Erschienen in Ausgabe: No 88 (06/2013) | Letzte Änderung: 25.05.13 |
von Nora Knobloch
ch finde mich wieder in einem Hausim obersten Stock, über einer sehr
belebten, lauten, bunten Straße mit unzähligen kleinen Geschäften im
Kairor Stadtteil Maadi.
Eine alltägliche Situation beim Fischverkäufer :”Auf welchen Namen
darf ich den Fisch preparieren?” – “Muhammed Mursi.” scherzt ein Kunde
und es wird gelacht.”Nein, nein. Dann bekommst du von mir keinen Fisch
gebraten.”
Kurze Zeit später schimpft der Taxifahrer nur kopfschüttelnd
“Mursi…”, wenn der Verkehr stockt durch die vielen ‘tok-toks’ (eine Art
motorisierte Rikscha), die angeblich von der Regierung finanziell
gefördert werden und den Verkehr aufhalten.
Ich erlebe dieses solidarische, kritische miteinander Scherzen und Lachen der ÄgypterInnen in vielen Situationen.
Wenn auch die Missstände unter Mursi alles andere als zum Lachen
sind, ist er – Mursi – fester Bestandteil des ägyptischen Humors
geworden.In gewisser Weise ein Zynismus, der sich breit macht
angesichts der sozialen und politischen Herausforderungen des Landes.
Abgesehen von der großen Gastfreundschaft und Herzlichkeit meiner
Freunde und den tausenden Sinneseindrücken fällt mir vor allen Dingen
die politische Zuversicht, verbunden mit einem unbeugsamen Geist auf.Im
Auto erzählt mir Mustapha, dass Mursis Unfähigkeit, das Land
wirtschaftlich auf einen guten Kurs zu bringen, wie ein Geschenk für
Ägypten sei. “Er enttäuscht ganz Ägypten an Leib und Seele, nicht nur
seine Gegner.” Seine Hoffnung ist, dass Mursi seine AnhängerInnen stetig
verliert.
Wenig später lerne ich auch andere, konträre Ansichten kennen, die
sagen, dass große Gruppen der Bevölkerung, vor allem UnterstützerInnen
der radikal-islamischen Richtung, der Muslimbruderschaft, immer hinter
Mursi stehen und “blind” sein werden für sein Versagen. Die miserable
wirtschaftliche und individuelle Situation würden sie – ganz der
Regierungspropaganda folgend – auf die Demonstranten schieben, auf die
Protestbewegung, die das Land ruiniere.
“Alles, was du über Menschenrechte glaubst zu wissen, vergiss es,
wenn du nach Ägypten kommst.” Das ist das erste, was Muhammed zu mir
sagt, als ich ihm begegne. Bezeichnend für alles, was er mir nachfolgend
erzählte, brannte sich mir dieser Satz ins Bewusstsein ein.
“Niemand interessieren hier Menschenrechte. Nur Machtmissbrauch,
persönliche Bereicherung und Korruption.” Der 23-jährige Student
Muhammad spricht aus Erfahrung. Mehrmals wurde er unter beiden Regimen
festgenommen, misshandelt, sein Arm wurde gebrochen, er wurde mehrmals
angeschossen- von der Polizei.
“Früher”, sagt Zahra, “war die Stimmung liberaler, wenn du als Frau
ohne Kopftuch über die Straße gingst.” Durch die Politisierung und die
Lagerbildung , auf der einen Seite die Anhänger Mursis und der
Muslimbruderschaft, auf der anderen Seite die Mursi-Gegner, scheine es,
als radikalisierten sich konservativ- muslimische Menschen, die vorher
vielleicht dezent in eine andere Richtung geguckt hätten.
Nun käme es öfter vor, dass Männer Frauen ohne Kopftuch und Burkas
auf der Straße in manchen Gegenden beschimpfen oder verfluchen.
Radikalisiert sich die nun größtenteils politisierte Gesellschaft?
Ohne Frage werden die Menschen Ägyptens seit Beginn der Revolution
immer politisierter, getragen durch die gefühlte, verzweifelte
Verantwortung, die Zukunft des Landes selbst erkämpfen zu müssen.
Insbesondere die Jugend Ägyptens leidet unter den miserablen
Verhältnissen, die hohe Arbeitslosigkeit führt zur Perspektivlosigkeit,
gerade deswegen machen junge Menschen bis ca. 28 Jahren den größten Teil
der DemonstrantInnen aus. Dass sich die jugendlichen Kräfte Ägyptens
mobilisieren und für die drei Grundforderungen der Revolution – Brot,
Freiheit und gesellschaftliche Gleichstellung – und vor allem für
Demokratie auf die Straße geht, hat sich nicht geändert.
