Erschienen in Ausgabe: No 85 (03/2013) | Letzte Änderung: 20.02.13 |
von Rainer Westphal
Der
Verfasser hat in seinen Kommentaren mehrfach darauf hingewiesen, dass
Binsenweisheiten einer ständigen Wiederholung bedürfen, um nicht in
Vergessenheit zu geraten. Allerdings muss sich derjenige, welcher diese Wahrheit
beherzigt, oftmals den Vorwurf gefallen
lassen, sich umgangssprachlich ausgedrückt zu haben, und einen akademischen
Standard nicht zu beachten (restringierter Code).
Den
Verfasser erstaunt es immer wieder, wie selbsternannte Politiker, Ökonomen und
Politologen ihre Verwunderung darüber ausdrücken, warum die Mitbürger sich
immer weniger für die Politik interessieren, und Diskussionen, welche in diese
Richtung gehen, für unschicklich erachten. Die Anzahl der Nichtwähler dürfte
ein untrügliches Zeichen für diese Tatsache sein. Der Grund für dieses Bedauern
über diesen Umstand dürfte aber darin liegen, dass es gefährlich erscheint,
dass sich offenbar eine schweigende Mehrheit bildet, deren Reaktion unter
Umständen irgendwann unberechenbar wird (Chaos-Theorie).
Elisabeth
Noelle-Neumann (19. Dezember 1916 - 25. März 2010) gilt als Pionierin der
Demoskopie in Deutschland und war Gründerin des Instituts für Demoskopie in
Allensbach.
In
Noelle-Neumanns Werk „Die Entdeckung der Schweigespirale“ wird besonders
mittels geschichtlicher Nachforschung über Descartes, Rousseau, Hegel, Homer,
Platon, David Hume, John Locke, Edmund Burke und andere Personen der Literatur,
Politik und Philosophie der Zusammenhang zwischen der sozialen Natur des
Menschen und der so genannten Schweigespirale untersucht.
Eine
ihrer Kernaussagen dieser Veröffentlichung wird wie nachstehend wieder-
gegeben:
„Die negative Haltung zu
einem herrschenden System wächst dadurch, mathematisch beweisbar, lawinenartig
an, dass u. a. sich die Anhänger des Systems immer mehr selbst isolieren,
schweigen und damit dem System ihre Unterstützung, teils unabsichtlich, teils
absichtlich, versagen. Was zunächst nur Ansicht eines Teils der Bevölkerung
war, schien für die Machthaber oder Regierenden nunmehr die Meinung aller zu
sein.“
In
ihrem Werk die „Schweigespirale“ stellte Frau Noelle-Neumann u. a. fest, dass es in der sozialen Natur des
Menschen liege, dass er eine „Isolationsfurcht“ empfindet, und nichts mehr
fürchtet als sozial isoliert zu sein. Dieses bedeutet im Prinzip, dass sich
viele Menschen aus Furcht vor der sozialen Isolierung einer Meinung
anschließen, die nicht der eigenen entspricht. Anders ausgedrückt, es möchte sich
keiner gerne einer vermeintlichen Minderheit oder Verlierern anschließen.
In
der von Alexis de Tocqueville veröffentlichten Geschichte der Französischen
Revolution schilderte dieser den Niedergang der französischen Kirche Mitte des
18. Jahrhunderts. Er erklärte das Phänomen mit folgenden Worten, was in der
heutigen Zeit wohl als brandaktuell bezeichnet werden kann:
„Leute, die noch am Glauben
festhielten, fürchteten, die einzigen zu sein, die ihm treu blieben, und da sie
die Absonderung mehr als den Irrtum fürchteten, gesellten sie sich zu einer
Menge, ohne wie diese zu denken.“
Wenn
wir uns nun dem Thema zuwenden, welches die Ursachen sind, die den Bürger dazu
veranlassen, sich von der Politik als solches abzuwenden, dann ist festzustellen,
dass diese über Jahrzehnte die Grundsätze der Wahrheit, Klarheit und
Kontinuität geradezu schmerzlich vermissen lassen. Für die Bürger haben die
Politiker offensichtlich ein anderes Verhältnis zur Wahrheit. Politiker stellen
sich für die Mitbürger so dar, dass dieses zur Annahme berechtigt, dass es für
diese mehrere Wahrheiten gibt. Ein derartiges Verhalten wird von den Mitbürgern
mit Unverständnis honoriert. Zusätzlich wird immer deutlicher, dass Politiker
immer häufiger nur einen Teil dessen erwähnen, was Sachverhalte angeht, um
„Schönfärberei“ zu betreiben. Um sich eine „Hintertür“ offen zu lassen, lassen diese
es permanent an der Klarheit ihrer Aussagen fehlen. In den letzten Jahren ist
es sogar nicht unüblich, Dinge für nicht vorhanden oder unwahr zu erklären,
wenn diese nicht ins politische Konzept passen.
