Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
Stellen Sie sich selbst einmal im Tempus Futur 2 vor. Futur 2? Da war doch
etwas vor langer Zeit, werden Sie sich jetzt grübelnd fragen und versuchen,
verschüttetes Schulwissen mühsam an die Oberfläche zu holen. Diese sehr selten
benutzte Zeitform der deutschen Grammatik, deren Bildung zudem gar nicht so
einfach ist, spielt im Buch von Harald Welzer eine nicht unwesentliche Rolle.
Denn die vollendete Zukunft, wie sie auch noch genannt wird, verändert beim
Imaginieren Wertigkeiten. "Vieles von dem, was im einfachen Futur als
unbequem und lästig erscheint, wird im Futur 2 plötzlich interessant und
attraktiv.", ist sich der Direktor von FUTURZWEI., der Stiftung Zukunftsfähigkeit
in Berlin, sicher. "Wer werde ich gewesen sein?" ist ein typischer
Satz in dieser Zeitform. Bereits wenn man diese Frage ausgesprochen hat, fängt
man an zu überlegen, wie man gut gewesen sein wird. Vielleicht rekonstruiert
man auch den Weg, den man zurückgelegt haben muss, um dorthin gelangt zu sein.
Das nennt man neudeutsch dann übrigens "backcasting" (die
Altmodischen unter uns dürfen auch "vorerinnern" dazu sagen).
Nun fragen Sie sich sicher, wozu das Ganze? Doch in dem - und das darf vorab
verraten werden - großartigen Buch des Sozialpsychologen spielt gerade dieses
"Futur-zwei-Denken" eine nicht unerhebliche Rolle. "Jeder
Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Modell enthält einen Vorgriff auf
einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird. Und genau aus diesem
Vorentwurf eines künftigen Zustands speisen sich Motive und Energien - aus dem
Wunsch, einen anderen Zustand zu erreichen als den gegebenen." Und genau
das möchte Harald Welzer beim Leser seiner "Anleitung zum Widerstand"
erreichen. Denn unsere derzeitige expansive Moderne steuert geradewegs in eine
Sackgasse hinein und die "Landkarte der nachhaltigen Moderne lässt sich
nicht durch den Satellitenblick von Google-Earth abbilden, sondern muss durch
tastende Schritte in eine andere Praxis sukzessive ergangen werden." Die
derzeitige Politik jedenfalls, mit ihrem Übergang in einen restaurativen
Illusionismus, der kein Projekt mehr kennt, das über sich selbst hinausweist,
ist verhängnisvoll. "Handlungsfähig wäre sie nur, wenn sie noch etwas zu
gestalten vorhätte, aber dafür müsste sie eine Vorstellung von einer
wünschbaren Zukunft haben. Eine wünschbare Vergangenheit reicht nicht.",
so der Autor.
Welzers Buch offenbart einen auf hohem Niveau geschriebenen, lohnenswert
anstrengenden, hochintelligenten, informativen und zum Nachdenken anregenden
Inhalt, der unzweifelhaft ein Verweis auf das kantische Programm des
"Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit"
beinhaltet. Der Text des 1958 Geborenen hat zweifelsohne das Zeug, unseren
Tunnelblick zu therapieren und die dicht gewebte mediale Benutzeroberfläche,
die unser tägliches Tun und Handeln steuert, so zu durchbrechen, dass wir das
zweifelsohne auf breiter Basis abhanden gekommene Unterscheidungsvermögen wiedergewinnen.
Sein Werk zeigt auf wie man "in diesem geheimnislosen Universum
jederzeitiger Bedürfnisbefriedigung wieder Autonomie und Zukunft entdecken
kann. Wie man nicht immer schon angekommen ist, sondern sich auf den Weg macht.
Wie nicht schon alles fix und fertig ist, sondern gefunden werden muss. Wie man
nicht mehr Produkt ist, sondern Gestalter. Mit einem Wort: wenn man eine
Geschichte über sich zu erzählen beginnt, in der man vorkommt." Der Autor
weist auf Notausgänge, schmale Ritzen, Löcher und Durchblicke hin, die sich
letztendlich zu Ausgängen erweitern und ausbauen lassen. Seine Utopie des 21.
Jahrhunderts hat dabei keineswegs etwas mit Ökodiktatur zu tun, sondern er
plädiert dafür, dass sie den Weg der Expansion verlässt, um den Pfad der Reduktion
zu beschreiten: "nicht Effizienz, sondern Achtsamkeit, nicht
Schnelligkeit, sondern Genauigkeit, nicht Weitermachen, sondern
Innehalten". Oder kurz und knapp: Zivilisierung durch weniger.
Fazit: "Selbst denken" entpuppt sich als wertvolle Anregung zur
Erlangung eines intellektuellen aufgerüsteten Durchblicks, als Wegweiser zur
Emanzipation von der Unterschiedslosigkeit alles Verfügbaren sowie als
tiefgreifende und exzellente "Anleitung zum Widerstand":
"Widerstand gegen die physische Zerstörung der künftigen
Überlebensgrundlagen, gegen den Extraktivismus, Widerstand aber auch gegen die
Okkupation des Sozialen. Widerstand gegen die freiwillige Hingabe der Freiheit.
Wiederstand gegen die Dummheit. Widerstand gegen die Verführbarkeit seiner
selbst, leichthin zu sagen: 'Ist ja egal, es kommt doch auf mich nicht
an.'" Ein ausgezeichnetes Buch, das man zunächst einmal gelesen haben
sollte, um hernach seine eigene Bedürfnisbefriedigung kritisch zu hinterfragen,
und letztendlich seine Handlungsmaxime (vielleicht sogar radikal) umzustellen.
Sprich: Widerstand gegen sich selbst und "gegen die Scheinattraktivität
des weiteren Aufenthalts in der Komfortzone." Denn eines ist Fakt:
"Das gute Leben gibt es nicht umsonst" und Werte "verändern nicht
die Praxis, es ist eine veränderte Praxis, die Werte verändert."
Harald Welzer
Selbst denken. Eine Anleitung zum
Widerstand
S.
Fischer Verlag (März 2013)
329
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3100894359
ISBN-13:
978-3100894359
Preis:
19,99 EUR
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