An vielen Ecken sieht man Menschen politisch diskutieren, hitzig,
teils handgreiflich, was normal ist, da die Polizei nicht in ihrer Art
vorhanden ist, wie es in manchen Ländern Europas als selbstverständlich
gilt.Früher diskutierte man über Fußball auf der Straße, nun
beeindruckt man mit politischen Ideen und Wissen.
Ich lernte in Kairo viele verzweifelt, einige optimistische Menschen
kennen. Alle waren sie der Zukunft Ägyptens sorgenvoll zugewandt und
bemüht, die Stärke der Hauptstadt Ägyptens beizubehalten (Kairo =
arabisch “die Starke”) undnicht einzuknicken in scheinbarer
Ausweglosigkeit.
Die Zukunft der ägyptischen Bevölkerung, insbesondere der Jugend, ist
vor allem eines : ungewiss. Dieses Gefühl von Unsicherheit, der mit
aller Revolutionskraft versucht wird entgegenzuwirken – habe ich oft
gespürt.
Was in mir immer bleiben wird, ist Hochachtung für das Volk, das ohne
demokratische Vorerfahrungen im Kleinen wie im Großen, unermüdlich
gegen soziale Ungerechtigkeit und für Freiheit auf die Straße geht,
fernab von aller Bequemlichkeit , die wir so oft hier im Westen erleben.
Nach jedem größeren Protest säubern die Ägypter am nächsten morgen den
Tahrir-platz (Tahire = rein, sauber) von Müll und Dreck – ihren
“Square”, der sie vereint, den sie verehren und dem sie ihre Lieder
widmen – dem Ausgangspunkt der ägyptischen Revolution.
Interview
Bei meinem Kairo-Aufenthalt habe ich viele Menschen kennengelernt
, deren Stimme es verdient, gehört zu werden. Mit dem Aktivisten
Mohammad F. konnte ich ein inspirierendes Interview führen über seine
Hoffnungen, die Rolle der Polizei, die muslimisch-christlichen Konflikte
in Ägyptenund vieles mehr.
Nora: Ihr habt in der Schule keinen Politikunterricht, weder in der
Gesellschaft noch in eurem Bildungssystem werdet ihr zur Demokratie
erzogen, um euch ein Fundament für die Kritik am System zu geben.
Wie hast du und viele Andere begonnen, das System zu hinterfragen?
Mohammad: Wir sahen die Korruption im Alltag. Einen Polizisten kannst
du beispielsweise immer bestechen, wenn du etwas falsch gemacht hast,
damit er dir kein Strafschein gibt.
Wir wurden groß in einer Gesellschaft, in der jedes gute Konzept von Korruption überschattet wird.
Wenn du in eine Einbahnstraße fährst und wirst von der Polizei erwischt,
kannst du diese immer bestechen. Dieses Vorgehen kannst du auf alle
anderen Bereiche der Regierung übertragen.
Nicht viele Ägypter haben das Privileg wie ich in andere Länder reisen
zu können (wie Libanon oder die Schweiz) und die dortigen politischen
Systeme kennenzulernen – und hier kommt das Internet ins Spiel. Denn als
alle Ägypter Zugang zum Internet bekamen, und dadurch Zugang zu anderen
Ländern und Kulturen, dachten sie sich im Vergleich, “wir sind so
hintenan, wir sind so isoliert”. Wenn du dich über die Lebensumstände in
anderen Ländern und Kulturen informierst, siehst du, dass du garnicht
lebst wie andere Menschen es tun. Du merkst, dass es dir an Würde fehlt,
an menschlicher Würde. Du fühlst dich, als seist du eine minderwertige
Spezies.
N: Du brauchst keine politische Bildung, um politische Unterdrückung zu spüren.
M: Genau. Du siehst die Unterdrückung. Du fühlst – wenn dich ein
Polizist oder ein Regierungsangestellter anbrüllt, weil du deine Rechte
einforderst – das ist Unterdrückung. Du brauchst keinerlei Bildung, um
dies zu spüren.
Sie wollen nicht, dass du gebildet bist. Denn wenn du gebildet bist,
bist du für sie gefährlicher und sie können dich nicht so leicht
kontrollieren.
Jedenfalls habe ich gemerkt, dass es nicht ok und nicht normal ist,
unterdrückt zu werden und darüber zu schweigen. An diesem Punkt haben
wir uns über die anderen Ideologien und Lösungen informiert, um zu
sehen, was man verändern kann.
N: Wann hast du das erste mal die Dringlichkeit zu demonstrieren gespürt?
