Erschienen in Ausgabe: No 86 (04/2013) | Letzte Änderung: 04.04.13 |
von Nora Knobloch
Yasmin S. (geb. 1989) lebt bei ihrer Familie in Kairo und
studiert Mass Communication. Die 22-jährige geht fast täglich auf den Tahrir
Platz, um sich dort den tausenden Demonstranten anzuschließen, die dort Tag um
Tag unermüdlich für ihre Meinungen und Rechte aufstehen und einstehen. Der
tägliche Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Für Demokratie.
Von dem Engagement und der Empörung, von der Stimmung, die
zusammenschweißt und täglich Angst und Mut macht, der revolutionären Kraft in
Kopf und Körper, können wir uns in der westlichen Welt größtenteils kaum ein
Bild machen.
Der Tahrir-Platz wurde vor gut 2 Jahren, dem 25.1.2011 (auch
schlagwortartig "25th" genannt) zum Sinnbild des arabischen
Frühlings. Der 28.1.2011, als sich die Wellen der Revolution zu einem ersten
Höhepunkt auftürmten, wird auch als "Tag des Zorns" bezeichnet; die
Empörung der Bevölkerung richtete sich gegen den damals amtierenden ägyptischen
Präsidenten Muhammad Husni Mubarak, welcher am 11.2.2011 zum Rücktritt
gezwungen wurde. Es deutet jedoch vieles darauf hin, das sich seitdem die
politische, soziale und wirtschaftliche Situation im Sinne der Demonstranten nicht
gebessert hat - die Proteste dauern an und richten sich aktuell gegen die
Herrschaft des amtierenden, mit 51,7% gewählten ägyptischen Präsidenten und
Muslimbruder Muhammed Mursi. Die Geschehnisse des 2. Jahrestages der
ägyptischen Revolution für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit waren von
gewalttätigen Auseinandersetzungen, Verletzten und Toten gekennzeichnet. Nun
stellt sich die Frage, wie es um die Forderungen der Demonstranten steht und
vor allem: um die Demonstranten selbst und die ägyptische Bevölkerung. Ich habe
Yasmin dazu interviewt.
Yasmin,
wie hast Du den Jahrestag des Arabischen Frühlings am 25.1.2013 erlebt?
Warst
Du auf dem Tahrir-Platz? Den Medien nach gab es erneut Ausschreitungen und
Gewalt gegen die Demonstranten und viele Verletzte und Tote.
Ich wollte nicht zum Feiern auf den Tahrir-Platz gehen, denn
bis heute gibt es meiner Meinung nach keinen Grund zum Feiern, da keine der
Ziele und Forderungen der Revolution erreicht wurden.
Ich wollte gegen die Situation im Land seit der
Regierungsübernahme von Mursi protestieren.
Leider konnte ich nicht zum Tahrir-Platz fahren, da die
U-Bahn von Demonstranten blockiert wurde und es somit keine Möglichkeit gab,
zum Tahrir-Platz zu kommen.
Die Gewalt, die von Polizisten gegen Demonstranten angewandt
wurde unterscheidet sich nicht von der Gewalt unter Mubarak.
Am Freitag, den 25.Januar, wurden fast 300 Menschen verletzt
und 12 Menschen getötet.
Dies beweist, dass Mursi gelogen hat, als er den Ägyptern
Demokratie, Frieden, Freiheit und Würde versprach.
Die
aktuelle Situation verglichen mit der Ausgangssituation vor 2 Jahren - ich
frage dich als Demonstrantin: Was wurde erreicht?
Vor zwei Jahren forderten alle Demonstranten Nahrung,
Freiheit und gesellschaftliche Gleichstellung.
Meiner Ansicht nach hat sich die Situation verschlimmert, da
keine von diesen Forderungen umgesetzt wurde.
Zur Nahrung: Die Regierung unter Mursi limitierte die Anzahl
an Broten die man kaufen darf, nun darf man nur drei Laibe Brot pro Tag kaufen,
genauso wie in der Sowjet Union vor zwanzig Jahren.
Zur Freiheit: Mursi hat zwei Fernsehsender verboten, viele
Fernsehsender, Sendungen, Journalisten und Politiker verklagt, da diese die
Regierung, Mursi oder die „freedom and justice“- Partei kritisierten.
