung der Kindheit schon fast geschlossen. Die Schlafzeit ist noch in
festen Händen der Familie. Wahrscheinlich kommt der aufgeregte Eifer der
Schulreformen erst dann zur Ruhe, wenn die ganze Kindheit – von der Wiege bis
zur Berufsrente in ein staatliches Rund-Um-Internat gezwängt ist.
Flexibel, mobil, ungewiß
Jede 8. Ehe in Deutschland lebt in einer Fernbeziehung. Liebe wird zu
Telepathie. Es geht von der Seßhaftigkeit, die wir uns über Jahrtausende mühsam
angewöhnt hatten, wieder zurück zum Nomadentum. Mit Green-Card sogar global.
Die Informatiker kommen aus Bangalore und die Krankenschwester aus Mali,
allerdings allein, „ohne Familienballast“. Die Ehe folgt der Platzanweisung,
die durch die imperiale Wirtschaft gesetzt wird. Flexibel und mobil, am besten
auf Abruf, befristet, ausgeliehen, arbeitet der moderne Jobhopser. Die beiden
Ehepartner sollen dort arbeiten, wo sie Arbeit finden.
So werden Trennwände zwischen Familie und Erwerbsarbeit
geschliffen. Der Unterschied zwischen Privat und Öffentlich wird niedergewalzt.
Die Erwerbsgesinnung nistet sich in jede Nische der Gesellschaft ein. Der
moderne Arbeitnehmer ist immer im Dienst, abrufbar: mit Handy am Gürtel und dem
Computer auf dem Nachttisch jederzeit erreichbar. Feierabend und Familie sind
Nostalgie. Familien sind in vielen Fällen längst zu Filialen der Betriebe
mutiert. Die so bewunderte Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit
wird jedoch von einer geheimen Traurigkeit erfaßt, die aus dem Verlust der
eigensinnigen Familienwelt besteht.
Die Paradoxien des „Fortschritts“
Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß ausgerechnet die linke
Arbeiterbewegung
eingeschwenkt ist auf das Programm der rücksichtslosen Integration auch der
letzten Frau in die von ihr als repressiv bekämpften Leistungsgesellschaft. Offenbar
sollen Frauen zusammen mit den Männern erst unterdrückt werden, um sich sodann
leichter zusammen mit diesen aus dem Elend zu befreien. Das ist eine Dialektik
von der feinsten Art, nämlich der spitzfindigsten. Auf der anderen Seite machte
die feministische Bewegung von jeher die Hausarbeit als Ursprungsland der
Unterdrückung aus. Sie erkennt in der Fabrikarbeiterin, die in einer Schicht am
Fließband 2.000 Schrauben anzieht, immer noch mehr Emanzipation als in der
Arbeit der Mutter. Sie übersieht allerdings, daß der Anteil der Freiwilligkeit
an der Fließbandarbeit unvergleichlich geringer ist als bei der Arbeit der
Mutter.
Die spätbürgerliche Verniedlichung des Spannungsfeldes Wirtschaft-Familie
leidet unter einer gewissen Lebensferne. Prototyp der Verehrung ist die Frau,
die mühelos Familie und Beruf vereinen kann. Die gehobene sechsfache Mutter mit
Kinderfrau und Reitlehrern eignet sich jedoch nicht zur Ikone, vor welcher die
gerade zur Pflegerin umgeschulte ehemalige Schlecker-Mitarbeiterin mit Ehemann
im Niedriglohnsektor drei Kinder knien soll. Es ist eben nicht alles nur eine
Organisationsfrage.
Wenn im Erwerbssektor ordentlich verdient wird, muß die
Familienzone nicht auf gnädige Häppchen und organisatorisches Entgegenkommen
der Wirtschaft hoffen. Die Synergie, welche aus einer echten Kooperation von
Familie und Beruf geschöpft werden kann, ist eine von Niedriglöhnen und „burn
out“ befreite Berufswelt. Die optimal „Vereinbarten“ sind Leiharbeiter,
befristet Beschäftigte. Auf Abruf Tätige, die erst gar keine Familie gegründet haben,
um sich so unbeschwert der Berufsarbeit zu widmen.