M: Das war weit vor dem 25. Januar 2011. Im Jahre 2006 nahm ich an
einer kleinen Demonstration gegen Mubarak teil, in der wir ein besseres
Schul- und Bildungssystem forderten. Die Polizei behandelte uns, als
seien wir Nichts, sie standen rum und taten nichts, außer uns davon
abzuhalten, auf die Straße zu gehen. Die Polizei wollte nicht, dass wir
gehört werden, denn sie hatte Angst, dass sich immer mehr Menschen uns
anschließen und wir uns gegen das Regime vereinen. Deshalb fingen wir
an, dem Regime zu misstrauen, wir waren der Überzeugung, dass das Regime
nichts für uns tun würde und wir es selbst in die Hand nehmen müssten.
Was noch hinzu kam: wir wurden wegen kriminellen Verhaltens angeklagt,
obwohl wir nichts verbrochen hatten. Wir lernten damals, dass das
Gericht mit dem Regime zusammenarbeitete – wir lernten, es gibt keinen
Ausweg. Deine einzige Möglichkeit ist es, dich auf dich selbst zu
verlassen, um richtig zu leben.
N: Was ist für dich “ein revolutionärer Geist”? Was unterscheidet freies Denken von unfreiem Denken?
M: Der revolutionäre Geist wird nicht ruhig sein, bis das erreicht
ist, was er für richtig hält. Der revolutionäre Geist wird auch Umstände
hinterfragen: Warum ist es so, und nicht anders?
Der revolutionäre Geist sollte immer aktiv sein. Nicht nach dem Motto,
“wir haben erreicht, was wir wollten, Mubarak ist zurückgetreten, gehen
wir nach Hause”. Nein, der revolutionäre Geist sollte seinen Weg
verfolgen, bis alle Ziele erreicht sind.
Der Unterschied zwischen freiem und unfreiem Denken… Hier ist das
Problem, dass unfreies Denken immer Angst vor neuen Erfahrungen, vor
neuen Systemen, Angst vor Veränderung haben wird. Während der ersten
vier Tage der Revolution war die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung
gegen uns. Sie wollte nicht, dass Mubarak geht, denn sie hatte Angst vor
Veränderung. Sie wusste, er war kriminell, jedoch kannten sie
niemanden, der ihn ersetzen könnte, und wollten auch niemand Neuen. Sie
hatten Angst vor Veränderung und lehnten Veränderung ab, selbst dann,
wenn sie zu einem besseren Ägypten führen konnte.
Der freie Geist fehlt uns hier. Einen wirklich freien Menschen triffst
du hier selten. Ägypter werden dir sagen, sie seien frei, jedoch sind
sie dies nicht. Sie denken, frei bedeutet: Du kannst sagen, was du
willst – aber ich werde meine Überzeugungen unter allen Umständen
beibehalten. Vielleicht diskutieren wir, jedoch am Ende werde ich meine
Überzeugung beibehalten. Ich werde meine Meinung nie ändern – und das
ist ein unfreier Geist.
Du kannst das sogar an den Politikern sehen – die meisten von ihnen
lösen die Probleme mit der Mentalität des alten Regimes; ihre Strategien
haben sich seit den sechziger Jahre kaum entwickelt.
N: Als Mubarak am 11.2.2011 zurücktrat, feiertest du mit den Massen
auf dem Tahrir-Platz und verteiltest zur Feier des Tages Süßigkeiten an
alle. Dachtest du, dass die Revolution gesiegt hätte und der Kampf
beendet sei?
M: Ich dachte tatsächlich so. Ich dachte, wir hätten Freiheit
bekommen und könnten nun ein neue Ägypten erbauen, es war ein Rausch der
Gefühle. Ich dachte, es sei vorbei. An diesem Tag sah ich den “Vater
der Revolution” und gab ihm eine Süßigkeit, um mit ihm zu feiern. Er
sagte zu mir ” Warum feierst du? Glaubst du etwa, es ist vorbei?”. Ich
versicherte ihm “Ja, Mubarak ist zurückgetreten, was wollen wir mehr!”
Er erwiderte ” Nein, mein Sohn. Es hat grade erst begonnen.” Zu diesem
Zeitpunkt waren wir noch nicht weise genug, um dies zu erkennen. Was wir
nach der Revolution erlebten und noch erleben, ist schlimmer. Damit
meine ich nicht, dass Mubarak gut war. Aber wenn wir wollen, dass diese
Revolution erfolgreich ist, müssen wir weitermachen und viel
hartnäckiger werden. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben und nie
vergessen, wofür wir auf die Straße gehen.
Das Regime der Muslimbruderschaft… sie werden ihr Zeit haben, und sie
werden wieder gehen. Sie werden nie unser neues Regime sein, sie werden
uns nie zurückdrängen, sie werden nie unseren Geist brechen.
N: Du rebellierst und begibst dich in riskante Situationen – unter
dem Regime Mubaraks, wie auch unter dem Regime der Muslimbruderschaft.