Im Hinblick auf gesellschaftliche Gleichstellung hat die
Regierung noch keine Höchst- und Mindestlöhne festgelegt.
Einige Menschen in Ägypten verdienen noch immer Millionen
ägyptische Pfund (EGP)im Monat, während andere gerade mal 70 EGP im Monat verdienen (wovon man
etwa 1 Kg Fleisch kaufen kann).
So ist die einzige „Errungenschaft“, dass ein noch
schlimmerer Präsident Mubarak ersetzt hat. Es herrscht noch immer Korruption in
Ägypten, sogar mehr als damals unter Mubarak.
Damals
wie heute gehst du auf den Tahrir-Platz. Haben sich die Gründe, warum du
demonstrieren gehst, in irgendeiner Weise geändert?
Vor zwei Jahren gingen wir auch
wegen Ungerechtigkeit, finanziellen Problemen und für Freiheit auf die Straße,
jedoch dieses Jahr ist es anders. Wir forderten, ein besseres, freiheitlicheres
Land zu werden, stattdessen ist die persönliche Freiheit weiter eingeschränkt
worden, die finanzielle Situation der Menschen ist schlechter und die Menschen
sind täglich stärkeren Repressionen ausgesetzt. Die Ägypter sind sehr wütend
wegen allem und wenn Mursi keine Weise findet, dieser Wut zu begegnen, wird es
in einer Katastrophe enden. Er unterschätzt die Menschen noch mehr als das alte
Regime, daher denke ich, dass die Ägypter sich bald von ihm befreien werden,
wie sie sich auch von Mubarak befreit haben.Das größte und schlimmste Problem ist, dass sich Mursi hinter seiner
Partei („freedom and justice“)und
hinter der Muslimbruderschaft versteckt. Er benutzt die jugendlichen Anhänger
dieser Parteien, um Menschen einzuschüchtern, wie er es mit den Richtern vor
dem Gerichtshof tat – da hielten diese jugendlichen Anhänger die Richter davon
ab, ihre Arbeit auszuführen.
Wie
organisiert ihr euch? Werden Informationen zu kommenden Demos hauptsächlich
über das Internet verbreitet (z.B. via Twitter) und inwiefern gibt es dort
Zensuren?
Seit der Revolution gab es viele
Proteste in Ägypten, die Ägypter kennen den Weg zum Tahrir-Platz und anderen
wichtigen Plätzen in Ägypten gut; sobald sie denken, dass die Regierung eine
falsche Entscheidung getroffen hat oder das ägyptische Volk in irgendeiner
Weise unterdrückt hat, entscheiden sie sich individuell, auf den Tahrir-Platz
zu gehen. Anschließend folgt der Gedankenaustausch über Facebook und Twitter,
danach nutzt die Opposition (mainly rescue front) das Internet, Zeitungen und
TV, um Proteste auf den großen Plätzen Ägyptens anzukündigen.
In den letzten Monaten
demonstrierten die Menschen auf dem Tahrir-Platz und vor dem Etihadeya
Palace (Palast des Präsidenten), damit Mursi ihre Stimmen hört – Mursi jedoch
ignoriert sie.
Bei
der demokratischen Wahl wurde Muhammed Mursi mehrheitlich mit 51,7% zum
Präsidenten gewählt. Warum wählte ihn die Mehrheit?
Ja, es gab eine demokratische
Wahl in Ägypten und leider wurde Mursi gewählt.
Aber diese 51,73% sind nicht
repräsentativ für die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung (Anm.d. Verf.: Offizielle Angabe der Einwohneranzahl Ägyptens aus dem Jahre
2011 ca.82.536.770,
Quelle: https://www.google.de/publicdata).50.996.746 Menschen hatten Wahlrecht und 13 Kandidaten
standen zur Wahl.Ich werde
folgend nur über zwei von ihnen sprechen. Im 1.Wahldurchgang bekam Mursi
5.764.952
Stimmen und Ahmed Shafeeq bekam 5.505.327 Stimmen, womit diese
zwei Kandidaten in den 2. Wahldurchgang kamen.
Das verwirrte die meisten Ägypter, denn nun hatten wir die
Wahl zwischen Ahmed Shafeeq - der unter Mubarak bereits Minister war und wir
wollten niemanden, der Teil vom System Mubaraks war – und Muhammed Mursi, der
ein Führungsmitglied der Muslimbruderschaft und der „freedom and
justice“-Partei ist.
