Erschienen in Ausgabe: No 87 (05/2013) | Letzte Änderung: 02.05.13 |
von Jörg Bernhard Bilke
Den Schriftsteller Horst Bienek (1930-1990) aus Gleiwitz in
Oberschlesien traf ich im Spätsommer 1966 in München. Sein Schicksal war mir
damals schon bekannt. Er hatte Gedichtbände veröffentlicht und arbeitete als
Lektor im Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv). Ich war in einer Gruppe von 30
Studenten für zwei Wochen nach München gekommen, um an einem Vorbereitungskurs
für unsere Tätigkeit als Deutschlehrer in Schweden teilzunehmen. Ich traf Horst
Bienek für anderthalb Stunden in einem Café, er war fröhlich und ausgelassen,
die drei Jahre Workuta 1952/55 merkte man ihm nicht an, ich war zwei Jahre
zuvor aus dem Zuchthaus Waldheim zurückgekehrt. Da sagte er fast beiläufig zu
mir: „Waldheim, das war ja, verglichen mit Workuta, nur ein
Sonntagsspaziergang!“ Wer sein Buch gelesen hat, wird ihm zustimmen!
Als Horst Bienek am 7. Dezember 1990 in München starb, stand
er auf dem Gipfel seiner Laufbahn als Schriftsteller. Nach zwei Gedichtbänden
und dem Roman „Die Zelle“ (1968) hatte er in den Jahren 1975/82 einen
Romanzyklus von vier Bänden über seine oberschlesische Heimatstadt Gleiwitz
abgeschlossen, dem mit „Königswald oder Die letzte Geschichte“ (1984) noch ein
fünfter folgen sollte. Davor und daneben waren literarische Essays entstanden
und „Werkstattgespräche mit Schriftstellern“ (1962) und, gegen Ende seines
Lebens, Kindheitserinnerungen aus Oberschlesien.
Diese Leistung ist umso höher zu bewerten, als der Autor
erst 1955 aus dem Straflager Workuta am Eismeer entlassen worden war, wo er die
Jahre 1952/55 als politischer Gefangener hatte zubringen müssen, ständig in der
Angst, zu verhungern oder zu erfrieren. Diese schrecklichen Jahre, die ihn für
sein Leben prägten, blieben freilich bis zuletzt unerzählt! Erst jetzt wurde,
aufgefunden im „Horst-Bienek- Archiv“ der Gottfried-Wilhelm-Leibnitz-Bibliothek
in Hannover, ein schmales Manuskript von kaum 60 Druckseiten publiziert, das in
der Buchfassung den schlichten Titel „Workuta“ trägt.
Der Name „Workuta“ stand für das weitverzweigte Lagersystem
in der Sowjetunion, den „Archipel Gulag“ (Alexander Solschenizyn), in dem von
1929 bis zu Stalins Tod 1953 und darüber hinaus Hunderttausende von
„Klassenfeinden“ ausgebeutet und zu Tode geschunden wurden, falls sie nicht das
„Glück“ hatten, vorher in Moskau erschossen zu werden wie der Rostocker Student
Arno Esch (1928-1951). Das Lager Workuta selbst, im nördlichen Ural jenseits
des Polarkreises gelegen, war zwischen 1938 und 1960 in Betrieb. Dort arbeiteten
70 000 politische Häftlinge und nach 1945 auch deutsche Kriegsgefangene unter
Tage, um die gewaltigen Vorräte an Steinkohle abzubauen. Zur Zarenzeit war der
Plan, dort Kohle zu fördern, aufgegeben worden, weil wegen der unmenschlichen
Arbeitsbedingungen niemand hätte dazu gezwungen werden können, in die Tundra zu
ziehen. Als 1941 von Häftlingen die Eisenbahnstrecke zum Abtransport der
geförderten Kohle gebaut wurde, hieß es, unter jeder Schwelle lägen zwei Tote!
Horst Bienek, der seine Lagererinnerungen tief in sich
vergraben hatte, wurde erst dann wieder auf dieses verschüttete Kapitel seines
Lebens gestoßen, als er während der Leipziger Buchmesse 1990 aus seinem Roman
„Die Zelle“ las und von Ex-Häftlingen gleichen Schicksals, die unter den
Zuhörern saßen, mit Fragen bestürmt wurde, beispielsweise zum Streik im Sommer
1953, der in Schacht 29 ausgebrochen war und grausam niedergeschlagen wurde:
„Ein Mann meldete sich zu Wort. Er war grauhaarig, sein Gesicht etwas gegerbt,
als hätte er lange draußen im Freien gearbeitet. Er stand nicht auf, als er
redete, er wollte wohl in der Masse nicht allzu sichtbar werden. Seine Stimme
zitterte ein wenig. Ich glaube, er sprach zum ersten Mal öffentlich darüber.
