Erschienen in Ausgabe: No. 27 (1/2007) | Letzte Änderung: 23.02.09 |
Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen.
von Papst Benedikt XVI.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Es ist für mich ein bewegender Augenblick, noch einmal am Pult der
Universität zu stehen und noch einmal eine Vorlesung halten zu dürfen. Meine
Gedanken gehen dabei zurück in die Jahre, in denen ich an der Universität Bonn
nach einer schönen Periode an der Freisinger Hochschule meine Tätigkeit als
akademischer Lehrer aufgenommen habe.
Es war – 1959 – noch die Zeit der alten Ordinarien-Universität. Für die
einzelnen Lehrstühle gab es weder Assistenten noch Schreibkräfte, dafür aber
gab es eine sehr unmittelbare Begegnung mit den Studenten und vor allem auch
der Professoren untereinander. In den Dozentenräumen traf man sich vor und nach
den Vorlesungen. Die Kontakte mit den Historikern, den Philosophen, den
Philologen und natürlich auch zwischen beiden Theologischen Fakultäten waren
sehr lebendig.
Es gab jedes Semester einen sogenannten Dies academicus, an dem sich
Professoren aller Fakultäten den Studenten der gesamten Universität vorstellten
und so ein wirkliches Erleben von Universitas möglich wurde: Daß wir in allen
Spezialisierungen, die uns manchmal sprachlos füreinander machen, doch ein
Ganzes bilden und im Ganzen der einen Vernunft mit all ihren Dimensionen
arbeiten und so auch in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten
Gebrauch der Vernunft stehen – das wurde erlebbar.
Die Universität war auch durchaus stolz auf ihre beiden Theologischen
Fakultäten. Es war klar, daß auch sie, indem sie nach der Vernunft des Glaubens
fragen, eine Arbeit tun, die notwendig zum Ganzen der Universitas scientiarum
gehört, auch wenn nicht alle den Glauben teilen konnten, um dessen Zuordnung zur
gemeinsamen Vernunft sich die Theologen mühen.
Dieser innere Zusammenhalt im Kosmos der Vernunft wurde auch nicht gestört,
als einmal verlautete, einer der Kollegen habe geäußert, an unserer Universität
gebe es etwas Merkwürdiges: zwei Fakultäten, die sich mit etwas befaßten, was
es gar nicht gebe – mit Gott. Daß es auch solch radikaler Skepsis gegenüber
notwendig und vernünftig bleibt, mit der Vernunft nach Gott zu fragen und es im
Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens zu tun, war im Ganzen
der Universität unbestritten.
All dies ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich kürzlich den von
Professor Theodore Khoury (Münster) herausgegebenen Teil des Dialogs las, den
der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos wohl 1391 im
Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam
und beider Wahrheit führte. Der Kaiser hat wohl während der Belagerung von
Konstantinopel zwischen 1394 und 1402 den Dialog aufgezeichnet; so versteht man
auch, daß seine eigenen Ausführungen sehr viel ausführlicher wiedergegeben sind
als die Antworten des persischen Gelehrten.
Der Dialog erstreckt sich über den ganzen Bereich des von Bibel und Koran
umschriebenen Glaubensgefüges und kreist besonders um das Gottes-und das Menschenbild,
aber auch immer wieder notwendigerweise um das Verhältnis der „drei Gesetze“:
Altes Testament – Neues Testament – Koran.
In dieser Vorlesung möchte ich nur einen – im Aufbau des Dialogs eher
marginalen – Punkt behandeln, der mich im Zusammenhang des Themas Glaube und
Vernunft fasziniert hat und der mir als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu
diesem Thema dient.
In der von Professor Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde (διάλεξις
– Kontroverse) kommt der Kaiser auf das Thema des Djihād (heiliger Krieg) zu
sprechen. Der Kaiser wußte sicher, daß in Sure 2, 256 steht: Kein Zwang in
Glaubenssachen – es ist eine der frühen Suren aus der Zeit, in der Mohammed
selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die
im Koran niedergelegten – später entstandenen – Bestimmungen über den heiligen
Krieg.
Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von
„Schriftbesitzern“ und „Ungläubigen“ einzulassen, wendet er sich in erstaunlich
schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von
Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: „Zeig mir
doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und
Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er
predigte, durch das Schwert zu verbreiten“.
Der Kaiser begründet dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt
widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der
Seele. „Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß (σ ν λόγω) zu
handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht
des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit
zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung… Um eine
vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht
Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod
bedrohen kann…“.
Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt
lautet: Nicht vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der
Herausgeber, Theodore Khoury, kommentiert dazu: Für den Kaiser als einen in
griechischer Philosophie aufgewachsenen Byzantiner ist dieser Satz evident. Für
die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an
keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit.
Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R.
Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazn so weit gehe zu erklären, daß Gott
auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu
verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der
Mensch auch Idolatrie treiben.
Hier tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten
Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert.
Ist es nur griechisch zu glauben, dass vernunftwidrig zu handeln dem Wesen
Gottes zuwider ist, oder gilt das immer und in sich selbst? Ich denke, dass an
dieser Stelle der tiefe Einklang zwischen dem, was im besten Sinn griechisch
ist und dem auf der Bibel gründenden Gottesglauben sichtbar wird. Den ersten
Vers der Genesis abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem
Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos.
Dies ist genau das Wort, das der Kaiser gebraucht: Gott handelt mit Logos.
Logos ist Vernunft und Wort zugleich - eine Vernunft, die schöpferisch ist und
sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das
abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs geschenkt, in dem alle die oft
mühsamen und verschlungenen Wege des biblischen Glaubens an ihr Ziel kommen und
ihre Synthese finden. Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott, so sagt
uns der Evangelist. Das Zusammentreffen der biblischen Botschaft und des
griechischen Denkens war kein Zufall. Die Vision des heiligen Paulus, dem sich
die Wege in Asien verschlossen und der nächtens in einem Gesicht einen
Mazedonier sah und ihn rufen hörte: Komm herüber und hilf uns (Apg 16, 6 - 10)
- diese Vision darf als Verdichtung des von innen her nötigen
Auf-einanderzugehens zwischen biblischem Glauben und griechischem Fragen
gedeutet werden.
Dabei war dieses Zugehen längst im Gang. Schon der geheimnisvolle Gottesname
vom brennenden Dornbusch, der diesen Gott aus den Göttern mit den vielen Namen
herausnimmt und von ihm einfach das Sein aussagt, ist eine Bestreitung des
Mythos, zu der der sokratische Versuch, den Mythos zu überwinden und zu
übersteigen, in einer inneren Analogie steht. Der am Dornbusch begonnene
Prozess kommt im Innern des Alten Testaments zu einer neuen Reife während des
Exils, wo nun der landlos und kultlos gewordene Gott Israels sich als den Gott
des Himmels und der Erde verkündet und sich mit einer einfachen, das
Dornbusch-Wort weiterführenden Formel vorstellt: „Ich bin's.“ Mit diesem neuen
Erkennen Gottes geht eine Art von Aufklärung Hand in Hand, die sich im Spott
über die Götter drastisch ausdrückt, die nur Machwerke der Menschen sind (vgl.
Ps 115). So geht der biblische Glaube in der hellenistischen Epoche bei aller
Schärfe des Gegensatzes zu den hellenistischen Herrschern, die die Angleichung
an die griechische Lebensweise und ihren Götterkult erzwingen wollten, dem
Besten des griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen
Berührung, wie sie sich dann besonders in der späten Weisheits-Literatur
vollzogen hat.
Heute wissen wir, dass die in Alexandrien entstandene griechische
Übersetzung des Alten Testaments - die Septuaginta - mehr als eine bloße
(vielleicht wenig positiv zu beurteilende) Übersetzung des hebräischen Textes,
nämlich ein selbständiger Textzeuge und ein eigener wichtiger Schritt der
Offenbarungsgeschichte ist, in dem sich diese Begegnung auf eine Weise
realisiert hat, die für die Entstehung des Christentums und seine Verbreitung
entscheidende Bedeutung gewann. Zutiefst geht es dabei um die Begegnung zwischen
Glaube und Vernunft, von rechter Aufklärung und Religion. Manuel II. hat
wirklich aus dem inneren Wesen des christlichen Glaubens heraus und zugleich
aus dem Wesen des Hellenistischen, das sich mit dem Glauben verschmolzen hatte,
sagen können: Nicht „mit dem Logos“ handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.
