Erschienen in Ausgabe: No. 38 (4/2009) | Letzte Änderung: 05.09.11 |
von Stefan Groß
Mittlerweile sind sie zu geflügelten
Worte geworden, die Begriffe Einsamkeit und Entsagung bei Goethe, nicht zuletzt
und dank der umfangreichen Forschungen des Berliner Literaturprofessors Ernst
Osterkamp, der mit seiner Habilitationsschrift, Im Buchstabenbilde, Studien
zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, bereits einen wesentlichen
Beitrag zur Erforschung des späten Goethes leistete. Aber auch Osterkamps
jüngste Beiträge zum Begriff des Klassischen bei Goethe und Schiller werden für
Aufsehen sorgen.
Mit seinem kleinen Essay, Einsamkeit, Über ein Problem in Leben und Werk des späten Goethe hat Osterkamp
2008 wiederum einen tiefergreifenden Aufsatz zum Spätwerk des Weimarer
Literaten und Wissenschaftlers veröffentlicht, der in den Abhandlungen der
Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften
und der Literatur Mainz nunmehr vorliegt.
Johann Wolfgang Goethe – ein
Einsamer? Alles andere assoziiert man mit dem Staatsminister, Dichterfürsten
und Gesellschafter als eben jene Einsamkeit. Doch Osterkamp belehrt eines
anderen. Der gravierende Einschnitt im Leben Goethes, so die These, war der Tod
Schillers 1805, der beim Weimarer Olympier nicht nur eine schwere künstlerische
Krise auslöste, sondern bei dem sich darüber hinaus zugleich das Gefühl
umfassender Verlassenheit einstellte. Nicht nur die Preisaufgaben der
Weimarischen Kunstfreunde wurden eingestellt, auch der Versuch einer Erneuerung
der Kunst aus dem Geist der Antike war nunmehr in unendliche Ferne gerückt.
Schillers Tod läutete einen Paradigmawechsel in Goethes Leben ein, was
zwangsläufig darauf hinauslief, daß sich der ehemalige Stürmer und Dränger
zusehend seiner Zeit widersetzte, dem Zeitgeist und sich, wie Osterkamp betont,
ins Eigene und „Nächste“ zurückzog. Diese unfreiwillige Einsamkeit nimmt
Goethe fortan in sich auf, Entsagung bleibt das zentrale Thema seines weiteren Lebens
und Schaffens.
Der Tod Schillers führte Goethe
geradewegs nicht nur in die Einsamkeit und Entsagung, sondern
veranlaßte den 56-jährigen Dichter auch zu einer Suche oder einem neuen Konzept, wie
diese Einsamkeit produktiv zu bewältigen sei. Zwar fällt bei Osterkamp das Wort
Lebenskrise nicht, es läuft aber alles auf eine solche bei Goethe hinaus, wenn
vom „fundamentalen Wandel“ der „Lebensweise“ gesprochen wird. Zwar war eine
radikale Veränderung der Lebensweise für Goethe unmöglich, möglich ist ihm nur
gewesen, eine Strategie zu finden, durch die der schmerzhafte Verlust des
Geistesfreundes kompensiert werden konnte.
Diese Bewältigungsleistung
Goethes, damit er nicht ins Leere, in die Apathie falle, sieht Osterkamp in
einer Doppelstrategie: „Die eine bestand darin, die Einsamkeit für sich als
eine Existenzform zu akzeptieren, die ihm zugleich den produktiven Widerstand
gegen den Zeitgeist ermöglichte, die andere in der pragmatischen Erledigung des
‚Nächsten’ im Zeichen jener verkürzten Zeithorizonte, die die konkrete
Erfahrung, aber auch die Erwartung des Todes nahelegte – eine Erfahrung und
eine Erwartung, die Goethe zugleich in seiner Resistenz gegenüber politischen
Maximalprogrammen und geschichtsphilosophischen Globalentwürfen bestätigten“
(S. 5).
Gerade jene Verquickung von
produktiver Einsamkeit und pragmatischer Abarbeitung am „Nächsten“ läßt sich
als Charakteristikum der Existenzweise des späten Goethe beschreiben. Die mit
der Einsamkeit einhergehende Abkehr vom Kunstprojekt, auf das Werden und Wesen
der Künste nochmals gestalterisch Eingriff zu nehmen, kulminiert letztendlich in
der Reduktion auf das Eigene, das nichts anderes als das eigene Werk ist.