Als er geendet hatte, sah ich, dass sein Gesicht nass war. Ich weiß nicht,
hatte er geweint oder war er verschwitzt. Es war still im Saal. Keine wagte,
weiter zu sprechen. Nun stand der Mann doch auf. Er sagte: Sie haben viele
Bücher geschrieben, haben wir gehört. Warum haben Sie nicht über Workuta
geschrieben? Ich schwieg. Ich wusste nicht zu antworten. Diese Frage hatte mir
auch noch keiner gestellt…Ich wusste, jetzt muss ich darüber schreiben.“
Zuvor aber lebte der 1946 aus Oberschlesien vertriebene
Autor zunächst im anhaltinischen Köthen, später in der Russischen Kolonie
Alexandrowka in Potsdam und veröffentlichte erste Gedichte in der Potsdamer
„Tagespost“, weshalb er 1951 von Bertolt Brecht (1898-1956) als
„Meisterschüler“ ins „Berliner Ensemble“ geholt worden war. Jetzt fuhr er täglich mit der S-Bahn von Potsdam
durch den Westsektor nach Ostberlin und wurde am 8. November 1951 von Greifern
des „Ministeriums für Staatssicherheit“, das am 8. Februar 1950 gegründet
worden war, festgenommen und den Russen übergeben, wo ihm in quälenden
Nachtverhören vorgeworfen wurde, für irgendeinen Geheimdienst in Westberlin als
„Spion“ gearbeitet zu haben. Die konkrete Tat, welcher er bezichtigt wurde,
war, ein Potsdamer Telefonbuch, das man jederzeit bei der Post kaufen konnte,
nach Westberlin verbracht und seinem Bekannten Günter Grell (1926-1952)
übergeben zu haben. Dieser Günter Grell stammte selbst aus Potsdam und hatte,
bis zu seiner Flucht nach Westberlin, als jüngster Abgeordneter in der
Ostberliner „Volkskammer“, dem DDR-Parlament, gesessen. Er arbeitete nun
wirklich für einen amerikanischen Geheimdienst, war auch verhaftet, wurde zum
Tode verurteilt und am 26. Juni 1952 in Moskau erschossen.
Die Verurteilung Horst Bieneks erfolgte vier Monate nach der
Verhaftung, am 12. März 1952, durch ein Sowjetisches Militär-Tribunal (SMT).
Obwohl dieser Prozess eine scheindemokratische Veranstaltung war,wurde Horst Bienek noch „bevorzugt“ behandelt
und in einem „Prozess“ vorgeführt. Andere SMT-Verteilte, die er später traf,
hatten nur ein Fernurteil aus Moskau bekommen mit dem Vermerk „25 Jahre“! In
seinem Fall aber saßen an einem langen, mit rotem Tuch bedeckten Tisch drei
Sowjetoffiziere, deren Brust mit Ordensspangen übersät war, an der Wand hing
ein Bild des allmächtigen und unnahbaren Diktators Josef Wissarionowisch Dschughaschwili
(1878-1953), genannt Stalin, der Angeklagte saß auf einem Holzstuhl: „Die drei
Offiziere erhoben sich, sagten etwas, was ich nicht verstand, und setzten sich
wieder. Der Vorsitzende blätterte ein wenig in den Akten, eher gelangweilt und
als Pflichtübung.“
Nach diesem lächerlichen Schauspiel von einer Viertelstunde
Dauer, in der ein Menschenleben vernichtet wurde, zogen sich die drei
Militärrichter „zur Urteilsfindung“ zurück, während der hilflos zurückgelassene
Delinquent, der nach demokratischer Rechtsprechung völlig unschuldig war,
zitternd vor Angst im Verhandlungszimmer wartete: „Ich streifte mir mit der
rechten Hand über den nackten, borstigen, kahlgeschorenen Schädel. Dann kam das
Gericht zurück, ich musste aufstehen und mir das Urteil anhören…Antisowjethetze…20
Jahre. Ich war wie versteinert. Ich weiß nicht, warum ich bis vor ein paar
Sekunden noch geglaubt hatte, ich würde mit zehn, mit fünf Jahren
davonkommen…Nein, das hatte ich doch nicht erwartet. Ich konnte mich nicht
bewegen. Ich war wie aus Stein. Nicht einmal schreien konnte ich…Sie griffen
mir unter die Arme und zerrten mich hinaus. Die Richter setzen ihre Mützen auf
und verließen noch vor mir den Raum…Mir schien es jetzt, als ob ich vor einem
Jahr hier hineingeführt wurde. Die Zeit war stehengeblieben.“
Als der völlig verstörte Horst Bienek in die Zelle der Verurteilten gebracht worden
war, lachten sie dort alle, weil er „nur“ 20 Jahre bekommen hatte. Wochen
später, auf dem Transport nach Berlin-Lichtenberg, traf er zwei Mitgefangene,
über deren Aussehen er erschrak, ohne zu wissen, dass er genauso aussah wie
sie: „…sie hatten kahlgeschorene Köpfe, die Haut im Gesicht war blass wie aus
Papier, die Wangenknochen darunter hart, eckig. Sie saßen da, verängstigt, und
im Grunde sahen sie gar nicht zu mir auf. Ich stand oben und sah zu ihnen
herunter. Wie schrecklich und menschenfern sie aussahen mit ihren
kahlgeschorenen Köpfen, ganz menschenunwürdig.“
In Berlin-Lichtenberg saß Horst Bienek nach der Verurteilung
wieder wochenlang in einer Einzelzelle und zermarterte sich das Hirn, was er
verbrochen haben könnte, dass er so hart bestraft wurde: „ Hatte ich nicht
einmal das Bild von Walter Ulbricht in meinem Büro abgehängt? Hatte ich nicht
über die Insulaner gesprochen und damit zugegeben, dass ich RIAS gehört hatte?
