Erschienen in Ausgabe: No 87 (05/2013) | Letzte Änderung: 08.05.13 |
von Walther Ch. Zimmerli
Die Formulierung des
Titels ist in verschiedener Hinsicht anstößig:
Allein
schon über technisches Wissen nachdenken zu wollen scheint unmöglich, weil
paradox zu sein; Technik, im Wortsinne aus dem griechischen 'techne'
abgeleitet, scheint mehr mit Können und Kunst als mit Wissen und Kognition zu
tun zu haben. Theoretisches Wissen - gewiss; aber technisches Wissen? Und in
der Tat lebt unsere abendländische epistemologische Tradition von der Differenz
zwischen Technik und Wissen. Wissen, griechisch 'episteme', ist die -
idealistisch oder materialistisch interpretierte - Repräsentation der Welt
durch den Menschen und folgt seit der Antike eher dem Muster des
kontemplativ-beschauenden Erfassens der Welt als dem des technisch-pragmatischen
Umgestaltens. Aber diese scharfe Entgegensetzung, noch bis in die Bildungssysteme
des 19. und 20. Jahrhunderts hinein konstitutiv sowohl institutionell für den
akademischen Betrieb, als auch individuell für das eigene Selbstverständnis,
beginnt zu verschwimmen. Genauer: die Wissenstopologie des 21. Jahrhunderts ist
durch eine tendenzielle Hybridisierung von Wissen und Können, von theoretischer
und praktischer Welterfassung gekennzeichnet. Erneut institutionen-theoretisch
formuliert: spätestens seit sich die Polytechnischen Schulen zu Technischen
Hochschulen und diese zu Universitäten entwickelten, wurde deutlich, dass sich
der Alleinvertretungsanspruch in wissenschaftlicher Hinsicht, den die
klassischen Universitäten erhoben hatten (und zum Teil immer noch erheben),
nicht mehr halten ließ. Interessant wird es sein, als nächsten Schritt das
Zusammenwachsen von (Technischen) Universitäten und Fachhochschulen sowie in
einem dritten Schritt die Annäherung von hochschulischer und dualer Bildung,
das heißt von Wissen und bislang - in den deutschsprachigen Ländern - noch
mittelalterlich-zünftisch organisierte Berufsbildung im Handwerk zu
beobachten. Wenn dieser Punkt erreicht sein wird - dass dies in nicht allzu
ferner Zukunft der Fall sein wird, steht für mich außer Frage -, dann wird der
Wissenshorizont der Moderne sich seinerseits endgültig reflexiv modernisiert
haben.
Aber
noch ein zweites paradoxes Element steckt im Anspruch, den die Titelformulierung
erhebt: Mit der schrittweisen gegenseitigen Durchdringung von Wissen und
Können, traditionell als die Verbindung von „Theorie und Praxis“ verstanden,
geht, durch den Begriff „Hermeneutik“ angezeigt, eine weitere
Grenzüberschreitung einher, nämlich diejenige der seit C. P. Snow so genannten „zwei
Kulturen“.[1] Noch
nehmen wir es als gleichsam gottgegeben hin, dass unser Wissenskosmos in Natur-
und Geisteswissenschaften zerfällt, obwohl bei genauerer Betrachtung ohne
weiteres einleuchtet, dass diese Aufzählung nicht vollständig ist Es fehlen
nicht nur die Technik- bzw. Ingenieurs-, sondern auch die Sozialwissenschaften.
Kurz und plakativ gesagt: wer von „zwei oder drei Kulturen“[2] spricht,
kann nicht bis vier zählen.[3] Der
Anspruch, den die Formel von der „Hermeneutik des technischen Wissens“ erhebt,
ist also auch in dieser Hinsicht anstößig und bedarf der Erläuterung.
Schließlich
taucht als vierter Begriff neben Technik, Wissen und Hermeneutik noch der
Begriff „Bildung“ auf. In der traditionellen, in diesem Falle von
Humboldt geprägten Wissensfigur der Moderne ist dieser Begriff noch eindeutig
mit „Hermeneutik“ und „Geisteswissenschaften“ assoziiert, während die
Naturwissenschaften höchstens am Rande und die Ingenieurswissenschaften oder
gar die Technik gar nicht dazugehörten. Diese verfiel eher dem platonischen
Verdikt der „Banausie“ (das allerdings vermutlich auf einem großen
Missverständnis oder vielleicht sogar Selbstmissverständnis beruht). Dass das
epistemische Tableau sich auch in dieser Hinsicht zu verschieben beginnt, mag
in Formeln wie derjenigen von der „anderen Bildung“ aufscheinen, mit der Ernst
P. Fischer auf die anachronistische Situation aufmerksam zu machen versuchte,
dass auch heute noch naturwissenschaftliches oder gar technisches Wissen im
Gegensatz zu demjenigen, das sich auf Literatur und Kunst bezieht, in Sachen
Bildung nicht hoffähig ist.[4]
Worum es mir im
Folgenden geht, ist eine Klärung dieser Topologie, anders: die Beschreibung
der unterschiedlichen Fronten, an denen die Bildungsschlacht heute geschlagen
wird. Zu diesem Zwecke soll in einem ersten Schritt das Verhältnis von
Hermeneutik und Wissen exponiert werden (I), um dann nach dem Verfahren von
extremal positionierten Begriffspaaren das Ideenfeld des Wissens in seine
Wissenshorizonte gleichsam aufzuspannen (II) und diese schließlich in ein neues
Konzept von wissens- und könnensvermittelnder Bildung einfließen zu lassen
(III).
