Erschienen in Ausgabe: No 114 (08/2015) | Letzte Änderung: 06.08.15 |
von Heike Geilen
"Wie ich
sehr wohl weiß, mein lieber Watson", stellt Sherlock Holmes fest,
"teilen Sie meine Liebe zu allem, was seltsam ist und außerhalb der Konventionen
und langweiligen Routine des Alltags liegt." Bestes Alltagsbeispiel ist
die universelle Grußgeste des Menschen: unser Lächeln. Nun werden Sie sich
fragen, was an unserem Lächeln seltsam, unkonventionell und langweilig sei.
Vorab nur soviel: Seien sie gewappnet, lächelnde Menschen entblößen in Wahrheit
ihre Eckzähne halb und offenbaren auf diese Weise ihre wilden Ursprünge. Doch
dazu später...
Mit "The
tell-tale brain" ("Das verräterische Gehirn") legte der
"Marco Polo der Gegenwart" (Aussage von Richard Dawkins),
Neurowissenschaftler V. S. Ramachandran im Jahr 2011 sein zweites
vielbeachtetes Werk über die schwer fassbaren Verbindungen zwischen Gehirn,
Geist und Körper vor. Nun ist es auch auf Deutsch mit dem etwas
publikationswirksameren Namen "Die Frau, die Töne sehen konnte"
erschienen. In gewissem Sinn stellt es die Fortsetzung bzw. Aktualisierung
seines populärwissenschaftlichen Erstlings "Die blinde Frau, die sehen
kann" dar. Denn die Neurowissenschaft hat sich in den letzten fünfzehn
Jahren mit einem nahezu rasanten Tempo weiterentwickelt. Und Ramachandran,
Spross einer indischen Diplomaten- und Gelehrtenfamilie, gilt vielen als der
innovativste Bewusstseinsforscher unserer Zeit. Das Spektrum seiner Forschungen
an der University of California in San Diego ist denkbar breit: Es reicht von
optischen Täuschungen über die Repräsentation des Körpers im Gehirn bis hin zu
Verleugnungssyndromen bei Hirnverletzten. Aber auch in der Therapie hat er sich
verdient gemacht. Bekannt wurde er vor allem durch seine Experimente über
Verhaltensneurologie, die äußerst simpel und einfach aufgebaut waren, aber
trotzdem die Vorstellungen und Konzepte vom Gehirn nachhaltig beeinflusst
haben.
Das
vorliegende Buch, das Ramachandran selbst als konzentriertes Ergebnis eines
großen Teils seines Lebenswerks bezeichnet, ist beredtes Zeugnis davon. Fragen
werden in den Raum gestellt: Wie nehmen wir die Welt wahr? Was hat es mit der
sogenannten Geist-Körper-Verbindung auf sich? Wodurch wird unsere sexuelle
Identität bestimmt? Was ist Bewusstsein? Was läuft falsch bei Autismus? oder
Wie lassen sich all diese rätselhaften Fähigkeiten erklären, die zutiefst
menschlich sind: Kunst, Sprache, Metaphorik, Kreativität, Ich-Bewusstsein und
religiöse Empfindungen? Strang um Strang versucht der Autor in neun Kapiteln
die rätselhaften Fähigkeiten unseres "Schicksalsorgans", als das es
der wegweisende Neurochirurg Wilder Penfield bezeichnete, Woody Allen hingegen
nicht ganz so feierlich als das "zweitliebste Organ des Menschen", zu
entflechten. Dabei kann er mit seinen eigenen Forschungsarbeiten über die
verschiedenen Aspekte unserer geistigen Innenwelt aus dem Vollen schöpfen.
Fallgeschichten aus seiner persönlichen Praxis dienen dabei zum besseren
Verständnis. Trotz des zum Teil für Laien schwer fassbaren Sujets, gelingt es
Ramachandran durch seinen lockeren Plauderton und gelegentlich eingestreute
kleine Spitzen gegen seine eigene Zunft oder die der Politiker, aufzulockern.
Größtenteils gelingt ihm die schwierige Gratwanderung zwischen Vereinfachung
und Genauigkeit formidabel, auch wenn vor allem in den letzten Kapiteln der
Nichtfachmann wegen des höchst anspruchsvollen Inhalts und Begriffen wie
"Apotemnophilie", "sensomotorische Kortexariele",
"superiore und inferiore parietale Lobuli", "inhibitorische
Schaltkreise" oder "ventro-medialer präfrontaler Lappen" nicht
mehr in vollem Umfang mithalten kann.
Auch wenn das
Buch mit einer Fülle vieler verschiedener Aspekte aufwartet, ziehen sich durch
den gesamten Text dennoch zwei rote Fäden. Das ist zum einen die Feststellung,
dass "Menschen wirklich einzigartige und besondere Geschöpfe sind, nicht
'nur' eine andere Primatenart" und zum anderen eine durchgängige
evolutionäre Perspektive. Denn, so Ramachandran, "das Gehirn können wir
nur verstehen, wenn wir uns vor Augen halten, wie es sich im Zuge der Evolution
entwickelt hat." Und damit kämen wir dann auch zur eingangs erwähnten
universellen Grußgeste des Menschen zurück. Warum lächeln wir eigentlich dabei?
Hier die Theorie des Autors: "Wenn sich ein Affe einem Artgenossen nähert,
ist die übliche Annahme, dass dort ein potentiell gefährlicher Fremder kommt,
daher signalisiert er seine Bereitschaft zum Kampf, indem er eine Grimasse
macht, die seine Eckzähne hervortreten lässt. Im Zuge der Evolution wurde das
zu einer ritualisierten Drohgebärde, eine aggressive Mimik, die den
Eindringling vor einer potenziellen Vergeltung warnte. Doch wenn der
näherkommende Affe als Freund erkannt wird, bricht sein Artgenosse die
Drohgebärde (gebleckte Eckzähne) vorzeitig ab, und diese halbfertige Grimasse
(mit halb verborgenen Eckzähnen) wird zu einem Ausdruck der Beschwichtigung und
Freundlichkeit."
Fazit:
"Die Frau, die Töne sehen konnte" erweist sich als schwierige, aber
höchst anregende Führung durch eine für die meisten unbekannte Disziplin. Auch
wenn der Code des menschlichen Gehirns noch lange nicht geknackt ist und V. C.
Ramachandran mitunter auch vor gewagten Spekulationen nicht zurückscheut, so
ist es dennoch erstaunlich welch atemberaubenden Fortschritt die Neurowissenschaft
mittlerweile genommen hat. Doch wie schrieb schon der Biologe Peter Medawar:
"Jede gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis erwächst aus einer Idee von
dem, was wahr sein könnte".
Eines wird
nach der Lektüre jedoch unmissverständlich klar und sollte auch beruhigen,
nämlich dass das Gehirn oft viel klüger agiert, als es seinem Besitzer
tatsächlich bewusst wird.
V. S. Ramachandran
Die Frau, die Töne sehen konnte
Rowohlt
Verlag (Januar 2013)
527
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3498057944
ISBN-13:
978-3498057947
Preis: 24,95 EUR
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