Gefragt, ob ich denn in die Partei eintreten wolle, hatte ich einmal vor der
Betriebsversammlung gesagt: Beim Studium des Marxismus-Leninismus bin ich erst
bei Hegel angelangt. Wenn ich bei Lenin ankomme, werde ich mir den Beitritt in
die Partei ernsthaft überlegen…Ich hatte die Luftpostdrucke mit den Reden vom
Kongress für kulturelle Freiheit unterm Hemd aus Westberlin nach Potsdam
geschmuggelt. Also, wenn ich in Potsdam bei der Kontrolle erwischt wurde, dann
könnte das unangenehm werden.“
Am schwersten aber wog wohl die Bekanntschaft zum
„Republikflüchtling“Günter Grell, einem
„Jugendfreund, der sich rühmte, ein CIA-Agent zu sein, das sei er schon
gewesen, als er in Potsdam mein FDJ-Führer war. Grell kannte jeder bei uns, er
war der jüngste Volkskammer-Abgeordnete der SED und sein Bild ging durch alle
Zeitungen. Dass er nach Westberlin gegangen war, erfuhr ich erst jetzt…Er
erzählte mir,dass er mit der Sekretärin
vom SED-Chef im Bezirk Brandenburg ein Verhältnis angefangen und von ihr in den
letzten Monaten Informationen über russische Truppenbewegungen erhalten hatte.
Nun hatte man sie verhaftet. Ob ich denn nicht die Nummern der Panzer, die zum
Manöver fuhren, aufschreiben und ihm bringen könnte. Er würde mir dafür
amerikanische Dollars bezahlen.“
Noch Wochen nach der Untersuchungshaft und der Verurteilung
Horst Bieneks wurde ein Spitzel in seine Einzelzelle gesteckt, weil man noch
weitere „Verbrechen“ vermutete: „Ich war froh, jemanden in der Zelle zu haben,
mit dem ich reden konnte. Ich glaube, ich sprudelte alles, was ich wusste,
heraus. Nur – viel wusste ich nicht. Der andere versuchte, mich auszufragen,
und ich dachte mir nichts dabei. Er war mit einer Decke und einem Blechnapf
gekommen. Wir aßen zusammen die Mittags-Balanda.“
Von Berlin- Lichtenberg wurden die verurteilten Gefangenen
nach Berlin-Karlshorst, dem Hauptquartier der sowjetrussischen
Besatzungstruppen in Deutschland, verbracht, wo Horst Bienek und Hunderte
seiner Leidensgefährten in die „Stolypinschen Waggons“ verladen wurden. Ihre
irrsinnige Hoffnung, nach Bautzen oder Waldheim eingewiesen zu werden, hatte
sich nicht erfüllt. Pjotr Arkadjewitsch Stolypin (1862-1911) war ein russischer
Innenminister der Zarenzeit, der fensterlose Eisenbahnwaggons zum Transport von
Gefangenen in die Straflager einsetzte, zu DDR-Zeiten hießen diese
Transportwagen „Grotewohl-Express“. Nach tagelanger Fahrt bei eisiger Kälte und
beißendem Hunger kam der Zug im Moskauer Durchgangsgefängnis Butyrka an, einem
Gefängnis, das noch aus der Zeit Katharinas der Großen (1729-1796) stammte und
wo bis Stalins Tod 1953 rund 7000 Gefangene erschossen wurden, darunter 1000
Deutsche.