Was
die Kontinuität der Politik betrifft, so gehen die Mitbürger fälschlicherweise
davon aus, dass ein Konzept oder eine entsprechende Zielsetzung immer vorhanden
sein muss, und fühlen sich oft betrogen, da sich dann plötzlich herausstellt,
dass eine erwartete politische
Vorstellung sich nicht mit dem deckt, was tatsächliches Ziel der
Entscheidungsträger zum Inhalt hatte. Die Äußerung von der Bundeskanzlerin,
dass sie erst dann politisch handeln wird, wenn sich auch eine Notwendigkeit
ergibt, ist dazu geeignet, den Bürgern das Gefühl der Ziellosigkeit zu
vermitteln.
Allerdings
ist hierzu festzustellen, dass die Politiker oftmals nicht bereit sind, Maßnahmen
oder Entscheidungen mit einem Ziel in Verbindung zu bringen. Erfahren die
potentiellen Wähler was das eigentliche Ziel gewisser Veranstaltungen ist, kann
es dazu führen, dass sich ein Sturm der Entrüstung einstellt. Aus diesem Grunde
wird das endgültige Ziel oftmals verheimlicht, und nur Teilziele definiert. Man
vertraut darauf, dass sich die Bürger schon an gewisse „Neuerungen“ gewöhnen
werden. Allerdings kann man so was nur „scheibchenweise“ bewerkstelligen. Wie
anders kann u. a. die Durchsetzung des Lissabon-Vertrages auf dem Umweg einer
parlamentarischen Vorgehensweise interpretiert werden? (1)
Ein nicht unerheblicher
Anteil der Bürger vertritt nicht zu Unrecht die Meinung, dass die derzeitige
Politik als „schmutziges Geschäft“ zu bezeichnen ist, und das politische
Geschehen von Lüge und Betrug mitbestimmt wird.
So
ist es dem SPD-Mitglied Franz Müntefering offensichtlich nie bewusst geworden,
dass er diese Meinung damit bestätigte, dass er sich zu der Behauptung
verstieg, das es „unfair“ wäre, wenn Wähler die Politiker nach der Wahl daran
erinnern würden, was diese vor der Wahl versprochen hätten. Die Liste der
offenbar „abgehobenen“ Politiker ließe sich beliebig erweitern.
Eine
Tatsache ist es, dass den meisten Mitbürgern die Ziele der Agenda 2010 in
keiner Weise bewusst geworden sind. Erinnern tun diese sich nur an das
„Krebsge- schwür“ ALG II. Diese Gesetzgebung, welche auch als Hartz IV
bezeichnet wird, wurde notwendig, da die Umwandlung des bestehenden Systems in
neoliberales vorgenommen werden sollte (2). Es wurde ein Konsens zwischen den
etablierten Parteien hergestellt, was als außerordentlich merkwürdig zu
bezeichnen ist. Politischer, parlamentarischer Widerstand, wurde nur über die
Gründung einer linken Partei möglich.
Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass die
Ablösung der „sozialen Marktwirtschaft“ durch ein neoliberales System auf ungeahnte Widerstände stößt. Bekanntermaßen
ist die Finanzkrise, ursächlich ausgelöst durch die Deregulierungen und den
Marktradikalismus, ein Ausfluss von politischen und ökonomischen
Fehleinschätzungen. Es herrschte unter den selbsternannten Ökonomen offensichtlich
die unsinnige Lehrmeinung vor, dass eine missbräuchliche Ausübung
wirtschaftlicher Macht nicht stattfindet, bzw. diese durch Maßnahmen eingeschränkt
werden könne. Andere Motive werden vom
Verfasser ganz bewusst nicht beschrieben. Erinnert wird jedoch in diesem
Zusammenhang an Walter Eucken, der die Erkenntnis äußerte, dass es nicht darum
gehen könne, wirtschaftliche Macht einzuschränken, sondern diese zu verhindern.