Goethe wird zum Konservator und Bewahrer seiner selbst, konzentriert und
bündelt die Kräfte auf den Schaffenskreis Weimar und Jena. Mit der Rückkehr ins
Ich verbunden ist die Absage ans Ganze, ans Globale, an den Bildungsoptimismus
der Zeit. Vom Gedanken, auf die „Menschen genetisch zu wirken,“ „die
Entwicklung von Kunst, Literatur und Wissenschaft im Zeichen umfassender
programmatischer Leitlinie und Idealkonzeptionen“ (S. 6) zum Besseren umzubiegen,
ein Projekt, das er mit der Preisaufgaben noch verfolgte, hat er sich ganz
verabschiedet.
Vielmehr zeigt sich Goethes „neue
Lebensweise“ als geistige Isolation gegenüber der eigenen Zeit. Das tragische Bewußtsein,
einer Epoche anzugehören, die nicht mehr die seinige war, hat sich in ihm
verfestigt.
Mit dem Rückzug in die
Innerlichkeit geht auch einher, daß sich der Einsame nicht mehr auf neue,
jüngere Bundesgenossen einzulassen gewillt ist. Neuen Freundschaftsbanden
erteilt er eine klare Absage. Ausgenommen bleiben die Urfreunde Carl Friedrich
Zelter, Wilhelm von Humboldt und (bedingt) Heinrich Meyer, bei denen er in
Zeiten, wo das Schicksal mit ihm hadert, Trost sucht und findet.
Daher verwundert er nicht, daß
Goethe zunehmend Abwehrmechanismen aufrichtet, Strategien der Einsamkeit
entwickelt, die es ihm ermöglichen, schaler Geselligkeit und dem langweilig-amüsiertem
Hofleben zu entfliehen. Er sucht Rückzugsmöglichkeiten, um aus der empirischen
Tatsache des Alleingelassenseins eine produktive Existenzweise zu machen. Ein
Ort dieses Zurückgezogenseins wird für ihn die nahegelegene Universitätsstadt
Jena, wenngleich er anfangs in Jena noch zwischen der Einsamkeit als quälendem
Schicksal und ersehnter Zurückgezogenheit schwangt. Erst 1816 wird er die ihn
quälende Ambivalenz restlos besiegen.
Goethes Einsamkeit hat, wie
Osterkamp in einem zweiten Teil seines Essays nachweist,
nachdrücklich auf sein schriftstellerisches Spätwerk gewirkt. Die Poesie der
Einsamkeit wurde nunmehr für die behandelten Stoffe zentral. Es sind die großen
Einsamen, die fortan ins Zentrum seiner Werke rücken, in Pandora, in Die
Wahlverwandtschaften, im Faust II,
in der Marienbader Elegie, in Wilhelm Meisters Wanderjahre.
Melancholische Selbstzerrüttung, die Reduktion auf das leidende Ich, der Bruch
mit der nicht mehr zu synthetisierenden Welt oder Moderne, die
Unversöhnlichkeit mit dem Gegenwärtigen – all dies wird jetzt zum Thema. Denn: „Das
Schöne kehrt nie mehr in die Welt zurück […], der Repräsentant des
sentimentalisch-selbstreflexiven Menschen der Moderne bleibt auf immer einsam
in der von Gewalt- und Nützlichkeit geprägten Wirklichkeit zurück“ (S. 11). An
die Stelle eines ästhetischen Erziehungsprojektes, mit dessen Hilfe die
gesellschaftliche Wirklichkeit neu zu formieren sei, tritt das unvollendete
Drama Pandora als Zeichen der
poetischen Erfahrung der Einsamkeit.
Die nunmehr selbst gewählte
Einsamkeit Goethes beeinflußte aber auch den Charakter des Spätwerks, da der
Dichter nunmehr unverhohlen Distanz gegenüber seinem Publikum nahm. Die
künstlerische Freiheit, die sich aus der Einsamkeit heraus entwickelte, wurde
so zu einer Befreiung vom angedienten Stil und Pathos des Zeitgeistes und der
literarischen Form, wie diesem zu entsprechen und genügen zu sei. „Wer dem
Publikum dient, ist ein armes Tier; / Er quält sich ab, niemand bedankt sich
dafür“, so formuliert es der alte Goethe.
