Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
"O
Gilgamesh, es gab bisher
Noch niemals
einen, der das verlangte,
Noch keinen,
der durchmaß des Berges Innere:
Zwölf
Doppelstunden dehnt er sich aus,
Dicht ist die
Dunkelheit, es gibt kein Licht -
Gehst du
hinein, findest du nie mehr heraus!"
Vor tausenden von Jahren wurden die Verse des Gilgamesh-Epos auf Tontafeln
verewigt. Sie thematisieren vor allem die Suche des darin
"besungenen" sumerischen Königs nach Unsterblichkeit, nachdem sein
aus Lehm geschaffener und Mensch gewordener Bruder Enkidu einer heimtückischen
Krankheit zum Opfer fiel.
Auch im Roman von Sergej Lebedew, der 2011 auf der Longlist des russischen
Buchpreises "Nazbest" stand, begibt sich der Protagonist auf eine
derart rastlose "Jagd" nach Ewigkeit und Unvergänglichkeit. Auslöser ist
gleichfalls der Tod einer nahestehenden Person. Allerdings setzt der 1981 in
Moskau geborene Autor diese Begrifflichkeiten in einen völlig anderen Kontext.
Denn sein Ich-Erzähler - Lebedews Alter Ego - geht gegen kollektives Vergessen
an. Ein Vergessen um die dunklen Schatten der Vergangenheit, die die staatliche
Erinnerungspolitik gern unter einen Mantel des Schweigens hüllt, und zu der es
bis heute keine nennenswerten historischen Untersuchungen gibt: der Gulag - das
russische Strafgefangenenlager.
Diese dunkle Vergangenheit zeigt sich mehr diffus als offensichtlich, mehr
unterschwellig als manifest in Gestalt des blinden Grundstücksnachbars seiner
Eltern. Der alte Mann, vom Ich-Erzähler als "zweiter Großvater"
bezeichnet, pflegt eine diffizile Beziehung zu dessen Familie und vor allem zu
ihm selbst. Eine permanent spürbare, unheimliche Präsenz geht von seiner scheinbaren
Fürsorge für den kleinen Buben aus, die in Wirklichkeit jedoch eher einer psychologischen
Inbesitznahme gleicht. Über sein Vorleben als Kommandant eines großen
Gefangenenlagers ahnt niemand etwas. "Er lebte, als wolle er der
Aufmerksamkeit des Lebens entgehen, und darin erreichte er eine fast
mönchsgleiche Perfektion." Als er stirbt, der Zeitpunkt des Todes wird von
Lebedew virtuos mit dem Untergang der ehemaligen Union sozialistischer Sowjetrepubliken
verwebt, nimmt der damals Zehnjährige unfreiwillig dessen "Hostie die
Todes" an, an deren Unreinheit er zukünftig ständig zu würgen hat. Doch
gerade sie entfaltet eine unglaubliche Wirkung in seinem Körper. Sein Erinnerungsvermögen
wird sensibilisiert und sein bisheriges Leben erscheint wie eine
Vorherbestimmung. Das "Erbe des Bluts, das Erbe der Erinnerungen, das Erbe
fremden Lebens - alles lechzt nach Worten, sucht nach Sprache, will sich
erfüllen bis zum Schluss, will sich vollenden, erkannt und beweint
werden."
"Im Jammer meines Leibs, in der Trauer meines Herzens,
In Kälte und Hitze, in Dunkelheit und Finsternis
In Seufzen und im Klagen - ich gehe hinein!
Öffne mir jetzt das Tor des Berges."
(Gilgamesh an den Skorpionmensch)
Jahre später, Lebedews Protagonist arbeitet mittlerweile als Geologe und
erbt überraschend die Datscha des alten Mannes, macht er sich auf die Suche
nach dem verborgenen ehemaligen Leben seines "zweiten Großvaters". Erste
Hinweise ergeben sich aus Briefen und diversen "Reliquien", die er in
einer früher ständig sorgsam verschlossen Schublade findet. Entschlossen
betritt er den "Pfad, der ins Unbekannte führte, dunkel und kühl". Er
reist in eine düstere Region, in eine namentlich nicht benannte Stadt nördlich
des Polarkreises, mit dem Ziel, Antworten auf eine Reihe von Fragen zu finden.