Wenn
man sich die Aussagen von Politikern und selbsternannten Ökonomen sowie die
Veröffentlichungen in den Print-Medien der letzten Jahre vergegenwärtigt, so
müssen wir feststellen, dass mittels Manipulation der öffentlichen Meinung (3)
versucht wurde und noch wird, für Bürger unbekannte Zielsetzungen oder
Interessen durchzusetzen. Offenbar sind diese Politiker oder die entsprechenden
Medien zur Meinung gelangt, dass nur eine gelenkte Demokratie, was es auch
immer sei, als zweckmäßig anzusehen ist. Wir
haben es wohl auch deshalb mit einem nicht für möglich gehaltenen
Demokratieverlust zu tun, welches der Bürger spürt, aber es oftmals nicht
verbal benennen kann. Selbst so genannte Wissenschaftler haben
offensichtlich ihre Wissenschaft verraten, um sich dubiosen politischen
Zielsetzungen unterzuordnen. Es wird in diesem Zusammenhang der sinnlose Herr
Sinn genannt, welcher dem Bürger gegenüber die These vertreten hat, dass dieser
endlich dadurch mündig zu werden habe, in dem dieser sein Bad renoviere. Eine besondere „Blüte“ stellt Herr
Straubhaar dar, welcher die haarsträubende These vertrat, Griechenland in ein
Protektorat verwandeln zu müssen. Auf die Merkwürdigkeiten der Aktivitäten
des Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz, dem Vorsitzenden des
„Expertenrates“ der Bundesregierung, wird bewusst nicht näher eingegangen.
Die
ekelerregenden Artikel und Aussagen der Politiker und Journalisten in den
einschlägigen Medien werden hier nicht beschrieben. Es wird davon ausgegangen,
dass diese noch gegenwärtig sind.Es
dürfte aber aufgefallen sein, in welcher Art und Weise die Bevölkerung u. a.
zur Denunziation und Ausgrenzung von Menschen, offensichtlich aus
wirtschaftlichen Gründen, manipuliert
wurde und noch wird. Mir fällt hierzu in Anlehnung an Noelle-Neumann meine nachstehende
Aussage ein:
Nicht nur in Diktaturen
neigen Politiker dazu, über eine Diskriminierung von Minderheiten von eigenen
Fehlern und Fehlentwicklungen abzulenken und den Begriff der Gleichheit und
Gleichbehandlung in Vergessenheit geraten zu lassen.
Eine
ganz besondere Variante stellt nunmehr der Versuch dar, feste Begriffe mit
anderen Inhalten zu versehen. So erklärt ein ausgerasteter Journalist der
Burda-Presse den Begriff Solidarität neu definieren zu müssen. Ähnliches
erfolgte bereits mit dem Begriff Gleichheit, was man mit sozialer Gerechtigkeit
gleichsetzt, und Brüderlichkeit mit Solidarität. Der Verfasser ist der Meinung, dass Brüderlichkeit weitergehend ist als
Solidarität, und der Begriff Gleichheit weiter greift als soziale
Gerechtigkeit. Dass der Begriff Freiheit bereits dahingehend interpretiert
wird, dass es das Recht des Stärkeren ist, die Schwächeren zu beherrschen und
wirtschaftlich auszubeuten, dürfte nicht unbekannt sein.
Ausgerechnet der viel gescholtene Oskar
Lafontaine brachte in seiner Rede im August 2005 in Leipzig Kernprobleme auf
den Punkt:
„Jede
Reformpolitik braucht eine geistige Orientierung. Und diese geistige
Orientierung wäre fällig. Das einzige, was wir hören, ist Kostensenkung. Auf
Kostensenkung kann man aber keine moderne Gesellschaft aufbauen. Im Zentrum der
Reformpolitik steht derzeit der Begriff der Eigenverantwortung. Und dieser
Begriff ist verräterisch. Denn er bedeutet im Grunde genommen die Kündigung
eines Begriffs, der bisher dem Sozialstaat in der Bundesrepublik zugrunde lag.
Eigenverantwortung, das ist verdammt nahe an Egoismus und an Rücksichtslosigkeit.