1
HERMENEUTIK UND WISSEN
Zwei
zentrale Positionen des 17. und 18. Jahrhundert mögen leitmotivartig den
begrifflichen Hintergrund skizzieren, vor dem sich die Wissensstruktur der
Moderne erhebt, ohne allerdings die tiefere Dimension dieser beiden Topoi wahrhaft aufgreifen zu können.
Ich meine damit das Bacon-Prinzip und das Vico-Axiom. Als einer der Ahnväter
der Neuzeit wird - zu Recht - Francis Bacon bezeichnet. Ihm wird nachgesagt,
dass das Theorem „Wissen ist Macht aus seiner Feder stamme. Die Tatsache, dass
sich zwar viele ähnliche Formulierungen bei ihm finden, genau diese aber auf
den ersten Blick nicht, wirkt weniger erstaunlich, wenn man sich klar macht,
dass die von ihm verwendete Formel eigentlich heißt „Wissenschaft selbst ist
Macht“, lateinisch: „ipsa scientia potestas est“, und dass sich dies nicht etwa
im „Novum Organum“ findet, wo man es wohl vermuten möchte, sondern ausgerechnet
in seinen „Meditationes Sacrae“.[5] Bei
zweitem Nachdenken schon zeigt sich, dass diese Formulierung eine doppelbödige
Weisheit enthält einerseits, idealistisch interpretiert, das Grundprinzip der
neuzeitlichen Wissenschaft, es gehe für den Menschen darum, der Natur ihre
Gesetze abzulauschen oder noch etwas härter sie unter der Folter des
Experiments zu zwingen, ihre Geheimnisse zu verraten. Aber das
Bild wäre nicht vollständig, wenn man nicht Francis Bacons andere Überzeugung
hinzunähme: nämlich dass die Natur nicht anders bezwungen werden könne als
dadurch, dass man sich ihr füge: „natura non nisi parendo vincitur“.[6]
Das
zweite große Leitmotiv, über hundert Jahre später von Giambattisto Vico formuliert,
besagt, dass das Wahre und das Gemachte konvergieren („verum et factum convertuntur“,
kurz „verum ipsum factum“).[7] Folgt
man nur der wörtlichen Bedeutung, so handelt es sich hierbei um ein Theorem
zur Einführung der Differenz der zwei Kulturen: als wahr erkennen können wir
Menschen nur das, was wir als Menschen auch gemacht haben, das heißt also
unsere menschliche Sprache und unsere menschliche Geschichte. Anders: Die uns
Menschen zugängliche Wahrheit ist nicht die der Natur und ihrer Wissenschaften;
diese ist uns Menschen auf immer unzugänglich, ein Buch mit sieben Siegeln, in
dessen Inneres, um mit Goethe zu sprechen, „kein erschaffener Geist dringt“.[8]
So
gesehen hätten wir also in diesen zwei Leitmotiven den Aufriss der modernen
Welt in der wissenschaftlichen Weltbeherrschung auf der einen und in der
tieferen Wahrheit der Geisteswissenschaften auf der anderen Seite formuliert
Vom Ende der Moderne her betrachtet, gewinnen diese beiden Topoi aber,
ineinander gespiegelt, eine andere Bedeutung: nur das, was die Menschen selbst
technisch hergestellt haben, kann im Wortsinne 'wahr' genannt werden, und nur
durch diese wissenschaftliche Wahrheit der Herstellung von Natur durch Technik
beherrschen wir die Welt. Oder in einer kurzen Formel, die in unsere
Tableauisierung des Wissens passt: Wissen ist Machen[9], oder
noch einmal anders: die moderne wissenschaftliche Verfügungsutopie über die
Welt realisiert sich in der Fähigkeit die Natur selbst herzustellen. Nicht wie
Kant meinte, das Bewusstsein ist die ursprüngliche synthetische Leistung des
Menschen, sondern die Herstellung der Natur; Philosophie als Wissenschaft wird
zur synthetischen Biologie.[10]
Reflektiert man diesen Gedanken etwas weiter, so sieht man sich dahinter
dessen Antizipation in der kontrafaktischen Grundannahme der christlichen
Theologie abzeichnen, Gott könne die Welt erschaffen, indem er sie anspreche.