Auch wenn einige versteckte Andeutungen auf Kirowsk im Oblast Murmansk
hindeuten, so steht dieser Ort letztendlich nur stellvertretend für eine Reihe anderer
in der Zeit des Gulags entstandener Ansiedlungen, wie zum Beispiel Workuta,
Norilsk oder Inta. Orte, die auf menschlichen Knochen gegründet wurden, mit einem
"Loch, durch das Menschen verschwinden. (...) Diese Menschen - der Rest
einer längst verschwundenen Generation, aus der sie entfernt wurden - hat man
in die stickige Finsternis der Erde getrieben, als seien sie ein veraltetes
Wort, eine vergessene Wortart. Für sie gibt es weder einen Platz in der Sprache
noch in der Welt" - Menschen, die den Himmel auf ihren Schultern tragen.
"Die Sprache lebt von dem, was durch sie gesagt werden muss."
Sergej Lebedews Diktion und sein Wortschatz, der von Franziska Zwerg
wunderbar ins Deutsche übertragen wurde, ist unglaublich reich und
wortgewaltig. Er fungiert, um erneut das Epos Gilgamesh heranzuziehen, als
Skorpionmensch. Tief dringt er mit seinem literarischen Stachel ins Innere des
Lesers ein, reizt und wühlt es auf. Sein Erstling erschüttert, klagt an,
erinnert und mahnt, und dies ganz ohne schulmeisterliche Attitüden. "Der
Himmel auf ihren Schultern" entpuppt sich als tiefenpsychologischer Roman,
der beinahe kindlich unbedarft beginnt, apokalyptisch-real weiterführt, um
letztendlich nahezu metaphorisch in einer Phantasmagorie auszuklingen. Der Text
des russischen Autors liest sich "wie ein Denkmal, wie eine Klagemauer,
wenn die Toten und Trauernden sich nirgendwo treffen können als an der Mauer
der Worte, die Tote und Lebende vereint." In beinahe jeder Zeile ist die
"bedrohliche Anwesenheit der schattenreichen Gebiete der Vergangenheit,
die vom Licht des Bewusstseins unberührt geblieben sind", zu spüren.
Lebedew holt eine Epoche ans Licht, die auf den Grund des Gedächtnisses
hinabgesunken ist. Dabei scheut er sich nicht, in "das Innere von tausend
Kehlen" hinabzusteigen. "Ich war zu einer Rückwärtsbewegung geworden,
zum Rückwärtsgang der Zeit, war zusammengepresst und herausgeschleudert
worden". Die Worte des russischen Autors öffnen der Erinnerung das Tor und
schließen letztendlich den Kreis, so dass sich Lebende und Tote treffen können und
seine "Wärme war ihre Wärme geworden".
Fazit: Sergej Lebedew gelingt mit seinem Debüt ein großartiger Roman. "Der
Himmel auf ihren Schultern" gestaltet sich als nachhaltige
Erinnerungslandschaft, als eindrucksvolle literarische Aufarbeitung der
totalitären Vergangenheit, die auf unaufdringlich-dringliche Art und Weise
Bilder im Kopf des Lesers erzeugt, die auch nach dem Zuschlagen der letzten
Seite lange und intensiv nachklingen.
Ein Buch, das man gelesen haben sollte!
Sergej Lebedew
Der
Himmel auf ihren Schultern
Aus
dem Russischen von Franziska Zwerg
Titel
der Originalausgabe: "Предел
забвения" ("Predel zabvenija")
S.
Fischer Verlag (Februar 2013)
332
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3100425103
ISBN-13:
978-3100425102
Preis:
19,99 EUR
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