Also bestand die Wählerschaft Mursis zum einen aus den
Menschen, die auf keinen Fall Ahmed Shafeeq wählen wollten, zum anderen aus den
Menschen, die ihn und sein Programm wirklich unterstützten.
Im 2. Wahldurchgang waren 50.958.794
Menschen wahlberechtigt, von diesen gaben jedoch nur 25.577.511 Wähler gültige
Stimmen ab. Hier erhielt Mursi 13.230.131 gültige Stimmen, das entspricht
51.73% der gültig abgegebenen Stimmen, das ist nicht gleichzusetzen mit 51,73%
der wahlberechtigten Ägypter, es ist keineswegs die Mehrheit.
Das alles sind nur Zahlen und Statistiken, aber wenn wir die
Gesamtsituation analysieren wollen, wird es noch drastischer: etwa 26,1% der
ägyptischen Bevölkerung sind Analphabeten und etwa 51,3% leben unterhalb der
Armutsgrenze. Vor den Wahlen verteilte Mursi (und seine zwei Parteien) Öl,
Zucker und andere Lebensmittel, die vor allem für ärmere Menschen schwer zu
bekommen sind; sie sandten mobile medizinische Einrichtungen (Wohnwagen)in die entlegenen Gebiete; sie streuten
Gerüchte via Internet und TV, dass jeder, der nicht wählte, 500 EGP Strafe
zahlen müsse.Zusätzlich sandten sie Einzelne vor jedes Wahllokal, um die Menschen zu
bestechen, für Mursi zu wählen. So passierte es meinem Vater.
Ich denke, es ist unmoralisch, die Armut und das Unwissen
der Menschen zu benutzen, um eine Wahl zu gewinnen; ebenso ist es unmoralisch,
unter dem Deckmantel der Religion zu handeln und Menschen zu bestechen.
Nach all den Lügen, den Bestechungen und der harten Arbeit
ist es wohl armselig, die Präsidentschaftswahl mit nur 13.230.131 Stimmen zu
gewinnen (etwa 11-12% der ägyptischen Bevölkerung), und dies Mehrheitsentscheid
und Demokratie zu nennen.
Menschen
weltweit bewunderten die anfangs größtenteils friedliche Revolution der
Ägypter. Wie kommt es zu der Brutalität zwischen Militär und Demonstranten?
Gibt es eine wachsende Aggression oder Gruppenbildung unter den Demonstranten?
Die Gewalt findet hauptsächlich
zwischen der Polizei und den Demonstranten statt und nicht zwischen der Armee
und den Demonstranten. Die Demonstranten sind von Grund auf friedlich, denn sie
wollen Gerechtigkeit und das Gute für ihr Land, sie wollen nichts zerstören.
Die Demonstranten sind immer friedlich, jedoch manchmal hat die Polizei die
Anordnung, Gewalt gegen sie anzuwenden. Wenn die Polizei diese Anordnung haben-
hauptsächlich, um die Demonstranten zu unterdrücken- fängt sie an, die
Demonstranten zu verfluchen und sie zu schubsen, sodass die Demonstranten
wütend werden und reagieren, indem sie zurück beleidigen oder Steine werfen.
Hier beginnt die Gewalt, jedoch immer wird sie zuerst durch Provokationen von
Seiten der Polizei angestachelt; in den Medien wird dies nie gezeigt, sodass es
wirkt, als hätten die Demonstranten die Auseinandersetzung initiiert.
Andere gewalttätige
Auseinandersetzungen gab es zwischen den Demonstranten und den Milizen Mursis
und seiner Partei - auch hier ist es immer die paramilitärische Miliz Mursis,
von denen die Gewalt ausgeht. Die Demonstranten sind friedlich und auch wenn
ein Einzelner von ihnen unnötigerweise gewalttätig wird, versuchen ihn die
Anderen zu stoppen.Auch wenn ein Demonstrant eine Frau belästigt, bringen ihn die Anderen
zur nächsten Polizeistation.
Was
denkst du über den Vorwurf, dass die Regierung speziell Gruppen von Männern
darauf angesetzt hat, demonstrierende Frauen gezielt zu schänden und zu
vergewaltigen?
