Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
"Was für
eine außerordentliche Veränderung stattfindet ..., wenn erstmals die Tatsache
ins Bewusstsein dringt, dass alles davon abhängt, wie eine Sache das erste Mal
gedacht wird, wenn, in der Folge, Denken in seiner Absolutheit eine
augenscheinliche Wirklichkeit ersetzt."
Dieser Gedanke
von Sören Kierkegaard könnte als Leitmotiv für das Buch des1927 in Albany
geborenen und 2010 in New York verstorbenen Autors der Postmoderne stehen. Denn
David Marksons lässt den Leser an einem ungewöhnlichen Denkprozess seiner
Protagonistin teilhaben. Sie
denkt sich eine Welt, die irgendwie aus der Zeit fiel, neu. Der Roman entpuppt
sich als Aufzeigung von Möglichkeiten, nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten.
Zeit ist dabei unbedeutend und einen festen Ort gibt es gleichfalls nicht.
"Wittgensteins Mätresse" - auch dies ein Gedankenspiel - ist die
Wiedererschaffung und Belebung der Welt, mittels Benennung derselben.
"Bedeutet
aus der Zeit gefallen wahnsinnig, oder bedeutet aus der Zeit gefallen einfach
vergessen?", fragt sich die 47-jährige, vielleicht auch 50-jährige Kate,
ehemalige Künstlerin, Malerin, die offensichtlich völlig allein auf der Welt zu
sein scheint. Kein Lebewesen. Nichts. Man erfährt nur, dass sie einen Mann
hatte und einen Sohn. Aber beide sind tot, gestorben inMexiko. Wo ist der Rest der Menschheit? Starb
das gesamte Leben? Warum blieb nur sie übrig? Was war passiert? "Bestimmt
ist die Wirklichkeit verändert. Eines Morgens wachst du auf, und jede Farbe hat
aufgehört zu existieren." Suchend bewegt sie sich durch die ganze Welt,
hinterlässt in riesigen Blockbuchstaben Botschaften auf Kreuzungen, um zu
signalisieren, dass sie lebt. Dass es noch Leben gibt. Doch niemand erhört sie.
Querfeldein fährt sie mit den zurückgelassenen Reliquien einer ehemaligen
Zivilisation durch die absolute Lebensleere, übernachtet in den großen Museen
der Welt, im Metropolitan, im Louvre, in der Tate Gallery, im Rijksmuseum, den
Uffizien, der Eremitage, dem Prado. Die Rahmen der berühmten Gemälde verbrennt
Kate, um sich im Winter warm zu halten, die Bilder jedoch nagelt sie wieder
sorgfältig an die Wand.
Ihre Odyssee
durch verlassene Orte gleicht einem einzigen großen Schauen nach... Ja, nach
wem oder was eigentlich? "War es wirklich eine andere Person, die ich so
dringend entdecken wollte, bei all jenem Schauen, oder war es nur meine eigene
Einsamkeit, die ich nicht ertragen konnte? Beim Wandern durch dieses unendliche
Nichts." Ein Strandhaus, das offensichtlich in Springs-East
Hampton, New York, liegt
("Jackson Pollock ist mit seinem Auto in einen Baum gekracht, von dem Ort,
wo ich in diesem Augenblick sitze, nicht mehr als zehn Minuten mit dem
Lieferwagen entfernt, am elften August 1956"), wird ihre scheinbar letzte
Herberge. Hier tippt sie ihre Gedanken in eine Reiseschreibmaschine. Und kommt
zur überraschenden Erkenntnis, "dass sie paradoxerweise praktisch ebenso
allein gewesen ist, bevor all das passiert war, wie sie es jetzt war."