Welche Rolle spielt die Polizei nach deiner Erfahrung?
M: lacht Es hat sich wirklich nichts verändert. Die Polizei denkt,
sie würde dieses Land besitzen. Dass sie das Recht haben, auf dich zu
schießen, dich einzusperren. Nach ihrer Einstellung sind sie die Herren
und wir die Sklaven. Das ist die Mentalität der Polizei und die hat sich
leider kein bisschen verändert. Die Muslimbruderschaft hilft der
Polizei auch nach der Revolution den Status zu behalten, den sie hat,
denn sie braucht die Polizei, wie sie ist. Die Polizei ist ein Werkzeug
der Muslimbruderschaft, die Opposition zu unterdrücken. Und die
Muslimbruderschaft braucht dieses Werkzeug, um jede aufmüpfige Stimme zu
unterdrücken.
Unter Mubarak haben sie das Volk unterdrückt. Zur dieser Zeit existierte
ein Notstandsgesetz, was ihnen gesetzlich das Recht gab, uns jederzeit
einzusperren. Jetzt gibt es dieses Notstandsgesetz nicht mehr, trotzdem
können sie uns immer noch und jederzeit einsperren. Warum? Weil die
Muslimbruderschaft eine Verfassung geschaffen hat, die der Polizei
dieses Recht gibt. Sie gibt der Polizei das Recht, dich grundlos 12
Stunden einzusperren. Das ist ein Geschenk von der Muslimbruderschaft an
die Polizei.
N: Die ursprüngliche Verantwortung der Polizei ist es, den Menschen
zu helfen, was ist daraus geworden? Wenn du auf der Straße angegriffen
wirst, wen kannst du um Hilfe rufen, wenn nicht die Polizei? Unabhängig
davon, Machtmissbrauch kommt natürlich auch in den westlichen Ländern
vor.
M: Dass es Machtmissbrauch auch in den westlichen Ländern gibt, ist
in normal, solange es nur einzelne Vorkommnisse gibt; manche Polizisten
sind kriminell und sollten dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Aber
der Unterschied zwischen der Polizei in den westlichen Länder und hier
ist: es ist nicht bloß Machtmissbrauch, es ist nackte Gewalt. Ein
Beispiel – die Occupy-Wallstreet-Bewegung in New York: Die Polizei
kontrollierte die Demonstranten mit „force“ (Übersetzung etwa
„entschiedener Druck“) Sie nennen es “force” , nicht “violence” (Gewalt)
. Wir haben hier „violence“. Das ist der Unterschied. “Force” heißt,
die Polizei versucht dich zum Beispiel mit etwas wie Pfefferspray zu
paralysieren. In Ägypten haben sie so etwas nicht – sie haben Geschosse,
sie haben Tränengaß, sie haben harte Stöcke, mit denen sie dich
schlagen werden. Und sie schlagen dich in einer rachsüchtigen Art und
Weise, als würden sie an dir Vergeltung üben. Wenn sie dich verhaften
wollen, werden sie dich vorher verprügeln oder anschießen. Die Polizei
in der USA würde vielleicht versuchen, dich auf humanere Weise zu
verhaften, nicht auf diese geschmacklose Weise, die dir das Gefühl gibt,
du wärest ein Tier.
Das ist der Unterschied zwischen “violence” und “force” und der Polizei hier und dort.
N: Ist etwas übrig von der Verantwortung, die die Polizei für die
Zivilsten haben sollte? Können die Menschen die Polizei rufen, wenn
ihnen Ungerechtigkeit zustößt?
M: Du kannst sie rufen und sie wird schätzungsweise zwei Stunden
später auftauchen. Wenn du also einen Mord oder andere Verbrechen auf
der Straße siehst und die Polizei rufst, wird sie die Meldung erst
einmal eine Stunde lang ignorieren, dann wird sie abwägen, ob sie es
überhaupt als nötig erachten, dort aufzukreuzen. Sie nimmt keinerlei
Verantwortung wahr für dein Leben und den Frieden auf der Straße.
N: Was kannst du also tun, wenn dir Ungerechtigkeit zustößt?
M: Du kannst es selbst in die Hand nehmen. lacht
N: Du riskierst dein Leben, indem du dich zwischen die Fronten
stellst, du wurdest brutal zusammengeschlagen, angeschossen und mehrmals
eingesperrt. Warum riskierst du dein Leben? Ist es die Entscheidung,
alles für eine Idee zu riskieren?
M: Ja, natürlich…ganz und gar. Denn ich denke, das ist kein Leben.