Mursi selbst und seine Parteien
(Muslimbruderschaft und die „freedom and justice“-Partei) – sie sind
organisiert und können leicht Mitglieder und Anhänger aus ganz Ägypten
aufrufen, sich an einem bestimmten Platz einzufinden und gegen die
Demonstranten zu kämpfen oder eigene Demonstrationen zu formieren, um Mursi zu
unterstützen. Die Führungspersonen der Parteien rufen ihre Anhänger auf und
transportieren sie in Truppen aus ganz Ägypten mit Bussen zu dem Platz, wo sie
grade gebraucht werden. Anschließend geben die anführenden Personen
Anweisungen, ob gewalttätig oder friedlich oder Mursi unterstützend gehandelt
werden soll – hier beginnt die Gewalt zwischen den Demonstranten und der
Anhängerschaft Mursis. Mursis jugendliche Anhängerschaft wird benutzt, um
Demonstranten vor dem Palast des Präsidenten zu töten, zu vergewaltigen und zu
verprügeln, wie es am 5.Dezember 2012 geschah. An diesem Tag demonstrierten
850.000 Menschen gegen Mursi (nach den Angaben des Ministers für
Kommunikation), zuvor am 3. und 4.12. waren sie friedlich, sie demonstrierten
und kehrten abends nach Hause zurück, ein paar hundert zelteten die Nacht über
vor Ort. Am 5.12. kamen hunderte bewaffnete Milizen Mursis, verprügelten die
Demonstranten und besetzten ihre Zelte, beschuldigten die Demonstranten
sexueller Übergriffe und Drogenmissbrauch; und so startete auch hier die Gewalt
zwischen den Demonstranten und der Anhängerschaft Mursis.
Nach Zeugenaussagen zielten die
Milizen mit Lasern auf Demonstranten, Journalisten und Reporter, sodass diese
aus der Menge heraus geholt werden konnten und dann, wenn männlich gequält,
wenn weiblich belästigt wurden. Manche von ihnen wurden als Geisel genommen,
gewaltsam in den Palast gebracht und dort gequält. An diesem Tag hatte die
Polizei die Anweisung, in keinster Weise einzugreifen. Sie nahm niemanden wegen
Kriminalität oder Waffenbesitz fest, die Polizei verhielt sich parteiisch zu
der von Mursi gesandten Miliz. Wenn die Demonstranten am 3. Und 4. Dezember
gewalttätig gewesen wären, hätten sie es niemals geschafft, solange dort zu
verharren. Die Gewalt begann, als Mursi seine Milizen sandte.
Irgendwelche
Kommentare dazu, dass Mursi begonnen hat, zu euch via Twitter zu sprechen?
In der Tat ist dies eine
unverantwortliche und nicht zu akzeptierende Reaktion eines Präsidenten, denn
Mursi weiß genau, dass nur wenige Menschen in Ägypten Zugang zu Twitter haben.
Indem er durch Twitter spricht, richtet er sich nur an einen bestimmten Teil
der Bevölkerung Ägyptens, er sollte zusätzlich andere Kanäle nutzen, um zu den
Ägyptern zu sprechen, wie TV oder direkter Kontakt, indem er selbst zu den
Menschen geht, wie er es bei seinen Anhängern tat, er sprach mit ihnen auf der
Straße, mit seinen Gegnern tat er dies nie. Ein ernstzunehmender Präsident
sollte sofort Mittel ergreifen, um die Gewalt zu stoppen, und nicht via Twitter
sprechen oder nach ein paar Tagen im TV erscheinen, um eine Ausgangssperre und
das Notstandsgesetz anzukündigen.
Im Übrigen erschien er nur im TV
nach dem Besuch der Delegation zur Aufstands- und Terrorismuskontrolle („riot
and terrorism control“) der amerikanischen Armee;niemand kennt
den genauen Hintergrund dieses Treffens.
Was
wünschen sich deine Freunde und du für die Zukunft von Ägypten?
Wir wünschen uns eine bessere
Zukunft für Ägypten, wir hoffen, dass die drei Forderungen der Revolution
erfüllt werden. Wir wünschen uns, dass alle Ägypter in Frieden miteinander
leben: egal welche Religion, Hautfarbe und ob Mann oder Frau…
Und ich hoffe, Ägypten nutzt all
seine natürlichen und humanen Ressourcen,um ein besseres
Land, ein besserer Ort zu werden.
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