Gefiltert durch die Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft und moderner Technik
gelangt diese Vorstellung nun in säkularisierter Form in das Umfeld des mindestens
Simulier-, in einigen Fällen sogar des bereits Machbaren.
Vor
diesem Hintergrund erschließt sich nun etwas anderes noch genauer, was im Gefolge
Giambattisto Vicos in der Moderne mit dem aus der Antike entlehnten Begriff „Hermeneutik“
und als Konsequenz daraus mit demjenigen des „hermeneutischen Zirkels“
bezeichnet wird. Der Begriff „Hermeneutik“, in der griechischen Antike etymologisch
auf die Aufgaben des Götterboten Hermes zurückgeführt, bezeichnete ursprünglich
die Möglichkeit, Gedanken auszudrücken, zu interpretieren oder zu übersetzen.
In ihrer christlichen Gestalt wird sie zur Auslegungskunst zunächst der
Heiligen Schrift, später, in ihrer vorwissenschaftlichen, neuzeitlichen Form
zur „Kunstlehre des Verstehens“[11], also,
wenn man so will, zur technischen Disziplin. Angewendet wurde diese ursprünglich
auf die Lehre vom Verstehen, Deuten oder Auslegen von Kunstwerken, insbesondere
von literarischen Produkten, aber auch von mündlicher Rede, und sie ist damit
das Gegenstück zur Rhetorik, die die Kunstlehre des Ausdrückens in Sprache und
Rede ist. Hermeneutik wie Rhetorik haben es - worauf H.-G. Gadamer
verschiedentlich hingewiesen hat[12] - mit
Wahrscheinlichkeiten, nicht mit der Wahrheit zu tun.
So
betrachtet entwickelt sich die Hermeneutik neuzeitlich zu einer Lehre von den
Voraussetzungen und Methoden sachgerechter Interpretation und insofern zur
Methodologie der Geisteswissenschaften.[13] Doch
damit nicht genug: die Hermeneutik beginnt sich im 20. Jahrhundert als eine
eigene Philosophie des beginnenden „auslegenden Verstehens“ in Gestalt der
Fundamentalontologie Martin Heideggers zu positionieren.[14] Die -
auch für unser Thema - zentrale Idee, in der Hermeneutik von
Wilhelm Dilthey im Gefolge Schleiermachers und Boeckhs „hermeneutischer
Zirkel“[15]
genannt, beschreibt die scheinbar paradoxe Struktur des Verstehensprozesses
selbst: das Ganze muss aus dem Einzelnen, das Einzelne aber aus dem Ganzen
heraus verstanden werden. Bei erneuter Reflexion zeigt sich allerdings, dass
der Begriff des Zirkels nur prima facie plausibel ist, dass bei näherem Zusehen
indessen eher das Bild einer Spirale passen würde: Jeder Text, aber auch jede
Lebenssituation, die es auszulegen gilt, trifft zunächst einmal auf eine
Vormeinung, die sich aus unserer außerwissenschaftlichen Weltsicht ergibt In
Annahme der Meinung, es lasse sich von den Teilen aufs Ganze schließen, unternimmt das Subjekt eine Teilanalyse der Situation,
die ihrerseits das höherstufige System, das vermeintliche Ganze also, induktiv zu erfassen versucht. Die so (wenn auch nur
provisorisch) gestützte Plausibilität der Vormeinung erlaubt dann wieder, auf
die Teile zurückzuschließen, sodass in der Tat eine kreisförmige Bewegung des
Insichzurückkehrens der Vormeinung und der zwischenzeitlich aus dem Blick
geratenen Annahme über das Ganze und seine Teile gespeist wird. Wie leicht zu
sehen ist, wird dieser Prozess rekursiv, d.h. er führt in sich und in seinen
Ausgangspunkt der investierten Vormeinung zurück, verändert diesen aber
erheblich. Das Resultat dieses hermeneutischen Zirkels ist daher niemals die
vollständige Repräsentation der Welt im Wissen, sondern es handelt sich dabei
um einen stetigen Prozess, der - so betrachtet - nie ans Ziel kommt, dafür aber
ziemlich genau das Verstehen und seine Genese beschreibt.