Ein geordnetes Nebeneinander von Familie und Beruf, das beiden
ihr eigenes Terrain beläßt, bedeutet allerdings nicht, daß Familie für den
Vater „arbeitsfreie“ Zone ist. Die Trennung von privater und ökonomischer
Sphäre hat keineswegs zur Voraussetzung, daß die Mutter allein für
Familienarbeit zuständig ist. Familienarbeit ist Teil einer partnerschaftlich
familiären Arbeitsteilung.
Die Vereinbarkeitsrhetorik verdeckt eine Reihe von
strukturellen Problemen.
Dazu gehört die Frage, ob das Erwerbseinkommen nur dem Ehepartner
zugerechnet wird, der es „verdient“, oder auch dem, der es mit seiner
Familienarbeit ermöglicht. In die Fragestellung geht auch ein, wie sich Mutter
und Vater eine gute Kindheit ihrer Kinder vorstellen. Die Frage ist also nicht
nur, wie Frauen ein chancengleicher Zugang zur Erwerbsarbeit eröffnet wird,
sondern wie unter dem Ansturm des globalen Ökonomismus die Familienarbeit der
wechselseitigen Sorge (ohne Entgelt) ein Lebensraum erhalten bleiben kann, in
der die Aufgaben herrschaftsfrei, nämlich partnerschaftlich zwischen Mann und
Frau und Kindern geteilt werden.
Was auf der großen Bühne des kulturellen Wandels und der
gesellschaftlichen Strukturprozesse geschieht, findet sein Echo in den
konkreten Veränderungen des Familienrechts. Das Scheidungsrecht antizipiert den
Verfall des Familienrechtes. Wie so oft in Umbruchzeiten nimmt die Ausnahme von
heute die Normalität von morgen vorweg.
Von Schuld zur Zerrüttung
Bis 1977 galt das Schuldprinzip in Sachen Ehescheidung. Es wurde durch das
Prinzip Zerrüttung ersetzt. Damit folgt das Eherecht einem allgemeinen Trend
der Rechtsentwicklung. Schuld und Sühne traten zugunsten von Resozialisierung
und Rehabilitation zurück. Strafe verwandelt sich in Therapie. Sichtbar wird
das an der Veränderung der Unterhaltsregelungen im Scheidungsrecht. Es spiegelt
ungewollt die familiäre Kulturrevolution. Der Unterhaltsanspruch hat sich inzwischen
zu einer Art Eingliederungshilfe mit begrenzter Dauer entwickelt. Die
Leistungen für die geschiedene Mutter, die sich in der Ehe „hauptberuflich“ den
Kindern und dem Haushalt gewidmet hat, ähneln immer stärker dem Charakter nach
den Einarbeitungszuschüssen für Langzeitarbeitslose. Für die feministische
Bewegung ist die nicht erwerbstätige Mutter sowieso eine Arbeitslose, die sich
von den übrigen Arbeitslosen nur dadurch unterscheidet, daß sie als
Mutterarbeiterin dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht.
Im Betreuungsunterhalt soll die geschiedene Mutter das Kind ab dem dritten
Lebensjahr in die „Fremdbetreuung“ übergeben. So will es neuerdings der
Bundesgerichtshof. Die geschiedene Mutter mit Kind soll also im gleichen Umfang
erwerbstätig sein wie der geschiedene Vater ohne Kind. Erziehungsarbeit ist
nämlich in diesem höchstrichterlichen Verständnis keine Arbeit. Als Arbeit gilt
offenbar nur die Erwerbsarbeit des Vaters. In dem Streit um den Betreuungsunterhalt
des Kindes taucht das Wohl des Kindes gar nicht oder nur am Rand auf. Im
Zentrum stehen Erwerbszumutungen der einen Seite gegen Unterhaltspflichten der
anderen. Es streiten zwei, was für sie gut sei, ohne zu fragen, was für das Kind
das Beste ist.