Schon einmal
las ich ein Buch mit einem ähnlichen Geschehen: Thomas Glavinics "Die
Arbeit der Nacht". Während der österreichische Autor erkundet
was der Mensch ist, wenn keine
Menschen mehr da sind und herausfindet, dass fortschreitende Langsamkeit
töten kann, lotet Markson,
dessen Buch bereits 1988 in den USA erschien, die Möglichkeiten einer
Weltenneuschreibung anhand der Kunst und der Reduzierung des Ichs auf sein
Selbst aus. In den endlosen Gedankenmäandern und sich wiederholenden Monologen
seiner Protagonistin, die einem zunächst recht schwerverdaulich oder
schwerfällig vorkommen mögen, die sich jedoch mit jeder Seite verfeinern und
einen zunehmenden Sog erzeugen, liegt eine große, tiefe Wahrheit und Klugheit.
Warum das Buch erst jetzt, von Sissi Tax übrigens formidabel übersetzt, seinen
Weg in den deutschsprachigen Raum gefunden hat, bleibt ein großes Rätsel. Hat
Marksons Text doch eine derart fesselnde Intensität, die ihresgleichen sucht.
Kate, die auf ihrer langen Odyssee durch die Welt sich zwar fast allen Gepäcks
entledigt hat, dem "Gepäcks im Kopf" jedoch nicht entfliehen kann,
grübelt über endlos viele Dinge nach, bildet hunderte Querverbindungen, leitet
ab und wieder her.
Ein scheinbares
Wirrwar, ein immer wiederkehrender Fitz in einem aufgewickelten Wollknäuel, der
versucht wird, zu entwirren und sich dabei immer mehr zu verheddern scheint.
Das was nach außen dringt wirkt
zunächst wie unzusammenhängende Verworrenheiten. "Obgleich
unzusammenhängende Verworrenheiten hin und wieder bekannt dafür geworden sind,
als die Grundbefindlichkeit des Dasein zu gelten. Vermutet man." Homers
Ilias ist immer wieder Gegenstand ihrer Betrachtungen. Hinzu kommen viele Maler
und Philosophen. Nietzsche, van Gogh, Modigliani, Rembrandt, Brahms, Picasso,
Sappho, John Ruskin und natürlich Wittgenstein werden immer wieder
unterschiedlichsten, beinahe absurden Betrachtungen unterzogen. Letztendlich
bleibt die große Frage: Sind unsere Alltagswahrnehmung von Vielfalt und
Bewegung vielleicht doch nur bloßer Schein? Vielleicht
stellt sich Marksons Mätresse nur die Frage, "die ihr Herr und Geliebter
auf dem Papier nicht stellt: Was wäre wenn irgendwer wirklich in einer
tractatusierten Welt leben müsste?" (Anm.: Der Tractatus
logico-philosophicus ist das erste Hauptwerk Wittgenstein), wie David Foster Wallace bei einem Versuch
der Deutung des Romans überlegt.
Fazit: "Zusätzlich
dazu, dass man sich an Dinge erinnert, von denen man nicht weiß, wie man sie
erinnert, scheint man auch Dinge zu erinnern, von denen man keine Ahnung hat,
woher man sie jemals wusste". "Wittgensteins
Mätresse" ist ein Buch wie ein Spiegel. Und was dieser Spiegel
widerspiegelt ist auch unser Selbst, ein Bildnis unserer Welt. Oder
vielleicht doch nur deren Fälschung? Eines wird nach der Lektüre allerdings
deutlich klar, dass die Vergangenheit selbst immer kleiner ist, als man
geglaubt hatte." Und die von Kate gelegten Spuren
offensichtlich kein Weg sind und möglicherweise gar absichtlich in die Irre
gelegt wurden. Denn "nichts bezieht sie auf etwas, also bezieht sie alles
auf alles, das ihr zur Verfügung steht, und das ist eben: alles."
(Elfriede Jelinek)
Einfach nur
großartig!
David Markson
Wittgensteins Mätresse
Titel der Originalausgabe:
"Wittgensteins Mystress"
Aus dem Englischenvon Sissi Tax
Berlinverlag
(April 2013)
336
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3827008174
ISBN-13:
978-3827008176
Preis:
22,99 EUR
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