Verantwortung, die dem Sozialstaat zugrunde liegt, ist immer Verantwortung für
die Mitmenschen, Verantwortung für die anderen. Das ist eine ganz andere geistige Orientierung als die der
gegenwärtigen Politik.Verantwortung für die anderen, das heißt, die Arbeitenden
fühlen sich verantwortlich für die Rentnergeneration, die auch früher die
Arbeitenden ernährt hat, die Rentner ernährt hat, ihre Eltern ernährt hat.
Verantwortung für die anderen heißt, dass die Gesunden sich verantwortlich
fühlen für die Kranken und ihnen nicht vorrechnen, dass sie weniger aus der
Kasse herausbekommen. Und Verantwortung heißt auch, dass die Arbeitenden sich
verantwortlich fühlen für die Arbeitslosen, aber natürlich noch mehr, dass
diejenigen, die großes Vermögen, große Einkommen haben, sich verantwortlich
fühlen für diejenigen, denen es schlecht geht in unserem Lande. Die
gegenwärtige »Reform«politik kann keinen Erfolg haben, weil sie schon in der
Sprache auf Täuschung setzt, und die Menschen nicht aufklärt, sondern sie vielmehr
in die Irre führt. »Agenda 2010«, das klingt so modern, das klingt so nach
Zukunft, das klingt, als werde am Horizont die Morgenröte aufsteigen, die uns
ein besseres Land verspricht. Aber »Agenda 2010« heißt Abbau des
Kündigungsschutzes, heißt Kürzung des Arbeitslosengeldes, heißt Kürzung der
Arbeitslosenhilfe, heißt Kündigung der paritätischen Finanzierung der
Sozialsysteme. Wenn man das will, dann soll man das sagen und sich nicht hinter
Tarnbegriffen verstecken.“
Anliegen
des Verfassers ist es, den Bürgern mit aller Deutlichkeit zu vergegenwärtigen, dass die Abkehr der Politik von den Prinzipien der Wahrheit, Klarheit
und Kontinuität eine beabsichtige Manipulation zum Ziel hat. Derartiges hat
nichts mit Demokratie zu tun, sondern mit Manipulation. Die Demokratie soll wohl
dazu verkommen, dass man lediglich die Möglichkeit bestehen lässt, über eine Wahl
eine Regierung unblutig zu beseitigen.
Eine gewählte Regierung,
die gegen die genannten Prinzipien permanent verstößt, hat die Legitimität zum Handeln
verloren. Der ständige Verstoß gegen eine bestehende Verfassung ist ein
untrüglicher Beweis.
Dem
potenziellen Wähler soll dieser Kommentar verdeutlichen, dass eine Wahlverweigerung nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Die Mitbürger sollten
ihrem Willen dadurch Ausdruck verleihen, dass sie nicht eine Partei wählen,
welche den Prinzipien wie Wahrheit, Klarheit und Kontinuität keine Beachtung
schenken und die bewusst gegen eine Verfassung verstößt.
Dieses
beinhaltet selbstverständlich die Notwendigkeit, die Aussagen und Handlungen
der Regierungen nachzuvollziehen, und von der Meinung abzukommen, dass gewisse
Sachzwänge vom Himmel gefallen sind. Derartiges bedarf jedoch korrekter
Informationen und auch die Bereitschaft zur Diskussion. Es kann aber nicht
sein, dass viele Mitbürger ihre ureigendsten Interessen nicht vertreten und
offensichtlich das Denken Pferden überlassen, da diese einen größeren Kopf
haben. Der Bürger muss endlich verstehen, dass im Prinzip jegliches politische
Handeln mit der Vertretung von Interessen in Beziehung zu setzen ist. Dieses
führt teilweise zu absurden Argumenten, um zu suggerieren, dass eine Partei die
Interessen aller Mitbürger und aller Schichten vertritt.
Abschließend erlaubt sich
der Verfasser den Hinweis darauf, dass es sich um eine Binsenweisheit handelt,
dass ein Volk in einer Demokratie die Regierung bekommt, die sie verdient. Dieses
gilt erst recht dann, wenn Regierende die Demokratie als „gelenkte Demokratie“
verstanden wissen wollen.
Junge
Welt dokumentiert die Rede, die Oskar Lafontaine am 30. August 2005 vor den
Montagsdemonstranten in Leipzig gehalten hat.
(1)http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_4180/
(2)http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3021/
(3)http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3473/
http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/penner-und-gammler
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