Ein mir bekannter Ehemann, der in Saus und Braus im Ausland lebt, verlangt von
seiner mit drei Kindern zurückgelassenen Ehefrau, daß sie ihre Stundenzahl als
Lehrerin erhöht, damit er seinen Betreuungsunterhalt senken kann. Weiß der
entlaufene Vater, der in Moskau einen Porsche als Zweitwagen fährt, wie der Schulalltag
heutzutage organisiert sein muß, um die Kinder „mütterlich“ zu betreuen? Der
dazu gehörige Rechtsanwalt setzt der Frivolität die Krone auf, indem er generös
vorschlug, die Lehrerin solle auf ihre besondere Lehr Qualifikation verzichten
und zum einfachen Unterricht zurückkehren, dann könne sie mehr Stunden mit
weniger Vorbereitungszeit geben. Das ist ein sonderbares Emanzipationsverständnis,
indem von der Frau verlangt wird, auf selbst erworbene Qualifikation zugunsten
der Kasse des Mannes zu verzichten.
Paradigmenwechsel im Eherecht.
Das alte Eherecht hatte den schuldig geschiedenen Vater im Visier.
Er zahlte alles und zwar nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten. Der
Unterhalt war eine Art Schadensersatz. Die schuldig geschiedene Ehefrau zahlte
dagegen nur „angemessenen Unterhalt“. Bei beiderseitigem Verschulden zählte die
Billigkeit.
Zusammengefaßt läßt sich behaupten: „Das alte Recht gab der
unschuldig geschiedenen Frau fast alles, der schuldig geschiedenen allerdings
nichts“ (Dieter Schwab). Im
Hintergrund dieses Denkschemas steht der schuldige Patriarch, der „gestraft“
werden soll. An der Korrektur dieser geschlechtsspezifischen Einseitigkeiten setzt
die Eherechtsreform 1977 zurecht an, schüttete jedoch das Kind mit dem Bade
aus. Gewinner der neuen Regel war die Ehefrau, die, ihres Ehemannes
überdrüssig, sich einen neuen Liebhaber besorgt und sich vom alten Ehegatten
mit Zugewinn, Versorgung und Unterhalt ein Leben lang gut aushalten läßt.
Als Phantomgestalt erschien zu Abschreckungszwecken die „flotte Chefarztgattin“
in der Eherechtsdebatte, die aus Gründen attraktiverer Alternativen ihren
zermürbten Ehemann verlassen hat, ihn aber weiterhin finanziell auslaugt. Das
maskuline Rückspiel setzte 1986 ein. Die Unterhaltsansprüche wurden zeitlich
begrenzt und an die das „Eheleben prägenden Lebensverhältnisse“ gebunden. Das
waren zwei wesentliche Einschränkungen des Unterhaltsrechts. Gewinner waren
jetzt die „flotten Männer“ im zweiten Frühling ihres Lebens, die zugunsten
ihrer neuen Liebe die alte verstoßen hatten. Jetzt waren die Frauen, die mit
der Ehe eine dauerhafte familiäre Lebensplanung verbunden hatten, die „Dummen“
des neuen Scheidungsrechts.
Sie nämlich hatten ab sofort die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt
war der allein – oder höher verdienende Ehemann. Ihm und den Kindern zuliebe hatte
sich die Mutter auf den zweiten Platz in der familiären Einkommensbeschaffung eingelassen.
Das entsprach ihren gemeinsamen Vorhaben. Jetzt nachdem das Projekt gescheitert
war, stand die „Hausarbeiterin“ da, als hätte sie in der Ehe nur Ferien gemacht.
Nach der Trennung und einer Übergangszeit beginnt für die „Zurückgebliebene“
die Neuregelung des Lebensstatus bei Null. Die gemeinsam der Ehe prägenden
Erwartungen landen irgendwann in Nirwana. Jeder sorgt für sich. „Du bekommst
nicht mein russisches Geld“ stellte einer lapidar fest, der Haus, Hof, Ehefrau
und Kinder Hals über Kopf verlassen hatte, um im Ausland reich zu werden. Es ist
„sein Geld“, von dem die ehemalige Ehefrau gnädig vorübergehend, wenn sie Glück
vor Gericht hat, etwas abbekommt. Wie „sein Geld“ zustande kam und welchen
Beitrag die verlassene Ehefrau dazu geleistet hat, geht offensichtlich niemand
etwas an.