Wenn der Preis mein Leben ist, damit andere in Freiheit leben – dann sei
es so. Wenn der Preis mein Leben ist, damit meine Kinder in Freiheit
leben – dann sei es so. Ich sterbe lieber auf meinen Füßen, als auf
meinen Knien zu leben. Auch sterbe ich lieber auf meinen Füßen, als auf
meinen Knien zu sterben. Oder auf meinem Rücken. Wenn ich keine Freiheit
habe, keine Bildung, kein Gesundheitswesen, keine
Entscheidungsfreiheit, keine Gedankenfreiheit, keine Lebensfreiheit –
warum lebe ich dann?
N: Fühlst du es als eine Pflicht?
M: Als eine Pflicht…auf eine bestimmte Art und Weise, ja. Jedoch
nicht wie es die Pflicht eines Soldaten sein mag, für sein Land zu
kämpfen. Ich muss es nicht tun, aber es bleibt mir keine andere Wahl. Es
ist meine Entscheidung, niemand zwingt mich, keine Idee zwingt mich,
nichts in meinem Kopf zwingt mich dazu. Ich entscheide mich dazu.
N: Wer legt die Grenzen fest?
M: Das ist nicht leicht zu beantworten, aber ich denke an eine
Kombination des Regimes, der religiösen Menschen – ob der Kirche, oder
jeglicher anderer Religion – und der Gesellschaft. Jedes dieser drei
Bestandteile möchte die Menschen aus eigenem Interesse kontrollieren.
Die religiösen Menschen zum Beispiel wollen deinem Geist Grenzen setzen,
um sicherzustellen, dass du Religion nicht hinterfragst und sie so frei
und ohne zu fragen walten können. Das gleiche gilt für die Politiker –
denn wenn du frei denkst oder geistige Grenzen überschreitest, könnten
sie ihre Position verlieren. Mubarak hat beispielsweise vor der
Revolution Themen kreiert und Grenzen gesetzt, um uns von seinen
Machenschaften abzulenken. Die Regierung beschloss eine Zensur für
bestimmte Webseiten, was eigentlich nicht wichtig war – diese Webseiten
hatten keinerlei politischen oder pornographischen Inhalt; er wollte
bloß die Gedanken der Menschen besetzen, damit er freie Bahn hatte. Ein
anderes Beispiel ist das Fußballspiel zwischen Ägypten und Algerien. Die
Medien verbreiteten das Gerücht, dass Algerien ohne Rücksicht gewinnen
wolle, damit es zur Weltmeisterschaft fahren könne. Tatsächlich waren
die Menschen gehorsame, folgsame Schafe dieser Propaganda und bemerkten
nicht, wie Mubarak zu dieser Zeit zwei große Dinge plante: Erstens legte
er die gesetzliche Basis für sein Vorhaben, seinen Sohn zu seinem
Nachfolger zu machen. Zweitens ging es um Atommüll, der in Ägypten
gelagert werden sollte (dieser Fall ist noch immer vor Gericht). Er
versuchte, unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken, sodass er
machen konnte, was er wollte. Grenzen werden also von der Politik, den
religiösen Menschen und der Gesellschaft festgelegt… Um auf die
Gesellschaft zu sprechen zu kommen – auch in der Gesellschaft werden auf
vielerlei Art Grenzen gesetzt. Zum Beispiel die Beschneidung – sie ist
nirgends vorgeschrieben – nicht im Islam, nicht im Christentum. Sie ist
eine gesellschaftliche Konvention. Man will verhindern, dass Mädchen
haben. Warum? Um diese Restriktionen, die von der Gesellschaft
festgelegt werden, bin ich besorgt. Denn viele der gesellschaftlichen
Restriktionen sind verbunden mit religiösen Rechtfertigungen, um sie
glaubhafter und rechtmäßig klingen zu lassen. “Nicht ich, sondern Gott
hat es so gesagt.”
N: (…) Wie berichten die Medien über die Vorkommnisse? Die lokalen und die ausländischen Medien.
M: Ich habe studiert in der Richtung. Ich war geschockt, als ich in
der Schule lernte, dass Medien nicht objektiv sind und auch nie sein
werden. Jegliche Art von Medien. Kurz gesagt: In den Medien heiligt der
Zweck die Mittel. Wenn du möchtest, dass die Christen schlecht dastehen,
berichtest du über Vorfälle so, dass die Christen schlecht dastehen.
Genauso tust du es, wenn du möchtest, dass die Muslime schlecht
dastehen. Zuerst legst du deine Ziele fest, dann denkst du darüber nach,
wie du berichtest. Wenn du eine bestimmte Gruppe schlecht dar stehen
lassen willst, wirst du einen Weg finden, dies zu tun. So wird es
überall gemacht. Ich sage nicht, dass alle Medien schlecht sind, aber so
habe ich es gelernt.