Dieser hermeneutische
Zirkel des Verstehens lässt sich allerdings in einer heuristischen Erweiterung
auch als eine Überschreibung eines strukturanalogen Prozesses betrachten, in
dem es nicht nur um Verstehen, sondern eben auch um das Verhältnis von Wissen
und Können geht Diesen zweiten hermeneutischen Zirkel könnte man als denjenigen
des technischen Wissens bezeichnen: Ausgehend von der Fähigkeit etwas zu tun, die wir als 'Können' bezeichnen, tritt unsere
Welterfassung und -gestaltung über das Anwenden von vorausgesetztem Können und
dessen Optimierung durch das gezielt einzubeziehende Wissen in eine zu
derjenigen des Verstehens analoge rekursive Spirale ein, in der die Investition
von Wissen in Können auf einer nächsten Ebene zur Reflexion von Wissen und
Können führt, die ihrerseits wiederum eine optimierte Form des Wissens und
Könnens anstrebt. Die von Popper stammende fallibilistische Grundannahme, die
sich auch auf dieses dialektische Modell von Hermeneutik beziehen lässt, wird
von Gerhard Vollmer in die eingängige Formel „Wir irren uns empor“[16] gefasst.
Übertragen auf den zweiten hermeneutischen Zirkel der Anwendung von Wissen und
Können, würde eine entsprechende Formel heißen müssen: „Wir üben uns empor“, da
die schrittweise Imprägnierung von Können durch Wissen letztlich zu einer
Optimierung des Könnens führt.
2
WISSENSHORIZONTE
Technisches
Wissen zeichnet sich also dadurch aus, dass es eine eigene Optimierungsstruktur
über die gegenseitige Erweiterung von Wissen und Können erreicht. Die Verbindung
von Bacon-Prinzip und Vico-Axiom zur Formel „Wissen ist Machen“ weist in diesem
Zusammenhang die beschriebene hermeneutische Doppelhelix-Struktur auf.
Um
diese aber als Wissensformation des ausgehenden 20. und beginnenden 21.
Jahrhunderts noch besser verorten zu können, muss sie in das Tableau der
Wissenshorizonte eingeordnet werden, die das ausmachen, was wir 'Moderne'
nennen, und die sich durch drei Paare von Extremalbegriffen beschreiben lassen:
„Glauben und Wissen“, „Wissen und Machen“ sowie schließlich „Machen und
Nichtwissen“.[17]
Die
Globalisierung, die das 21. Jahrhundert bestimmt, hat uns über einen Zusammenhang
belehrt, der in Europa seit der Aufklärung aus dem Blick geraten war, da man
ihn für überholt hielt: Es ereignet sich weltweit ein neuer Glaubenskrieg, ein
Dschihad gegen das westliche Wissen, das zugleich Weltwissen ist
Hauptwortführer dieses Glaubenskrieges sind daher denn auch Glaubenskulturen,
die das Weltwissen grundsätzlich ablehnen. Dadurch erlebt der nachaufklärerisch
für überholt gehaltene Gegensatz von Glauben und Wissen eine zweite Blüte, mit
der die Charakteristika einer erheblich verhärteten Frontstellung, und zwar
bis hin zu kreuzzugartigen Entwicklungen, verbunden sind. In der Tat gibt es ernstzunehmende Zeitdiagnostiker, die darauf
hinweisen, dass wir beim Versuch, die Differenz in der Entwicklung der drei
verschiedenen mosaischen Religionen, also zwischen Judentum, Christentum und
Islam, festzuhalten, im Islam heute eine Phase entdecken, die derjenigen der
Kreuzzüge des Christentums entsprechen.[18] Der „Polytheismus
der Werte“, den Max Weber unter expliziter Bezugnahme auf Mill für das
aufgeklärte 20. Jahrhundert in Europa diagnostiziert hatte, ist also eingetreten,
und zwar in seiner härtesten, von Max Weber als „unlöslicher Kampf beschriebenen
Gestalt[19]: Es
existiert ein Antagonismus der Werte. Es ist nämlich in der Tat
so, dass wer im Sinne der Toleranzforderung der europäischen Aufklärung andere
Werte duldet, sich nicht zu wundern braucht, wenn sich darunter auch solche
Werte finden, die man nicht dulden kann. Man muss sich eben darauf gefasst
machen, dass es „weniger nette Religionen“ als diejenigen gibt, die man bei der
Toleranzempfehlung im Blick hat.[20] Der
unsere Gegenwart im Gefolge von Max Webers Polytheismusthese kennzeichnende
Antagonismus der divergierenden Werte führt heute nicht nur zur Anerkennung von
Vielheit, sondern zum Multikulturalismus. Mit anderen Worten: im 21.