Wenn die Ehe wie eine Aktiengesellschaft betrachtet wird, in die man Anteile
einbringt, abzieht und an neuer Stelle wieder unterbringt, dann ist das neue
Eherecht konsequent. Das kann man nicht bestreiten. Nur wollen wir das so? War das
beabsichtigt? Was wäre aber gewesen, wenn seine Ehefrau ihn nicht geheiratet hätte,
keine Kinder erzogen und nicht seine Karriere gefördert hätte? Solche
nachträglichen Rechnungen lassen sich gar nicht aufmachen. In unserem Fall hat
die berufstätige Ehefrau und Mutter sogar die langzeit-dilettierende, mühsame
Promotion ihres Gatten mitfinanziert und sogar sein Bafög mit zurückgezahlt. Aus
dem Ehe- und Familienrecht schwindet offenbar jedweder Gedanke der Kontinuität
und nach wirkender gemeinsame Verantwortung füreinander.
Die gemeinsame Verantwortung aus gemeinsamer Lebenszeit mit dem Partner läßt
sich nur mit einem gesetzlich erzwungenen Gedächtnis-Schwund ausschliessen.
Dazu muß man noch Moralität aus allen Bindungen und Beziehungen eliminieren.
Denn Moral gilt nicht nur augenblicklich, und Verantwortung ist kein Event. Die
Leitfigur des neuen Scheidungsrechts ist ein Kunstmensch ohne Gedächtnis und
Moral. Er ist vergleichbar der Existenz eines Idioten. Das moderne
Scheidungsrecht ist ein idiotisches Eherecht.
Auf was lassen sich die Ehepartner bei der Heirat eigentlich ein? Was in der
Zeit ihrer Scheidung gilt, war bei der Hochzeit noch gar nicht bekannt. Das
moderne Eherecht ändert sich mit einer Wechselhaftigkeit, die bei Moden und dem
Wechsel zwischen kurzen und langen Röcken üblich ist. Vertrauensschutz ist
jedoch eine rechtsstaatliche Elementarvoraussetzung. Man muß wissen, was nicht nur
heute gilt. Im Eherecht ist Vertrauensschutz Begleitung von auf Dauer
angelegten Eheverhältnissen. Aber wie soll auf Dauer angewiesenes Vertrauen
entstehen, wenn alles im Fluß ist? Die „sich verändernden Lebensverhältnisse“
als Maßstab des neuen Scheidungsrechtes offenbaren ungewollt die Konfusionen
des Familienrechtes. Die Veränderungen werden an den Veränderungen gemessen. Das
ist die große Kehre von Verläßlichkeit zur Unberechenbarkeit. Der Orientierungswechsel
gleicht dem Versuch des Skifahrers, der sich die Slalomfahnen auf den Rücken
gebunden hat, um nicht anzustoßen.
Die Familiengerichte ebnen im vorauseilenden Gehorsam die Bahnen, zu denen dem Gesetzgeber
noch der Mut fehlt. Der Bundesgerichtshof entwickelt sich zur selbstreferentiellen
Behörde eines familienfeindlichen Eherechtes. Er entzieht Ehe und Familie den
besonderen Schutz des Grundgesetzes (Art. 6). Das Bundesverfassungsgericht legte
zwischenzeitlich dem Übereifer des Gerichtes bereits Zügel an. Man kann sich
des Eindrucks nicht erwehren, daß eine Große Koalition des vermeintlichen
Fortschritts mit enormem Fleiß die Ehe und die Familie zermürben, auf daß die
ungebremste neoliberale Verwirtschaftung das ganze Leben in seinen Strudel
reißt.
Woher kommt Rettung?
