Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
Wissen Sie was Kryptomnesie ist? Seit dem unrühmlichen
Abgang unseres ehemaligen Bundesverteidigungsministers mit dem adligen
Namenszusatz sollte man sich dieses Substantiv merken, denn die Kette der in
der Öffentlichkeit bekanntgewordenen Fälle aberkannter Doktortitel reißt nicht
ab. Vielleicht aber verdächtigt man diese Menschen zu Unrecht. Denn eben jenes
kryptische, für die meisten unverständliche Wort aus der Psychologie, wörtlich
heißt es "vergessene Erinnerung", bezeichnet den Umstand, dass man
von einem anderen etwas liest oder hört, anschließend auf genau dieselbe Idee
kommt, inzwischen aber vergessen hat, dass sie von einem anderen stammt.
Doch nicht nur um vergessene Erinnerungen geht es in dem
Werk des niederländischen Professors für Psychologiegeschichte an der
Universität Groningen, sondern sein "Buch des Vergessens" ist ein
Streifzug durch unterschiedlichste Bereiche der "verschlossenen Türen
unseres Geistes". Wodurch vergessen wir und warum vergessen wir? Sind wir
unseren neurologischen und physiologischen Verdrahtungen wehrlos ausgeliefert
oder haben wir ab und an doch noch ein Wörtchen mitzureden? Welche Schicksale
haben verdrängte Erinnerungen - oder wo halten sie sich auf? Existiert so etwas
wie "Verdrängen" überhaupt? Warum haben Porträts und Fotos die
Eigenschaft, sich vor die Erinnerung zu schieben? Warum haben wir ein so
schlechtes Gedächtnis für Träume? Was läuft schief im Gehirn eines Menschen,
der sich keine Gesichter merken kann? Oder warum verfügt jemand mit dem
Korsakow-Syndrom zwar noch über einen Teil seines Fachwissens, hat aber
vergessen, was er vor fünf Minuten gesagt hat?
Douwe Draaismas Buch ist das Ergebnis seiner Forschungen
und Auseinandersetzungen, Erinnern und Vergessen nicht als zwei separat
verlaufende Stränge zu betrachten, sondern sie in einen Kontext zu bringen. Auf
diesem Weg beschreitet er einen großen Bogen. Er beginnt mit dem Vergessen im
autobiografischen Gedächtnis, das man sich ähnlich einer Zimmerflucht
vorstellen muss, wo sich erst die Tür, die vor einem liegt, öffnet, wenn die
Tür hinter einem geschlossen ist. Der Autor betrachtet anhand einiger zum Teil
auch populärer Fallbeispiele, dass gerade pathologische Formen des Vergessens
zu unerwarteten Erkenntnissen bei Gedächtnisprozessen führen können und wagt
den Versuch, "die langen Wurzeln heutiger Auffassungen über Vergessen
aufzuzeigen". Der wichtigste Leitfaden jedoch, der sich durch das gesamte
Buch zieht, beinhaltet den Punkt, "dass im Denken über das Vergessen
sichtbar wird, was wir von unseren Erinnerungen erhoffen oder befürchten.
Erinnerungen", so Draaisma, "haben die beunruhigende Fähigkeit,
nachträglich ihre Gestalt zu verändern."
Auch wenn Douwe Draaisma überwiegend Neurologen,
Psychiater, Psychologen und andere Vertreter der Wissenschaften des Gedächtnis
zu Wort kommen lässt, ist dieses Buch keine schwer verständliche Abhandlung
eines hochkomplexen wissenschaftlichen Themas. Charmant und unterhaltsam
aufbereitet, gut lesbar und verständlich erklärent, gestaltet sich die Lektüre
dieses populärwissenschaftlichen Werkes als Gewinn auch und gerade für den
interessierten Laien. Der Niederländer versteht auf nonchalante Art gerade das
Niemandsland zwischen Wissenschaft und Introspektion gekonnt zu durchfahren.
Denn selbst wenn viele Antworten über das Wie und Warum des Vergessens
geliefert wurden, so bleibt letztendlich noch immer ein "prekärer Abstand
zwischen unserem theoretischen Wissen über das Gedächtnis und dem, was wir
persönlich mit unserem Gedächtnis erleben." Hier hält er es wie der
Schweizer Schriftsteller Max Frisch, der zwischen seinem 55. und 60. Lebensjahr
ab und zu eine Liste mit bohrenden Fragen in sein Tagebuch aufnahm, sie aber
nie beantwortete. Douwe Draaisma hat in seinem Schlusskapitel gleichfalls
einige, vielleicht sogar unbequeme Fragen zusammentragen. Nun bleibt es beim
Leser dieses wunderbaren Buches, sie ganz für sich persönlich zu beantworten.
Douwe
Draaisma
Das
Buch des Vergessens
Warum
Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern
Aus
dem Niederländischen von Verena Kiefer
Titel
der Originalausgabe: "Vergeetboek"
Galiani
Verlag, Berlin (September 2012)
352
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3869710616
ISBN-13:
978-3869710617
Preis:
19,99 EUR
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