Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
"Wenn Sie einen Schriftsteller lesen, der keine Nachtseite hat, so
handelt es sich um leichte Kost." Diesen Satz prägte der italienische Autor
Giorgio Manganelli und fast scheint es, dass er damit den in Chile geborenen,
in Mexiko aufgewachsenen und in Spanien zu literarischem Weltruhm gelangten
Roberto Bolaño meinte. Nachtseiten konnte Bolaño wohl einige verzeichnen, und
schenkt man den Legenden über den 2003 mit nur fünfzig Jahren verstorbenen
Autor Glauben, so hat er sich gewissermaßen in der Stunde seines Todes in die
unbestrittene Leitfigur der jüngeren lateinamerikanischen Literatur verwandelt.
Er soll unter Pinochet im Gefängnis gesessen, in den siebziger Jahren in
Mexikos Hauptstadt ein wildes Leben zwischen Drogen und literarischer
Avantgarde geführt und nach seiner Übersiedlung nach Spanien von der Hand in
den Mund gelebt haben. Auch das Bild eines gefährlichen, Gewalt verherrlichenden
und ein nihilistisches Weltbild vermittelnden Menschen prägte er.
Ein bisschen Wahrheit ist wohl, wie bei allen Legenden und Mythen, immer
vorhanden. Vor allem in seinem mit dem höchsten lateinamerikanischen
Literaturpreis belohnten Roman "Die wilden Detektive" kann man diesem
Mythos auf fast jeder Seite begegnen. Doch auch die anderen Erzählungen Bolaños
bevölkern fanatische, kompromisslose, gleichzeitig aber auch verzweifelte und
am Rande des Suizids stehende Helden, die sicherlich untrügliche Wesenszüge des
Autors tragen, aber trotzdem viele surrealistische Elemente beinhalten.
Sicher konnte man sich bei Bolaño nie sein, aber zweifelsohne zeichneten
ihn drei wesentliche Charakterzüge aus: sein Witz, seine Unerschrockenheit und
seine überwältigende Liebenswürdigkeit.
Zehn Jahre nach seinem Tod wird nun ein "neuer" Roman
veröffentlicht, an dem Bolaño fast zwanzig Jahre gearbeitet hat. Im Vorwort
erklärt Juan Antonio Masoliver Ródenas, ehemaliger Professor für spanische und
lateinamerikanische Literatur an der Universitiy of Westminster London, Autor
und langjähriger Literaturkritiker, dass es sich bei "Die Nöte des wahren
Polizisten" zwar um einen unabgeschlossenen, aber keinen unvollständigen
Roman handelt und die aktive Beteiligung des Lesers, "der durch sein Lesen
Mitschöpfer des Werkes ist", wichtig sei. Dies zeichnet unzweifelhaft alle
Bücher Bolaños aus. Leicht hat es der Autor seinem Leser noch nie gemacht.
Seine Werke generieren schon immer Labyrinthe und Wüsten, in denen man sich
schnell verirren, ja, "umkommen" kann. Doch dieses Buch, an dessen
romanesker Handlung kein Zweifel besteht, trägt deutlich mehr Zeichen einer
Skizze oder Studie. Es erscheint einfach zu unfertig, als dass es die
Bezeichnung Roman tragen sollte. Sein Charakter der Vorläufigkeit ist in jedem
der fünf Kapitel (Der Fall der Berliner Mauer / Amalfitano und Padilla / Rosa
Amalfitano / J.M.G. Arcimboldi / Sonoras Mörder) deutlich zu spüren. Einen
roten Faden wird man vollständig vermissen.
Erneut begegnet man dem linksintellektuellen Literaturwissenschaftler
Amalfitano und dem Schriftsteller Arcimboldi in der mexikanischen Wüstenstadt
Santa Teresa, die dem ein oder anderen Leser bereits aus "2666"
bekannt sein dürften. Hier allerdings muss Amalfitano mit seiner Teenager-Tochter
Rosa wegen einer homosexuellen Affäre Barcelona verlassen. Doch in ihrer neuen
Heimat kommen sie gleichfalls nicht zur Ruhe. Sie werden von der Polizei
verfolgt. Sein ehemaliger Liebhaber Padilla wiederum schreibt Amalfitano in
seinen Briefen von einem Romanprojekt mit dem Titel "Der Gott der
Homosexuellen". Zudem ist er an Aids erkrankt. Eine Freundin mit Namen
Elisa, die neuerdings um ihn ist, verkörpert dabei offensichtlich den Tod.