Von der feministischen Bewegung ist keine Lebenshilfe für Ehe und Familie zu
erwarten. Die Hausfrau und Mutter war nie die Klientel der modernen
Frauenbewegung. Gewinner der emanzipativen Entkoppelung der Ehepartner sind die
älteren Herren, die in einem zweiten juvenilen Frühling ihre alten Ehefrauen
entsorgen und gegen eine junge frische tauschen. Mehr alleinstehende Frauen im
Alter sind das traurige Ergebnis dieser Art der Emanzipation. Gibt es nicht
doch eine Kraft, welche die Ehe gegen alle wirtschaftlichen Nutzenerwägungen und
Individualisierungsfixierungen am Leben erhält? Wieso ist die Ehe nicht längst
vor die Phalanx mächtiger ökonomisierten Interessen in die Knie gegangen? Ist
die Liebe nur eine Sentimentalität und die Ehe nur eine liebliche Nostalgie?
Was war der Grund, daß in den Wirren des Krieges und den Turbulenzen der
Nachkriegszeit die Frauen ihre vermissten Männer und die Männer ihre
vertriebenen und geflüchteten Frauen in ganz Deutschland suchten und fanden.
Ist in der Ehe und Familie doch eine anthropologische Konstante eingebaut, die
gegen alle Widerstände auf evolutionäre Entfaltung drängt?
Und hier taucht unvermutet mein platonisches „Märchen“ wieder auf. Ist in dem
Mythos vom ursprünglichen „Mannweib“ nicht die Erinnerung erhalten, daß sich
weder der Mann noch die Frau alleine genügen? Von der Sehnsucht nach dem
anderen berichten viele alte Geschichten. „Es ist nicht gut, daß der Mensch
allein bleibt“. (Gen. 2,18) Deshalb ersehnt er den „als Mann und Frau“. (Gen
1,27)
Ist die menschliche Person auf Dualität ausgelegt? Ist das Ich nur über das Du
erreichbar, wie es die Buber‘sche
Dialogphilosophie vermutet? Erschüttern die großen Lebenstragödien von Anna Karenina, Madame Bovary und Effie
Briest nicht gerade deshalb unsere Gemüter, weil wir uns einfühlen können
in die Katastrophen der unerfüllten oder gar zerstörenden Liebe. Heloise und Abelard, Tristan und Isolde, Romeo und Julia haben im anderen nicht sich selbst gesucht, sondern
die Vollendung des Menschen, der aus Frau und Mann besteht (siehe Platon).
Die Zweisamkeitsidee beunruhigte schon früh die gesellschaftliche Entwicklung
und unterspülte bisweilen harte Herr- und Gefolgschaft. Penelope hält dem abwesenden Abenteurer Odysseus zehn Jahre in großer Bedrängnis die Treue. Ilias und Odyssee sind auch Geschichten großer Liebe. Die Idee der ehelichen
Treue ist eine starke kulturelle Kraft. Selbst brutale Kollektivierungen haben
die Idee der Ehe und Familie als Zufluchtsort des Widerstandes gegen die
Vermachtung des Menschen nie gänzlich auslöschen können. Französische
Revolution wie sowjetische versuchten vergebens, Ehe und Familie zu zerstören.
Die Maoisten waren die letzten in der Reihe der großen Familienruinierer.
Bisher sind diese Modernisierer mit ihren gewaltsamen Versuchen gescheitert.
Werden es die neoliberale Softies auf leisen Sohlen schaffen, was den
Gewaltsystemen mißlungen ist?
Könnte die Ehe, gereinigt von historischen Verirrungen,
sozialen Verengungen und wirtschaftlichen Verkümmerungen, befreit von autoritären
Strukturen nicht der Nukleus einer herrschaftsfreien partnerschaftlichen
Gesellschaft sein? Also einer Gesellschaft, in der nicht nur „Oben und Unten“,
„Leistung und Gegenleistung“, „Geld und Geltung“ gilt, sondern –man traut es
sich kaum zu sagen – auch Sympathie und Liebe. Vielleicht lassen sich dann die unvermeidlichen
Gesetze der Biologie (Alter) und vermeintlichen Zwänge der Ökonomie (Abhängigkeit)
nicht nur leichter ertragen, sondern sogar mildern oder gar zurückdrängen.