Wie Osterkamp betont, ist es
diese sich dem Konzept der Einsamkeit verdankende „formale Radikalität“, die
das Spätwerk auszeichnet und maßgeblich bestimmt. „Überall in seinem Alterswerk
polt Goethe das Gefühl der geistigen Isolation und der Verlassenheit vom
Zeitgeist in eine produktive Distanz zum zeitgenössischen Publikum um, die ihm
seine provozierende Altersradikalität in allen künstlerischen Formfragen
erlaubt“ (S. 14). So nimmt es auch nicht wunder, daß Goethes späten Werken der
Erfolg beim Publikum versagt blieb, das Konzept der Einsamkeit ließ ihn auch in
den Augen seines Publikums einsam werden. Poesie der Einsamkeit allenthalben.
Mit der Isolierung Goethes einher
ging sein Verhältnis zum eigenen Werk. Er selbst befand sich nicht nur für historisch,
sondern auch die Beschäftigung mit dem eigenen Werk wurde museal. Zunehmend
tritt der Archivar und Sammler Goethe auf den Plan, der sich – gemeinsam mit
Heinrich Meyer – Gattungsfragen, kunsthistorischen Rubrikenzuordnungen, wie
Osterkamp schon Im Buchstabenbilde
hervorhob, zuwandte. „Der Klassizismus trat damit endgültig in seine
retrospektive Phase ein“ (S. 14).
Das Zeitalter des Klassischen,
die Zeit Winckelmanns wird zugunsten von Historisierung und Musealisierung
eingetauscht, ein Procedere, das 1805, spätestens 1809 begann. Konsequente
Historisierung der eigenen Persönlichkeit und der Kunst waren die bewußten und
beabsichtigten Folgen. Diese „schriftstellerische Selbsthistorisierung aber hob
die Einsamkeit des Dichters nicht auf, sondern begründete und stabilisierte sie
im Medium der Selbstreflexion“ (S. 15). Zu dieser Historisierung zählt auch der
schnelle Abschluß seiner 13 Bände umfassenden Werkausgabe, die dann zwischen
1806-1810 bei Cotta erschien. Zu retten, was zu retten ist, dies ist Goethes
Maxime als Konservator, dies die konsequente Folge seiner Arbeit am „Nächsten“,
am eigenen Werk. Der Vergänglichkeit und Vergeßlichkeit des Zeitgeistes galt es
das Persönliche, das Erschaffene zu entziehen, es den Wogen des Zeitgeistes zu
entreißen, um ihm unabhängig von aller Zeit Gültigkeit zu sichern – pragmatische
Sicherung seiner Lebensverhältnisse.
Kurzum: Goethes Doppelstrategie
der Einsamkeit, der Rückzug auf das „Nächste“ und Innerste“ verschaffte ihm den
Freiraum, sich aus der öffentlich-politischen Sphäre, der großen Politik des
Weimarer Hofes, herauszumanövrieren, um Verantwortung für das „Nächste“ übernehmen
zu können. Diese Strategie, auf das „Nächste“ oder Naheliegende seine Kräfte zu
konzentrieren, hat er dann auch in Zeiten politischer Unruhen durchgehalten. Den
Kampf ums Ganze überließ er den jeweiligen Ministern des kleinen Herzogtums, insbesondere
Voigt, der sich gegenüber den wichtigsten Sorgen für Gegenwart und Zukunft zu
verantworten hatte. Goethe seinerseits richtete, so nach der Niederlage gegen
die Franzosen 1806, sein Interesse auf jene pragmatische Tätigkeit „im lokalen
wie temporalen Nahbereich im Sinne einer konkreten Verantwortung für dasjenige,
was ihm anvertraut war“ (S. 20).
Ernst Osterkamp, Einsamkeit, Über ein Problem in Leben und Werk des
späten Goethe, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse,
Jahrgang 2008, Nr. 1, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz,
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008, 20 Seiten, ISBN: 978-3-515-09198-5.
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