In den DDR-Gefängnissen und während des wochenlangen
Transportes lernte Horst Bienek Häftlingsschicksale kennen, die noch schlimmer
waren als seins, aber in dieser Umgebung durchaus nicht außergewöhnlich. Da gab
es einen sozialdemokratischen Bürgermeister aus einem sächsischen Dorf, der
hatte die Besatzungstruppen öffentlich kritisiert, weil sie während der Aussaat im Frühjahr mit ihren
Panzern in die Felder gefahren waren: Wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“
hatte er dafür 20 Jahre bekommen! Ein anderes Schicksal war das des Juden Moses
Rosenkranz (1904-2003) aus dem Buchenland (Bukowina) in Nordrumänien. Er hatte
1940 seinen ersten Gedichtband „Die Tafeln“ veröffentlicht und war 1941/44 in
rumänischen Arbeitslagern interniert gewesen, 1947 unter kommunistischen
Verhältnissen wurde er verschleppt und kam für zehn Jahre nach Workuta, wo er
in Schacht 29 in der Wäscherei arbeitete. Dort lernte er seine Gedichte auswendig,
da es nichts zum Schreiben gab, 1961 nach Deutschland ausgewandert, starb er im
100. Lebensjahr in Kappel/Schwarzwald.
Vier Wochen waren die Verurteilten dann von Moskau aus
unterwegs, überall wurden Gefangene zugeladen: Aufständische aus den nach 1945
von der „Roten Armee“ besetzten Gebieten, zum Beispiel polnische Partisanen der
„Heimatarmee“, die noch bis 1951 gegen die sowjetrussische Besatzungsmacht
gekämpft hatten, aber auch nationalgesinnte Ukrainer und Widerstandskämpfer aus
Estland, Lettland, Litauen: eine „Internationale der Stalin-Opfer“, wie Horst
Bienek schreibt.
Die hygienischen Zustände, Hunger, Erschöpfung, einhergehend
mit Krankheiten, die kaum behandelt wurden, forderten zahlreiche Todesopfer.
Schon bei der Ankunft entdeckten die Häftlinge ein Wanzennest: „Die Pritsche
war dick mit Wanzen besetzt, wie eine Bienentraube. Wir guckten uns das alle
an. Wir hatten in den letzten Wochen immer wieder mit Wanzen zu tun gehabt.
Aber so viele Wanzen auf einmal hatte ich noch nie gesehen. Es schien so, als
ob sie die ganze Pritsche wegschleppen würden.“
Selbstverständlich gab es in Workuta auch kriminelle
Häftlinge, die Blattnoi, die in den Baracken und unter Tage den Ton angaben und
von den Wachmannschaften als Aufseher eingesetzt waren. Offiziell freilich gab
es überhaupt keine politischen Gefangenen: Wer sich, ob tatsächlich oder
vermeintlich, gegen den kommunistischen Staat vergangen hatte, war ein
Krimineller! Der unerfahrene Neuling Horst Bienek war ziemlich erschrocken, als
er unmissverständlich zum homosexuellen Geschlechtsverkehr aufgefordert wurde:
„Eines Tages schob mir der Geliebte des Blattnois ein Stück Ölpapier zu, mit
einem Streifen Vaseline. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber
Brauskas klärte mich gleich auf. Du sollst dir den Arsch damit einschmieren, er
will dich ficken.“
Über den „Strajk“ (so das russische Wort), der im August
1953, ein Vierteljahr nach dem mitteldeutschen Aufstand vom 17. Juni, ausbrach,
gibt es inzwischen mehrere Bücher und veröffentlichte Augenzeugenberichte.
Genaueres kann man auch in Joseph Scholmers (1913-1995) Erfahrungsbericht „Die
Toten kehren zurück“ (1954) nachlesen. Dieses Buch erschien acht Jahre später
im Deutschen-Taschenbuch-Verlag, als Horst Bienek dort Lektor war, unter dem
neuen Titel „Arzt in Workuta“ (München 1962). Bei Horst Bienek liest man über
die gedrückte Stimmung nach dem niedergeschlagenen Aufstand: „Die erste
Nachtschicht, zu der ich gehörte, werde ich nie vergessen. Wir konnten vor
Erschöpfung gar nicht die Spitzhacke halten, und es gab reife Männer, die saßen
auf der Kohle und weinten und ließen sich von den Brigadiers schlagen. Über den
ganzen Streik…wurde Schweigen gebreitet, jeder hatte Angst, überhaupt darüber
zu sprechen.“
Erst Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967), der im
Spätsommer 1955 nach Moskau reiste, erreichte es, dass die letzten 10 000
Kriegs- und Zivilgefangenen, darunter auch Horst Bienek, freikamen.
Horst Bienek „Workuta“, mit einem Nachwort von Michael
Krüger, Wallstein-Verlag, Göttingen 2013, 80 Seiten, 14.90 Euro
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