Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
"Die Bienen schenken dem Menschen Honig und duftendes
Wachs, aber was vielleicht mehr wert ist, als Honig und Wachs: Sie lenken
seinen Sinn auf den heiteren Junitag, sie öffnen ihm das Herz für den Zauber
der schönen Jahreszeit, und alles, woran sie Anteil haben, verknüpft sich in
der Vorstellung mit blauem Himmel, Blumensegen und Sommerlust. Sie sind die
eigentliche Seele des Sommers, die Uhr der Stunden des Überflusses, der
schnelle Flügel der aufsteigenden Düfte, der Geist und Sinn des strömenden
Lichts, das Lied der sich dehnenden, ruhenden Luft, und ihr Flug ist das
sichtbare Wahrzeichen, die deutliche musikalische Note der tausend kleinen
Freuden, die von der Wärme erzeugt sind und im Licht leben."
Von Urbeginn an hat dieses kleine seltsame Gesellschaftstier mit seinen
komplizierten Gesetzen und seinen im Dunkeln entstehenden Wunderwerken die
Wissbegier der Menschen gefesselt. Schon Aristoteles, Plinius oder Virgil haben
sich mit ihm beschäftigt. So auch der belgische Autor und
Literaturnobelpreisträger (1911) Maurice Maeterlinck. Neben seiner
schriftstellerischen Tätigkeit war er Bienenzüchter und experimenteller
Botaniker. Das vorliegende Buch, dessen Originalausgabe 1901 erschien, ist
beredtes, immer noch gültiges Zeugnis davon. Doch stellt es keineswegs ein Buch
über Bienenzucht dar, sondern es ist eine wundervolle Hommage an diese kleinen,
intelligenten Sommergesellen.
"Ich will nur ganz einfach von den Bienen reden, wie man von einem
vertrauten und geliebten Gegenstand redet, wenn man Nichtkenner darüber
belehren will." Und das macht Maurice Maeterlinck auf wunderbare Art und
Weise. Er erzählt die Geschichte des Bienenstaates im Kreislauf eines Jahres,
beginnend mit dem Erwachen im Frühling und dem Wiederbeginn der Arbeit bis hin
in den Herbst, Ende September. Der Leser sieht die Hauptstadien des
Bienenlebens in ihrer natürlichen Reihenfolge einander ablösen: das Schwärmen
und was ihm vorangeht, die Gründung der neuen Staaten, Kämpfe und Hochzeitsflug
der jungen Königinnen, die Drohnenschlacht und die Wiederkehr des
Winterschlafs. In jeder Episode erklärt Maeterlinck Gesetze,
Eigentümlichkeiten, Gewohnheiten und Ereignisse, die sie verursachen oder
begleiten. Wozu schaffen sich die Bienen so viel Qual und Mühe, und woher kommt
eine solche Entschiedenheit? Was versteht man unter dem "Geist des
Bienenstocks" und wo hat er seinen Sitz? sind Fragen, mit denen er sich
intensiv und tiefgreifend auseinandersetzt. Auch wenn letztendlich nicht alle
Geheimnisse des Honigstaates entschlüsselt sind, so werden nach der Lektüre
einige Rätsel um die Königin, die Mutter des ganzen Volkes, ihre vielen Tausend
Arbeitsbienen, die "drei- oder vierhundert törichten, ungeschickten, bei
aller Geschäftigkeit nur hinderlichen, anspruchsvollen, schamlos müßigen,
lärmenden, gefräßigen, groben, unsauberen, unersättlichen und ungeschlachtenen
Drohnen" sowie ihre architektonische, ökonomische und politische
Vollkommenheit gelöst sein.
Zwar wusste der Belgier noch nichts über die Sprache der Bienen und anderes
mehr, "aber seine poetische Erzählweise macht das durch die Kraft der
Sprache und die scharfe Beobachtungsgabe wett", wie Gerhard Roth in einem
abschließenden Essay treffend formuliert. In sieben Kapiteln beweist Maurice
Maeterlinck, dass er nicht nur Dichter und Dramatiker war, sondern auch Denker
und Essayist. Neben großartigen Beobachtungen der Bienen, setzt er sich in
seinem Text immer wieder mit den Grundfragen menschlicher Existenz auseinander,
mit Leben und Tod, Seele und Mysterium. Lebendig und ungeheurer informativ, immer
wieder durchzogen von eingeflochtenen, kritischen Gedanken, die zuweilen gar
als psychologische Lebensphilosophie bezeichnet werden können, gestaltet sich
Maeterlincks Text als große literarische Bereicherung und fordert geradezu
einen tiefgreifenden Blick in das eigene Innere.
Fazit: "Sie lehren uns die zarteste Stimme der Natur verstehen, und wer
sie einmal kennen und lieben gelernt hat, für den ist ein Sommer ohne
Bienensummen so unglücklich und unvollkommen wie ohne Blumen und ohne Vögel.
(...) Je länger man sie züchtet, desto mehr wird man sich unserer tiefen
Unkenntnis über ihr wirkliches Dasein bewusst, aber diese Art des Nichtwissens
ist immerhin besser als die bewusstlose und selbstzufriedene
Unwissenheit." Maurice Maeterlinck öffnet dem Leser die Augen voll
Bewunderung für dieses "kleine seltsame Gesellschaftstier mit seinen
komplizierten Gesetzen und seinen im Dunkeln entstehenden Wunderwerken".
Denn: "Nichts ist heilsamer, als sie zu öffnen."
Maurice Maeterlinck
Das Leben der Bienen
Aus dem Französischen von
Friedrich von Oppeln-Bronikowski
Titel der Originalausgabe: La Vie
des Abeilles
Unionsverlag
Zürich (Februar 2013)
237
Seiten, Broschiert
ISBN-10:
3293205968
ISBN-13:
978-3293205963
Preis:
12,95 EUR
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