Hier ist der Redlichkeit halber anzumerken, dass sich im Spätmittelalter
Tendenzen der Theologie entwickelt haben, die diese Synthese von Griechischem
und Christlichem aufsprengen. Gegenüber dem so genannten augustinischen und
thomistischen Intellektualismus beginnt bei Duns Scotus eine Position des
Voluntarismus, die schließlich dahinführte zu sagen, wir kennten von Gott nur
seine Voluntas ordinata. Jenseits davon gebe es die Freiheit Gottes, kraft
derer er ja auch das Gegenteil von allem, was er getan hat, hätte machen und
tun können. Hier zeichnen sich Positionen ab, die denen von Ibn Hazn durchaus
nahe kommen können und auf das Bild eines Willkür-Gottes zulaufen könnten, der
auch nicht an die Wahrheit und an das Gute gebunden ist.
Die Transzendenz und die Andersheit Gottes werden so weit übersteigert, daß
auch unsere Vernunft, unser Sinn für das Wahre und Gute kein wirklicher Spiegel
Gottes mehr sind, dessen abgründige Möglichkeiten hinter seinen tatsächlichen
Entscheiden für uns ewig unzugänglich und verborgen bleiben. Demgegenüber hat
der kirchliche Glaube immer daran festgehalten, daß es zwischen Gott und uns,
zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft eine
wirkliche Analogie gibt, in der zwar die Unähnlichkeiten unendlich größer sind
als die Ähnlichkeiten, daß aber eben doch die Analogie und ihre Sprache nicht
aufgehoben werden (vgl. Lat IV).
Gott wird nicht göttlicher dadurch, daß wir ihn in einen reinen und undurchschaubaren
Voluntarismus entrücken, sondern der wahrhaft göttliche Gott ist der Gott, der
sich als Logos gezeigt und als Logos liebend für uns gehandelt hat und handelt.
Gewiß, die Liebe „übersteigt“ die Erkenntnis und vermag daher mehr wahrzunehmen
als das bloße Denken (vgl. Eph 3, 19), aber sie bleibt doch Liebe des
Gottes-Logos, weshalb christlicher Gottesdienst λογικ λατρεία ist –
Gottesdienst, der im Einklang mit dem ewigen Wort und mit unserer Vernunft
steht (vgl. Röm 12, 1).
Dieses hier angedeutete innere Zugehen aufeinander, das sich zwischen
biblischem Glauben und griechischem philosophischem Fragen vollzogen hat, ist
ein nicht nur religionsgeschichtlich, sondern weltgeschichtlich entscheidender
Vorgang, der uns auch heute in Pflicht nimmt. Wenn man diese Begegnung sieht,
ist es nicht verwunderlich, daß das Christentum trotz seines Ursprungs und wichtiger
Entfaltungen im Orient schließlich seine geschichtlich entscheidende Prägung in
Europa gefunden hat. Wir können auch umgekehrt sagen: Diese Begegnung, zu der
dann noch das Erbe Roms hinzutritt, hat Europa geschaffen und bleibt die
Grundlage dessen, was man mit Recht Europa nennen kann.
Der These, daß das kritisch gereinigte griechische Erbe wesentlich zum
christlichen Glauben gehört, steht die Forderung nach der Enthellenisierung des
Christentums entgegen, die seit dem Beginn der Neuzeit wachsend das
theologische Ringen beherrscht. Wenn man näher zusieht, kann man drei Wellen
des Enthellenisierungsprogramms beobachten, die zwar miteinander verbunden,
aber in ihren Begründungen und Zielen doch deutlich voneinander verschieden
sind.