Jahrhundert dulden wir nicht nur Vielheit, sondern fordern sie geradezu. Das
pflegen wir dann „Pluralismus zweiter Ordnung“ zu nennen. Dieser ruft nach
einer Gesellschaft, in der unterschiedliche Wertsysteme, unterschiedliche
Meinungen, unterschiedliche Religionen koexistieren nicht nur dürfen, sondern
geradezu sollen.[21]
Das
Wissen, gegen das sich in der Globalisierung die Frontstellung von Glauben und
Wissen erneut formiert, ist genau das wissenschaftlich-technische Wissen, um
dessen Analyse es uns geht. Deswegen muss das Begriffspaar, auf das wir bereits bei der Analyse der beiden großen
frühneuzeitlichen Positionen gestoßen waren, nämlich das Begriffspaar von
Wissen und Machen nun einer genaueren Analyse unterzogen werden. Die
Hybridisierung des Bacon-Prinzips („Wissen als Wissenschaft ist Macht“) und des
Vico-Axioms („Nur das ist als wahr erkanntes Wissen, was wir selber machen
können“) findet im 21. Jahrhundert eine neue Bestätigung: Weil wir auch die
Natur im Zuge der Technologisierung unserer Welt nun - jedenfalls partiell -
selber machen, können wir sie auch besser verstehen. Das wird besonders
deutlich an der informationellen Technologisierung der Welt die dazu führt
dass wir seit der Mitte des letzten Jahrhunderts beginnen, ein Weltverständnis
zu entwickeln, das uns erlaubt, sie als Imitation zu verstehen. Alles das
aber, was wir technologisch imitieren können, können wir auch machen. Das ist
jedenfalls das Prinzip der Turingmaschine, benannt nach dem Mathematiker Alan
Turing, der es - parallel zum Turingtest oder Imitationsspiel - entwickelt hat[22], um
damit zweierlei zu sagen: einerseits, dass eine Maschine denkbar ist, die
dadurch definiert ist, dass sie alles imitieren kann, was andere Maschinen
leisten können, und anderseits, dass sich operative Maschinendefinitionen von
Denken geben lassen: Wenn man nämlich die Leistungen einer Maschine von den
kognitiven Leistungen eines Menschen nicht mehr unterscheiden kann, gibt es
nach Turing keinen Grund, warum man nicht sagen könne, die Maschine denke. Das
war - in dieser Form von fast niemandem in der Diskussion bemerkt - der Übergang
zu einer Wissenskultur denkender Maschinen.
Gewiss,
damit war erst ein Anfang gemacht, und das Imitationsspiel bezog sich noch
ausschließlich auf individuelle Menschen, die einzelne Maschinen bedienten. Heute
dagegen befinden wir uns längst in einer Situation, die durch Vernetzung dieser
Maschinen und Vernetzung der sie bedienenden Menschen gekennzeichnet ist. Nach
der Zeit der Diskussion um Artificial Intelligence (AI) haben wir jetzt die
Phase einer Distributed Artificial Intelligence (DAI) erreicht. Diese ist durch
die Möglichkeit gekennzeichnet, über alle in das weltweite Netz von
miteinander verknüpften Computern integrierten Knotenpunkte Zugriff auf alles
in diesem Netz repräsentierte Wissen zu erhalten. In Bezug auf den Turingtest
formuliert: Wir leben in einer Phase der Ausdehnung des Imitationsspiels auf
die ganze Welt. Das bedeutet dass wir - im Prinzip - alle Wissensbestände der
ganzen Welt in unserer eigenen technologischen Wissensrepräsentation wieder
finden und für unsere traditionelle Wissensrepräsentation nutzen können.
Allerdings
stellt sich damit eine alte Grundfrage der Erkenntnistheorie wieder neu: die
Frage nach der Wirklichkeit. Bisher haben wir ja von Imitationen gesprochen.
Also von einer Modellierung der Wirklichkeit. Wie steht es aber mit dieser
selbst? Hier geht es um Tests, die die Frage beantworten lassen: Stimmen diese
Projektionen, Imitationen und Modellierungen? Die Antwort die das neuzeitliche
wissenschaftliche Wissensmodell darauf gab, war das Experiment und seit dem
19. Jahrhundert explizit das Laborexperiment. Die Erfindung des Experiments
wird - zwar wissenschaftshistorisch zu Unrecht - Galileo Galilei zugeschrieben,
und das ist allen Einschränkungen zum Trotz, systematisch auch nicht ganz
falsch. Mit der Transformation des Experiments zum Laborexperiment im engeren
Sinne jedoch wird eines ganz klar. Die Laborbedingungen sind andere als
diejenigen der Wirklichkeit. Im Labor blenden wir alle störenden realen
Faktoren geradezu aus; wir konstruieren eine Wirklichkeit und testen unsere
konstruierten Vermutungen an dieser konstruierten Wirklichkeit. Wir nehmen
dabei normalerweise eine mechanistische und stark reduktionistische Vorstellung
von Natur und damit auch von Leben in Kauf, und genau diese stark
reduktionistische, mechanistische und deterministische Vorstellung erlaubt
uns, unter künstlichen Laborbedingungen zu testen, ob unsere Vermutungen
darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält zutreffen oder nicht.