Was die ausländischen Medien betrifft – es gibt Berichte, die nicht
objektiv sind, wenn es um Muslime geht. Aber das liegt nicht nur an den
ausländischen Medien – sie finden, wonach sie suchen. Eine große
Verantwortung kommt den Muslimen selber zu. Nehmen wir zum Beispiel die
offensiven Muhammed-Karikaturen: Nur mal angenommen, der Zeichner wollte
damit aussagen, dass Muslime und der Prophet Muhammed Terroristen
seien. Nur einmal angenommen. Hätten die Muslime gewaltfrei reagiert,
wären die Karikaturen bedeutungslos geworden, man hätte allen das
Gegenteil bewiesen. Was sie jedoch stattdessen taten, ist wie ein Beweis
für die Aussage der Karikatur. Sie sagten der Welt: “Ja, wir sind
Terroristen, ja, wir töten den lybischen Botschafter und wir attackieren
die amerikanische Botschaft in Kairo und ja, wir töten jeden, der Witze
über uns macht. Ja, wir sind Terroristen.” So geben die Muslime also
selbst das Bild ab, Terroristen zu sein. Also liegt die Verantwortung zu
allererst bei den Muslimen selbst. Sie müssen sich fragen:” Warum
stellt uns der Zeichner so dar? Warum haben sie das Bild von uns, wir
seien Terroristen? Lasst uns darüber nachdenken und dieses Bild ändern.
Warum helfen wir ihnen nicht, ihre Meinung über uns zu ändern und den
Islam und die Muslime zu verstehen?”
Also: ja, es fehlt an Objektivität in der Berichterstattung. Aber die Verantwortung tragen die Muslime selbst.
N: Was denkst du über die Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen?
M: Ich kann nicht sagen, dass es nur von der Regierung gesteuert
wurde. Es wurde von der Regierung gesteuert, aber nicht nur. Die
Christen sind eine Minderheit in diesem Land und zur gleichen Zeit die
ursprünglichen Einwohner dieses Landes. Zuerst waren die Christen hier
und dann kamen die Muslime und wurden die Mehrheit. Die Christen fühlen
sich nun wie Menschen zweiter Klasse und mit weniger Rechten. Sie
könnten beispielsweise nie Präsident werden – nicht, weil es verboten
ist, sondern weil es von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden würde.
Wenn ein Christ kandidieren würde, würde er ein grausamen Krieg der
Islamisten gegen sich erleben, weil diese sagen würden, dass man nicht
einen Christen wählen dürfe. Auch wenn dieser besser wäre, dürfe man ihn
nicht wählen, weil er eben ein Christ sei. Auch wenn Christen es
schaffen würden, in hohen Positionen – wie z.B. Premierminister – zu
kommen, würden sie einen grausamen Krieg gegen sich erleben. Momentan
haben wir unter der Muslimbruderschaft 34 muslimische und 2 christliche
Minister, dadurch fühlen sich Christen ungerecht behandelt. Sie leben
damit – “wir haben keine Gouverneure, die uns vertreten, keine hohen
Positionen in der Armee, bei der Polizei, wir können keine Zeitung
herausgeben, wir dürfen keine christliche Partei haben – und
gleichzeitig gibt es ganz viele politische Parteien, die den Islam
vertreten.”
Zudem fordert die christliche Bevölkerung seit zwei Jahrzehnten ein,
bestimmte Rechte zu bekommen. Ein Recht, dass sie verlangen, ist das
Recht, Kirchen zu bauen. Sie können zwar Kirchen erbauen, jedoch wird
immer versucht, im Nachhinein eine Moschee vor oder in die Nähe dieser
Kirche zu setzen.
N: In Deutschland kommt dies auch vor – nur umgekehrt: In Köln
beispielsweise stellten sich viele BürgerInnen gegen das Projekt, eine
große Moschee zu erbauen – eine Moschee sollte nicht größer sein, als
die meisten Kirchen. Man könne eine “Islamisierung” Kölns nicht
erdulden.
M: Eigentlich ein sehr engstirniges Verhalten, eine größere Moschee
zu bauen als die Kirchen rundum, nur um zu zeigen: Wir sind besser, wir
sind größer und stärker, wir sind mehr – ihr seit unterlegen.
Das komische daran ist – vor 80 Jahren gab es ein Gesetz in Ägypten,
dass den Bau von Kirchen erlaubte. Ein Artikel dieses Gesetzes besagte,
dass dort, wo eine Moschee steht, keine Kirche erbaut, und dort wo eine
Kirche steht, keine Mosche erbaut werden darf – damit Moschee und Kirche
ihre Privatsphäre erhalten. Dieser Artikel wurde entfernt. Alleine das
gibt mir das Gefühl, dass wir Rückschritte machen und keine
Fortschritte.