Die Enthellenisierung erscheint zuerst mit den Grundanliegen der Reformation
des 16. Jahrhunderts verknüpft. Die Reformatoren sahen sich angesichts der
theologischen Schultradition einer ganz von der Philosophie her bestimmten
Systematisierung des Glaubens gegenüber, sozusagen einer Fremdbestimmung des
Glaubens durch ein nicht aus ihm kommendes Denken. Der Glaube erschien dabei
nicht mehr als lebendiges geschichtliches Wort, sondern eingehaust in ein
philosophisches System. Das Sola Scriptura sucht demgegenüber die reine Urgestalt
des Glaubens, wie er im biblischen Wort ursprünglich da ist.
Metaphysik erscheint als eine Vorgabe von anderswoher, von der man den
Glauben befreien muß, damit er ganz wieder er selber sein könne. In einer für
die Reformatoren nicht vorhersehbaren Radikalität hat Kant mit seiner Aussage,
er habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen,
aus diesem Programm heraus gehandelt. Er hat dabei den Glauben ausschließlich
in der praktischen Vernunft verankert und ihm den Zugang zum Ganzen der
Wirklichkeit abgesprochen.
Die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts brachte eine zweite
Welle im Programm der Enthellenisierung mit sich, für die Adolf von Harnack als
herausragender Repräsentant steht. In der Zeit, als ich studierte, wie in den
frühen Jahren meines akademischen Wirkens war dieses Programm auch in der
katholischen Theologie kräftig am Werk.
Pascals Unterscheidung zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott
Abrahams, Isaaks und Jakobs diente als Ausgangspunkt dafür. In meiner Bonner
Antrittsvorlesung von 1959 habe ich mich damit auseinanderzusetzen versucht.
Dies alles möchte ich hier nicht neu aufnehmen. Wohl aber möchte ich wenigstens
in aller Kürze versuchen, das unterscheidend Neue dieser zweiten Enthellenisierungswelle
gegenüber der ersten herauszustellen.
Als Kerngedanke erscheint bei Harnack die Rückkehr zum einfachen Menschen
Jesus und zu seiner einfachen Botschaft, die allen Theologisierungen und eben
auch Hellenisierungen voraus liege: Diese einfache Botschaft stelle die
wirkliche Höhe der religiösen Entwicklung der Menschheit dar. Jesus habe den
Kult zugunsten der Moral verabschiedet. Er wird im letzten als Vater einer
menschenfreundlichen moralischen Botschaft dargestellt.
Dabei geht es im Grunde darum, das Christentum wieder mit der modernen
Vernunft in Einklang zu bringen, eben indem man es von scheinbar
philosophischen und theologischen Elementen wie etwa dem Glauben an die
Gottheit Christi und die Dreieinheit Gottes befreie. Insofern ordnet die historisch-kritische
Auslegung des Neuen Testaments die Theologie wieder neu in den Kosmos der
Universität ein: Theologie ist für Harnack wesentlich historisch und so streng
wissenschaftlich. Was sie auf dem Weg der Kritik über Jesus ermittelt, ist
sozusagen Ausdruck der praktischen Vernunft und damit auch im Ganzen der
Universität vertretbar.
Im Hintergrund steht die neuzeitliche Selbstbeschränkung der Vernunft, wie
sie in Kants Kritiken klassischen Ausdruck gefunden hatte, inzwischen aber vom
naturwissenschaftlichen Denken weiter radikalisiert wurde. Diese moderne
Auffassung der Vernunft beruht auf einer durch den technischen Erfolg
bestätigten Synthese zwischen Platonismus (Cartesianismus) und Empirismus, um
es verkürzt zu sagen.
Auf der einen Seite wird die mathematische Struktur der Materie, sozusagen
ihre innere Rationalität vorausgesetzt, die es möglich macht, sie in ihrer
Wirkform zu verstehen und zu gebrauchen: Diese Grundvoraussetzung ist sozusagen
das platonische Element im modernen Naturverständnis.
Auf der anderen Seite geht es um die Funktionalisierbarkeit der Natur für
unsere Zwecke, wobei die Möglichkeit der Verifizierung oder Falsifizierung im
Experiment erst die entscheidende Gewißheit liefert. Das Gewicht zwischen den
beiden Polen kann je nachdem mehr auf der einen oder der anderen Seite liegen.