Heute
erleben wir nun erstaunlicherweise, um es pointiert zu formulieren, eine Wiederkehr
des Lebens. Und das ist nicht deswegen der Fall, weil die Standardüberprüfungsform
von Hypothesen im Laborexperiment vollständig obsolet würden, sondern weil sich
eine Tendenz zeigt, auch das Laborexperiment zu informatisieren. Man braucht
sich nur einmal etwa die Labors der Molekularbiologen anzusehen, um
festzustellen, dass es zwar die Petrischalen und chemischen Reaktoren weiterhin
gibt, dass diese aber durch intelligente Maschinen ergänzt und zum Teil auch
ersetzt werden, die mindestens den kombinatorischen Teil der Genetik ausrechnen
und in gewissem Sinne auch testen. Das Leben aus der Retorte ist in Tat und
Wahrheit immer auch eine Computersimulation. Überall zeigt sich dasselbe Muster
Das Bild, das Simulacrum, wird auf dem Rechner hergestellt, und die Operationen
finden im informationellen Raum statt. Der mechanische Determinismus der
Biologie des 19. Jahrhunderts wird sukzessive durch einen informationellen
Determinismus der Biotechnologie ergänzt.
Hier
finden erneut Weltanschauungsschlachten statt, die an diejenigen erinnern, die
sich um den Darwinismus entzündeten. Man denke nur etwa an die neu entfachte
Debatte um Hirnforschung und Willensfreiheit, die gegenwärtig nicht mehr nur an
der genetischen und molekularbiologischen, sondern vordringlich auch an der
neurobiologischen Front tobt.[23] Alles
das macht jedoch seinen Sinn nur vor dem Hintergrund des - allerdings
scheiternden - Versuches, das Neue zu verstehen, das sich in der Einlösung des
frühmodernen Versprechens „Wissen ist Machen“ ausdrückt.
Das
aber lässt nun erforderlich werden, ein drittes Begriffspaar in die
topologische Betrachtung des technologischen Wissens einzuführen, nämlich das
Begriffspaar von „Machen und Nichtwissen“. Und dazu ist es zunächst einmal
hilfreich, sich klar zu machen, dass wir uns schon im 20. Jahrhundert von
Kumulationsmodell des Wissens verabschiedet haben, das der Überzeugung
Ausdruck verleiht wir könnten, wenn wir immer mehr wissen, irgendwann einmal
alles wissen. Schon Popper hatte ein zeittheoretisches Standardargument gegen
diese Annahme geltend gemacht: Wenn wir nämlich einmal alles wissen würden,
dann würden wir auch wissen, was wir in Zukunft wissen werden. Das aber ist ein
Widerspruch, denn wenn wir jetzt schon wüssten, was wir in Zukunft wissen
werden, wäre es nicht das, was wir in Zukunft wissen, sondern was wir bereits
jetzt wissen.[24]
Das
aber heißt, dass wir das Kumulationsmodell des Wissens durch ein anderes ersetzen
und damit die Leitmetapher der weißen Flecken auf der Landkarte durch diejenige
der fraktalen Geometrie ergänzen müssen: Mit jedem Stück Wissen nämlich, das
wir uns aneignen, schrumpft nicht etwa der Bereich des Nichtwissens, sondern er
wächst, indem jede gelöste Frage unter Bedingungen des technologischen Wissens
zugleich auch eine technologische Umsetzung bedeutet, und das wiederum hat zur
Folge, dass sich mit jeder beantworteten Frage neue Fragen bilden. Die Dynamik
des Wissens folgt also eher dem Hydramodell: Jeder Nichtwissenskopf, den wir
nicht etwa nur mit einer Antwort, sondern mit deren technologischen
Realisierungen abhauen, lässt beliebig viele neue Nichtwissensbestände nachwachsen,
und das bedeutet, dass jedes angewandte wissenschaftliche Wissen, das technisch
umgesetzt ist, eben dadurch, dass es realisiert wird, selbst zum Generator von
neuen ungelösten Problemen wird. Um sich das zu vergegenwärtigen, muss man nur
etwa an die Problematik der Technikfolgenabschätzung, an die Komplexität des
Nachhaltigkeitsthemas o.a. erinnern. In der Wissenschaftssoziologie hat sich
dafür der Terminus „Wissen vom Modus 2“[25]
eingebürgert, und das bedeutet, dass wir uns in eine Wissenskultur und auch in
eine Wissensorganisation hineinbewegen, die anders strukturiert ist als die,
die wir zu kennen glauben. Sie belässt Wissen im Diskurs, gibt nur vorläufige
Antworten und konzentriert sich stärker auf den Prozess, der in „invisible
Colleges“ stattfindet. Diese bestehen aus Personen und Interaktionen, die sich
nicht an feststehende Institutionen knüpfen, sondern sich ad hoc zusammenfinden
und eben so auch wieder auseinander gehen können. Es handelt sich dabei um
Zukunftlabors, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht wie die
traditionellen Labors einem der Grundprinzipien aller Institutionen gehorchen,
nämlich sich, wenn sie einmal gegründet sind, im Regelfalle selber am Leben zu
erhalten.