N: Fühlst du, dass die Jugend eine Einheit bildet, wenn du demonstrierst?
M: Natürlich. Aber… diese Frage ist auch mit der letzten Frage
verknüpft zu betrachten. Die Einheit der ägyptischen Jugend ist nicht zu
erschüttern. Wenn man es sich die Geschichte anguckt – in der letzten
Zeit von Präsident Saddad verschärfte dieser den Konflikt zwischen
Christen und Muslimen. Anschließend wurde er ermordet. Auch Mubarak
zettelte einen Monat vor der Revolution einen Anschlag auf eine Kirche
an , um den Konflikt anzuheizen. Jeder, der die Christen ungerecht
behandelt oder den Konflikt einheizt, will damit nur sein eigenes
Versagen vertuschen, die Aufmerksamkeit der Menschen auf diesen Konflikt
lenken, damit sein Versagen nicht bemerkt wird.
Immer, wenn sich ein solcher Konflikt verstärkt, rückt die Jugend
Ägyptens enger zusammen. Wir werden gemeinsam noch widerständiger. Wir
lassen unsere Einheit nicht erschüttern, bloß weil da ein erfolgloser
Präsident ist.
Während der Revolution gab es einen starken Zusammenhalt. Auf dem
Tahrir-Platz ist es nicht aufgefallen, ob du Muslim oder Christ, ob du
liberal oder sozialistisch warst. Wir hatten alle nur ein gemeinsames
Ziel.
Wenn Muslime während der Demonstrationen beteten, bildeten die Christen
um einen Kreis um sie herum, um sie zu schützen. Und andersherum – wenn
Christen beteten, bildeten die Muslime einen Kreis um sie, um sie zu
schützen. Und so läuft es in unserem alltäglichen Leben ab. Ich habe nie
darauf geachtet, ob du Christ bist, oder anders aussiehst. Ich sehe sie
nur als Menschen – und alle wahren Ägypter tuen das auch. Du bist
Ägypter, nur das ist wichtig. Vielleicht bist du mein Nachbar, mein
Freund, mein Boss, oder vielleicht bin ich dein Boss. Das ist alles
unbedeutend.
Die Konflikte dieser Art sind fungiert und neu für uns – seit dem
Beginn des Regimes der Muslimbruderschaft. Du weißt, dass die
Muslimbruderschaft der Ursprung der Al-Kaida ist. Und nach 30 Jahren ist
sie extremer geworden, es haben sich Subgruppen gebildet, die sich in
eigene Richtungen entwickeln, zu denen die extremsten islamischen
Bewegungen gehören. Al-Kaida, Jihadisten, Taliban – alle sind aus der
Muslimbruderschaft entstanden. Das ist beängstigend, denn alles begann
in Ägypten und die Muslimbruderschaft ist der Ursprung des Extremismus
im Islam. Das ist beschämend.
N: Mursi floh aus dem Gefängnis, bevor er Präsident wurde. Glaubst du es gibt eine Chance für Gerechtigkeit in der Politik?
M: Nein. Sie werden diese ganze Illusion von Stabilität nicht aufs
Spiel setzen, nur damit alles etwas fairer wirkt. Das Gericht wird ihn
freisprechen. Wenn sie ihn für schuldig erklären – was ich bezweifle –
wird die Muslimbruderschaft das schlichtweg nicht akzeptieren. Das würde
zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und dem übrigen
Ägypten führen. Dabei ist es für Islamisten wie eine Belohnung zu
sterben. Sie glauben, dass sie dann im Namen Gottes sterben, ins
Paradies kommen und dort 70 Jungfrauen auf sie warten. Sie würden es
also begrüßen, im Namen Gottes zu sterben. Das wäre wirklich grausam und
blutig für beide Seiten. An den Auseinandersetzungen würden nur wenige
Zivilisten teilnehmen, hauptsächlich würden sie zwischen Islamisten und
der Armee stattfinden, denn diese steht hinter dem Gericht würde und das
Gerichtsurteil vertreten. Die Islamisten würden sich wie Opfer fühlen,
als hätte man sich gegen sie verschwört. Sie werden für ihren Präsident
kämpfen im Namen Gottes.
N: Der sogenannte “Vater der Revolution” sagte im Interview “Wir
müssen das alte Ägypten wiederfinden. Ägypten ist verloren.” Teilst du
diese Ansicht?
M: Ja, ich teile diese Ansicht sehr. Ägypten ist nicht mehr dasselbe.