Sexualität, Gewalt, Liebe, Entwurzelung, Einsamkeit und Brüche, die dunkelsten
Bezirke des Menschseins, sind wiederum kennzeichnendes Element des
literarischen Stils Bolaños. Amalfitano fungiert dabei als
"Detektiv", "der das Zentrum der metaliterarischen Dimension des
Romans verkörpert" und Padilla als der offensichtliche Protagonist. Doch
ein Zusammenlaufen der Fäden in diesen beiden Personen, ihre erklärenden und
verbindenden Parts, mögen sie auch noch so versteckt enthalten sein, vermisst
man. Das Falsche und Authentische, das Ernste und Verspielte, das wirkliche
Werk und sein Schatten, diese so kennzeichnenden Eigenschaften Bolaños
Schreibens, die sich umarmen und gemeinsam in Richtung Zerstörung marschieren,
sind nur ansatzweise zu entdecken. Zu groß erscheinen die "Rätsel, die,
mit Kreide auf die Stirn geschrieben, ihre eigenen Antworten mit sich
herumtrugen." Das Buch erinnert in seiner Unfertigkeit eher an einen
"Steinbruch" für das zu errichtende, offensichtlich monumentale
Hauptwerk.
Fazit: "Bücher sind Wege, die nirgendwohin führen, auf die man sich
aber dennoch begeben muss, um sich zu verirren und wieder zu finden oder um
etwas zu finden, was auch immer, ein Buch, eine Geste, einen verlorenen
Gegenstand, irgendetwas, vielleicht eine Methode, mit etwas Glück: das Neue,
das, was immer schon da war.", schrieb der Autor in seinem hellsichtigen
Essay "Literatur+Krankheit=Krankheit". Geistreich, voller Esprit,
messerscharf und zuweilen unbändig komisch, so war Roberto Bolaño zu Lebzeiten,
ein Realist, einer, der die Wirklichkeit hinter den Tatsachen suchte und beschrieb.
Ihn zu lesen ist ein intellektuelles Vergnügen, ein Erlebnis, aber auch ein
Experiment und ein Schauder, weil es keinen typischen Bolaño-Ton gibt, weil er
formale Offenheit praktiziert, erwartete Begegnungen stets ausbleiben und klug
ausgelegte Spuren ins Nichts führen. "Die Nöte des wahren Polizisten"
hinterlässt allerdings einen zwiespältigen Eindruck. Aus dem Fragment hätte
vielleicht etwas Großes werden können. Aber vielleicht fehlte mir auch nur
genug Tapferkeit. Denn wie schreibt der Autor in persona Amalfitanos:
"Dass die wichtigste Lektion der Literatur die Tapferkeit war, eine
seltene Tapferkeit, wie ein steinerner Brunnen inmitten einer Seelandschaft,
eine Tapferkeit, vergleichbar mit einem Strudel und einem Spiegel. Dass Lesen
und erinnern lernt. Dass die Erinnerung die Liebe war." Und weiter:
"Dass die Schriftsteller, die gelesen wurden, die Seele der Steine
verließen, wo sie nach dem Tod lebten, und sich in der Seele der Leser wie in
einem weichen Gefängnis niederließen, dass dieses Gefängnis sich aber dann
blähte und explodierte." Leider konnte ich diese literarische Explosion in
"Die Nöte des wahren Polizisten" nicht wahrnehmen.
Roberto Bolaño
Die Nöte des wahren Polizisten
Aus dem Spanischen von Christian
Hansen
Titel der Originalausgabe: Los
sinsabores del verfadero policía
Hanser
Verlag (Februar 2013)
272
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3446239731
ISBN-13:
978-3446239739
Preis: 21,90 EUR
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