Ist in der partnerschaftlichen Ehe vielleicht ein utopisches
Moment enthalten, auf das wir evolutionär angelegt sind? Freilich ist dieses
Ideal immer vom Scheitern bedroht. Das Scheitern einer Idee ist jedoch noch
nicht ihr Dementi. Muß es für den Fall der Ehescheidung und des Scheiterns
nicht doch ein human geregeltes Nachwirken geben, das den Versuch, zusammen zu
leben, nicht wie ein Versehen oder gar Versagen bewertet? Läßt sich der Kairos der
Liebe (der im „Die oder Keine/ Der oder Keiner“ gipfelt) einfach annullieren
und spurlos beseitigen? Ist die Amnesie amtliche Scheidungsbedingung? Wenn die
Ehe die intensivste und intimste Sozialbeziehung ist, dann ist sie auf Dauer
angelegt. Die Dauer ist die säkulare Variante der Ewigkeit. Das Dauerhafte
steht über dem Vorübergehen.
Die sichtbare Transzendenz der Ehe
Die Dauerhaftigkeit der Ehe wird im Kind anschaulich. Eltern leben in deren
Kinder weiter. Kinder sind die Brücke der Ehe zur Transzendenz, die sich in der
Familie in der horizontalen Dimension erstreckt. Horizontale und vertikale
Transzendenz kreuzen sich in der Familie. Die Folge einer Horizontverengung des
individuellen Lebens ist die kinderlose Gesellschaft. Ihr Preis ist die
Zukunftslosigkeit. Die Kinder sind die ersten, welch die Folgen der Kurzweiligkeit
der modernen Lebensabschnittpartnerschaft tragen. Demographie ist nicht lediglich
Biologie, sondern auch die Futurologie einer kinderlosen Gesellschaft, der die Zukunft
ausgegangen ist.
Mit der Verteidigung der Familie wird Privatheit verteidigt. Die private Sphäre
ist das Ergebnis eines jahrhundertlangen Zivilisationsprozesses der
Emanzipation von der Allzuständigkeit der Macht. „Privatheit“ mußte Wirtschaft
und Gesellschaft und Staat abgerungen werden. Soll dieser Emanzipationsgewinn
jetzt zurückgeholt werden? Die Ehe als Dependance der Wirtschaft und die
Kindheit als Filiale des Staates? Es könnte sein, daß mit dem Schicksal der
Familie auch freiheitliche Traditionen abgebaut werden. Denn die Trennung von
Privat und Öffentlich gehört zu modernen Gewaltenteilen, die uns vor dem Totalitarismus
einer allgegenwärtigen Öffentlichkeit schützt.
Die staatliche Familienpolitik hat inzwischen eine Art von
Modernität erreicht, in der niemand recht weiß, welche Funktion die Familie im
Zusammenleben der Menschen „spielen“ soll. Die Frage läßt sich nur beantworten,
wenn man „sich Gedanken macht“, wie eine gute Gesellschaft eingerichtet sein
soll, in der ein gelungenes Leben möglich ist. Wir müssen unsere Hoffnung auf
Verfassung und Verfassungsgericht setzen, daß sie den grundgesetzlichen
besonderen Schutz von Ehe und Familie notfalls auch gegen den Bundesgerichtshof
und den Zeitgeist verteidigen wird. Ohne eine Gesinnungsreform jedoch wird es
auch keine „Zuständereform“ geben. Nur wo bleibt meine CDU?
Dr. Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung
in der Regierung Kohl.
Quelle: Die Neue Ordnung, 6/2012 Dezember, S. 404-416.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.
HeinzBoxan 16.01.2013 21:12
Immer nett und amüsant, der Herr Dr. Norbert Blüm: „Die Ehe ist das „happy end“ einer mythischen Suchaktion die schweifende menschliche Sexualität durch die Ehe zu formen und durch Liebe zu besänftigen“. Ich mag ihn! Wäre ich nicht schon Urgroßvater, so würde ich noch mal neu im Sinne gesagtem beginnen. inribonax