Ein so streng positivistischer Denker wie J. Monod hat sich als überzeugter
Platoniker bzw. Cartesianer bezeichnet.
Dies bringt zwei für unsere Frage entscheidende Grundorientierungen mit
sich. Nur die im Zusammenspiel von Mathematik und Empirie sich ergebende Form
von Gewißheit gestattet es, von Wissenschaftlichkeit zu sprechen. Was
Wissenschaft sein will, muß sich diesem Maßstab stellen. So versuchen dann auch
die auf die menschlichen Dinge bezogenen Wissenschaften wie Geschichte,
Psychologie, Soziologie, Philosophie sich diesem Kanon von Wissenschaftlichkeit
anzunähern.
Wichtig für unsere Überlegungen ist aber noch, daß die Methode als solche
die Gottesfrage ausschließt und sie als unwissenschaftliche oder
vorwissenschaftliche Frage erscheinen läßt. Damit aber stehen wir vor einer
Verkürzung des Radius von Wissenschaft und Vernunft, die in Frage gestellt
werden muß. Darauf werden wir zurückkommen.
Einstweilen bleibt festzustellen, daß bei einem von dieser Sichtweise her
bestimmten Versuch, Theologie „wissenschaftlich“ zu erhalten, vom Christentum
nur ein armseliges Fragmentstück übrigbleibt. Aber wir müssen mehr sagen: Der
Mensch selbst wird dabei verkürzt. Denn die eigentlich menschlichen Fragen, die
nach unserem Woher und Wohin, die Fragen der Religion und des Ethos können dann
nicht im Raum der gemeinsamen, von der „Wissenschaft“ umschriebenen Vernunft
Platz finden und müssen ins Subjektive verlegt werden.
Das Subjekt entscheidet mit seinen Erfahrungen, was ihm religiös tragbar
erscheint, und das subjektive „Gewissen“ wird zur letztlich einzigen ethischen
Instanz. So aber verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft
und verfallen der Beliebigkeit.
Dieser Zustand ist für die Menschheit gefährlich: Wir sehen es an den uns
bedrohenden Pathologien der Religion und der Vernunft, die notwendig ausbrechen
müssen, wo die Vernunft so verengt wird, daß ihr die Fragen der Religion und
des Ethos nicht mehr zugehören. Was an ethischen Versuchen von den Regeln der
Evolution oder von Psychologie und Soziologie her bleibt, reicht ganz einfach
nicht aus.
Bevor ich zu den Schlußfolgerungen komme, auf die ich mit alledem hinaus
will, muß ich noch kurz die dritte Enthellenisierungswelle andeuten, die zurzeit
umgeht. Angesichts der Begegnung mit der Vielheit der Kulturen sagt man heute
gern, die Synthese mit dem Griechentum, die sich in der alten Kirche vollzogen
habe, sei eine erste Inkulturation des Christlichen gewesen, auf die man die
anderen Kulturen nicht festlegen dürfe. Ihr Recht müsse es sein, hinter diese
Inkulturation zurückzugehen auf die einfache Botschaft des Neuen Testaments, um
sie in ihren Räumen jeweils neu zu inkulturieren.
Diese These ist nicht einfach falsch, aber doch vergröbert und ungenau. Denn
das Neue Testament ist griechisch geschrieben und trägt in sich selber die
Berührung mit dem griechischen Geist, die in der
vorangegangenen Entwicklung des Alten Testaments gereift war. Gewiß gibt es
Schichten im Werdeprozeß der alten Kirche, die nicht in alle Kulturen eingehen
müssen. Aber die Grundentscheidungen, die eben den Zusammenhang des Glaubens
mit dem Suchen der menschlichen Vernunft betreffen, die gehören zu diesem
Glauben selbst und sind seine ihm gemäße Entfaltung.
Damit komme ich zum Schluß. Die eben in ganz groben Zügen versuchte
Selbstkritik der modernen Vernunft schließt ganz und gar nicht die Auffassung
ein, man müsse nun wieder hinter die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten
der Moderne verabschieden.
Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt: Wir
alle sind dankbar für die großen Möglichkeiten, die sie dem Menschen
erschlossen hat und für die Fortschritte an Menschlichkeit, die uns geschenkt
wurden. Das Ethos der Wissenschaftlichkeit ist im übrigen Wille zum Gehorsam
gegenüber der Wahrheit und insofern Ausdruck einer Grundhaltung, die zu den
Grundentscheiden des Christlichen gehört.
Nicht Rücknahme, nicht negative Kritik ist gemeint, sondern um Ausweitung
unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs geht es. Denn bei aller Freude über die
neuen Möglichkeiten des Menschen sehen wir auch die Bedrohungen, die aus diesen
Möglichkeiten aufsteigen und müssen uns fragen, wie wir ihrer Herr werden
können. Wir können es nur, wenn Vernunft und Glaube auf neue Weise
zueinanderfinden; wenn wir die selbstverfügte Beschränkung der Vernunft auf das
im Experiment Falsifizierbare überwinden und der Vernunft ihre ganze Weite
wieder eröffnen.
In diesem Sinn gehört Theologie nicht nur als historische und humanwissenschaftliche
Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft des
Glaubens an die Universität und in ihren weiten Dialog der Wissenschaften
hinein.
Nur so werden wir auch zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen
fähig, dessen wir so dringend bedürfen. In der westlichen Welt herrscht weithin
die Meinung, allein die positivistische Vernunft und die ihr zugehörigen Formen
der Philosophie seien universal. Aber von den tief religiösen Kulturen der Welt
wird gerade dieser Ausschluß des Göttlichen
aus der Universalität der Vernunft als Verstoß gegen ihre innersten
Überzeugungen angesehen.
Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den
Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen. Dabei
trägt, wie ich zu zeigen versuchte, die moderne naturwissenschaftliche Vernunft
mit dem ihr innewohnenden platonischen Element eine Frage in sich, die über sie
und ihre methodischen Möglichkeiten hinausweist.
Sie selber muß die rationale Struktur der Materie wie die Korrespondenz
zwischen unserem Geist und den in der Natur waltenden rationalen Strukturen
ganz einfach als Gegebenheit annehmen, auf der ihr methodischer Weg beruht.
Aber die Frage, warum dies so ist, die besteht doch und muß von der Naturwissenschaft
weitergegeben werden an andere Ebenen und Weisen des Denkens – an Philosophie
und Theologie.
Für die Philosophie und in anderer Weise für die Theologie ist das Hören auf
die großen Erfahrungen und Einsichten der religiösen Traditionen der Menschheit,
besonders aber des christlichen Glaubens, eine Erkenntnisquelle, der sich zu
verweigern eine unzulässige Verengung unseres Hörens und Antwortens wäre.
Mir kommt da ein Wort des Sokrates an Phaidon in den Sinn. In den
vorangehenden Gesprächen hatte man viele falsche philosophische Meinungen
berührt, und nun sagt Sokrates: Es wäre wohl zu verstehen, wenn einer aus Ärger
über so viel Falsches sein übriges Leben lang alle Reden über das Sein haßte
und schmähte. Aber auf diese Weise würde er der Wahrheit des Seienden verlustig
gehen und einen sehr großen Schaden erleiden.
Der Westen ist seit langem von dieser Abneigung gegen die grundlegenden
Fragen seiner Vernunft bedroht und kann damit nur einen großen Schaden
erleiden. Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe – das ist das
Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben verpflichtete Theologie in den
Disput der Gegenwart eintritt. „Nicht vernunftgemäß (mit dem Logos) handeln ist
dem Wesen Gottes zuwider“, hat Manuel II. von seinem
christlichen Gottesbild her zu seinem persischen Gesprächspartner gesagt.
In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der
Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber immer wieder zu finden, ist
die große Aufgabe der Universität.
Anmerkung: Der Heilige Vater hat sich vorbehalten, diesen Text später mit
Anmerkungen versehen zu veröffentlichen. Die vorliegende Fassung ist also als
vorläufig zu betrachten.
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