Das
Nichtwissen erobert somit zwar den Bereich des Wissens im Sinne des Machens,
wird aber dadurch zugleich selbst erobert Verfahren, wie wir Nichtwissen handhaben
können, nennen wir 'Management', und dem sich daran entzündenden Interesse
entspricht eine in den letzten zwei Jahrzehnten sprunghaft anwachsende
Forschungsliteratur zum Thema 'Ignorance'.[26]
In
diesen Zusammenhang gehört auch die Formel, wir lebten in einer Wissensgesellschaft
Wenn man damit meint, dass die Individuen heute mehr wüssten als frühere Generationen,
ist das schlicht falsch, obwohl dieses Missverständnis weit verbreitet ist. Viel
eher ist gemeint dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir wissen, wo
wir linden können, was wir nicht wissen. Dieses aber ist nach Georg Simmel die
Bedeutung von „Bildung“.[27] Die
Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist eine Nichtwissensgesellschaft: Je
mehr Wissen wir potenziell zur Verfügung haben, desto weniger wissen wir selbst.
Dafür können wir mehr, wir können in dem uns verfügbaren Wissen des Netzes
navigieren, wir verfügen also über Wissens-Navigationsfähigkeiten, anders: über
Fähigkeiten, unser Nichtwissen zu managen. Kurz und formelhaft formuliert:
Heute ist die technologische Zivilisation ein Teil unserer Gegenwartskultur
geworden; galt bisher Simmels erwähnte Bestimmung, gebildet sei, wer wisse, wo
er finde, was er nicht wisse, gilt nun genauer: Gebildet ist wer weiß, wie er
oder sie es managen kann, zu machen, was er oder sie nicht weiß.
3
VERMITTLUNG VON WISSEN ALS MACHEN:
BILDUNG
Die
Hermeneutik technischen Wissens, die auf der Einsicht beruht, dass Wissen in
Wahrheit Machen ist, hatte sich uns als der kontinuierliche rekursive
Verbesserungsprozess von Wissen durch Können und von Können durch Wissen
dargestellt. Dieser Prozess allerdings ereignet sich nicht von selbst sondern
seine pragmatische Implementierung in einer Gesellschaft geschieht
institutionell und inhaltlich durch Weitergabe des Wissens und Könnens. Was in
den frühneuzeitlichen Wissenskulturen noch als handwerkliche Wissensweitergabe
auf der einen und kognitive Wissensweitergabe auf der anderen Seite entstanden
war, liegt uns heute noch in Reliktform vor, was die unterschiedlichen
Institutionen betrifft, die an der Wissensweitergabe beteiligt sind. Die
Formel, die im - jedenfalls deutschsprachigen - Europa dafür steht ist die der „dualen
Bildung“. Gemeint ist damit das noch aus dem Mittelalter herübergerettete
zweigleisige System, in dem Zünfte, Gilden und Handwerkskammern auf der einen
und Schulen, Hochschulen und Universitäten auf der anderen Seite die
Verantwortung für die Qualifikation der nächsten Generationen übernahmen.
Dieses System, in der Vergangenheit ausgesprochen erfolgreich, sieht sich nun
allerdings gerade angesichts der hybridisierten Struktur des technologischen
Wissens vor ganz neue Herausforderungen gestellt zu deren Bewältigung es noch
wenig neue Konzepte gibt. Auf eine Formel gebracht: Wenn das bisher über die
hermeneutische Optimierungsform von Wissen und Können auf der einen und die
Konvergenz von Wissen und Machen auf der anderen Seite Entwickelte zutrifft,
dann gilt dass die beiden Systeme, von denen das Eine dem Können, das Andere
dem Wissen diente, sich immer stärker aufeinander zu bewegen müssen: Auf der
Seite der Lehrlings- und Meisterausbildung zeigt sich eine massive
Unterwanderung des reinen handwerklichen Könnens durch wissenschaftliches
Wissen, auf der Seite der Schulen, Hochschulen und Universitäten eine starke
Tendenz zu mehr Praxis und Wirtschaftsnähe. In beiden Bereichen geht dies
einher mit einer Tendenz zur Tertiarisierung und Quartärisierung, die sich in
die Formel „Akademisierung des lebenslangen Lernens“ zusammenfassen lässt.