Ägypten hat eine Art Krankheit. Als ich vor zehn Jahren hierher zog,
war es ganz anders. Es war schöner, organisierter, wertvoller. Jetzt
will die Muslimbruderschaft Ägypten zu einem islamistischen Staat
machen. Einen Staat ohne Geschmack, ohne Farben, ohne Freude. Ägypten
war ein Land ohne Extremismus. Ich glaube nicht zu übertreiben, aber es
war freier vom Islam selbst. Islam ist nichts schlechtes, ich will damit
sagen, Ägypten war nicht geprägt vom Islam, sondern von seiner eigenen,
einmaligen Kultur. Die Muslimbruderschaft möchte aus Ägypten ein
strengeres Land ohne Freiheit machen und – auch wenn es lächerlich
klingt – sie wollten dem Land ein bestimmtes Aussehen geben: Alle Frauen
verhüllt, alle Männer mit Bart. Ich habe nichts gegen verhüllte Frauen
oder Männer mit Bart, aber ich möchte die Freiheit haben, dies selbst zu
entscheiden. Ich möchte Entscheidungsfreiheit haben. Es ist meine
Freiheit, nicht deine, über mich zu bestimmen.
Ägypten hat seinen Weg verloren. Die Verantwortlichen dafür wissen
selbst nicht, wohin sie gehen. Sie haben keine Ahnung, wohin sie uns
führen. Sie katapultieren und kehren zurück in dunkle Zeiten.
N: Das Lied “Ya el Midan” (= “Oh Platz”) der bekannten ägyptischen
Band Kairokee ist dem Tahrir-Platz gewidmet. In den Lyrics heißt es:
“Manchmal habe ich Angst, dass aus dir nur eine Erinnerung wird. Dass
wir dich verlassen und das die Idee verblassen wird. Dass wir alles
vergessen, was passiert ist. Dass aus dir nur eine Geschichte wird.”
Teilst du diese Angst?
M: sichtlich gerührt Ja, so sehr! Ich habe unglaublich große Angst,
dass wir die Idee vergessen! Nicht, dass wir die Idee vergessen,
sondern, dass wir die Idee aufgeben. Kurz nach der Revolution gingst du
sofort auf die Straße, wenn du hörtest, dass ein einzelner Zivilist
festgenommen wurde. Du hättest die Straßen voller Menschen gesehen, die
diese einzelne Person verteidigen. Jetzt fangen die Menschen an
aufzugeben, nach dem Motto :”Macht doch, was ihr wollt. Es schert mich
nicht mehr.” Die Idee fängt an, den Menschen egal zu werden und das
bringt mich um.
N: Du glaubst, die Menschen fangen an aufzugeben?
M: Leider ja. Nicht alle, aber viele. Es gibt viele Menschen, die nun
sagen, dass Mubarak gut war, weil sie jetzt unter Mursi leiden, der
viel schlimmer ist als Mubarak. Aber das heißt doch nicht, dass Mubarak
gut war.
N: Geben sich die Menschen mit immer weniger zufrieden?
M: Ja. Wenn du erlebst, wie jemand dein Leben immer schlechter und
schlechter macht, fängst du an, zu glauben, dass Mubarak gut war. Er war
kriminell, aber zumindest konnten wir in Frieden und Sicherheit leben.
Das ist so deprimierend, denn nach einer Revolution erwartest du so
etwas nicht. Und warum das alles? Weil wir dieses dumme Regime haben,
dass uns mehr und mehr kontrollieren möchte – nur, um eigene Ziele zu
erreichen: Das Regime der Muslimbruderschaft.
N: Was vermutest du als junger, ambitionierter Demonstrant, was in den nächsten Monaten geschehen könnte?
M: Ich hoffe, dass wir ohne Extremismus und ohne die
Muslimbruderschaft leben können. Das ist meine Hoffnung. Aber ich
vermute, dass ich wahrscheinlich getötet werde oder ins Gefängnis komme.
Ich kann keine Erwartungen hegen, denn alles, was wir von der Realität,
in der wir leben, erwarten können ist, entweder getötet oder
eingesperrt zu werden.
Keine Aussicht auf ein freies Leben, wie ich es kenne.
N: Was ist dein Traum?
M: Mein persönlicher Traum? Ich träume davon, die Geschichte zu
verändern. Nicht im wörtlichen Sinne. Ich träume davon, dass wir eines
Tages ohne Grenzen als eine Nation leben. Ich träume davon, dass wir in
Frieden leben. Ich kann es nicht begreifen, dass wir uns nach all diesen
technischen Fortschritten immer noch bekämpfen. Dass wir wegen
Ressourcen, wegen Land, wegen Rasse, wegen Religion Kriege führen.
Ich träume davon, dass wir diese Geschichte vergessen. Ich träume davon,
dass wir uns eines Tages an diese Zeit erinnern, lachen werden und
sagen: “Wie dumm wir doch waren, uns damals zu bekämpfen.”
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.