Darüber hinaus gilt dass vom Lebenszyklus her gesehen, Bildung heute nicht mehr
nur eine Vorbereitung aufs Leben, sondern integraler Bestandteil des Lebens
selbst geworden ist, d.h. die Trennung „Zuerst Bildung bzw. Ausbildung, dann
Berufspraxis bzw. Leben“ ist so nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Wie
überall stellt das entscheidende Hindernis für die Einsicht in diese Veränderung
der Erfolg des Bestehenden dar, auf den die Apologeten von Vergangenheit und
Gegenwart sich denn auch immer berufen. Die Aufgabe des Wissenschaftlers und
Philosophen ist es in dieser Situation nicht Bekehrungsstrategien zu
entwickeln, sondern die eigene Einsicht mit guten Argumenten zu untermauern. Ob
diese gehört und gar internalisiert werden, ist eine ganz andere Frage.
Um
nun die argumentative Plausibilität einer Hybridisierung von Wissen und Können
auf dem Hintergrund der Einsicht, dass Wissen heute vorwiegend Machen ist, zu
erhöhen, mag es sinnvoll sein, sich in einer Art von longitudinalem
Früher-Jetzt-Vergleich die auch institutionelle Entwicklung von Lern- und
Arbeitswelt zu vergegenwärtigen.
Was
war Bildung früher? Früher - und das hielt noch bis in die Mitte des vergangenen
Jahrhunderts, in einigen Ländern sogar noch bis heute an - war Bildung absolutes
Privileg einiger ausgewählter Menschen, die hauptsächlich aus den oberen Schichten
stammten. Im Grundsatz schon seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht,
faktisch aber spätestens seit dem Beginn der oben analysierten
Wissensgesellschaft, beginnt sich das gravierend zu verändern. Bildung, und
zwar wissenschaftlich-technische Bildung, wird heute zunehmend zum
Grunderfordernis buchstäblich fast jeglicher Berufsausübung. Das kann man an
der zunehmenden Akademisierung aller beruflichen Aktivitäten sehen, und erneut
gilt, dass wir im zentraleuropäischen Vergleich dort eher hinterherhinken. Das
lässt sich am leichtesten an einer Sparte illustrieren, die in den vergangenen
Jahren immer wieder für Aufmerksamkeit und Debatten sorgte: die Gesundheitsberufe,
und hier besonders diejenigen der Pflege. Mit einigen Ausnahmen sind nämlich
die Pflegewissenschaften an den Universitäten im deutschsprachigen Bereich
(noch) nicht beheimatet. Außerhalb dieses Bereichs kommen sie allerdings
international auch an akademisch hochrenommierten Hochschulen prominent vor.
Hierzulande werden sie jedoch mit anti-akademischen Ressentiments bekämpft,
und es fallen ironische Sprüche wie der von der „promovierten Krankenschwester“.
Wenn man sich aber klar macht, in wessen Hände man sich begibt, wenn man etwa in
eine Klinik eintritt, und wenn man sich darüber hinaus noch klar macht wie hoch
die auch wissenschaftlichen Anforderungen an die Qualifikation des
Pflegepersonals ist dann sieht man, dass es dringend erforderlich ist, hierfür
akademisch hochqualifizierte Personen zu gewinnen. Und wenn das eigene System
das nicht hergibt muss man dieses Personal eben aus dem Ausland importieren,
und schon gerät man auf den „slippery slope“ der weltwirtschaftlichen
Migration: Letztlich bleiben auf diese Weise gerade die ärmeren Länder auf den
Kosten der Ausbildung sitzen, von der die reicheren Länder dann profitieren.
Ein
im deutschsprachigen Bereich weit verbreitetes Vorurteil besagt darüber hinaus,
'Eliten' bedeute, dass es von dem Gebildeten nur ganz wenige geben dürfe. Das
ist aber falsch. Das war schon 1964 falsch, als Georg Picht sein damals
aufsehenerregendes Buch über die deutsche Bildungskatastrophe veröffentlichte[28],
in dem er u. a. darauf hinwies, dass das deutsche Bildungssystem auf den
Kollaps zusteuere, wenn es nicht von dem absurden Vorurteil, dass Bildung etwas
für ganz wenige sein müsse, Abschied nehme. Obwohl heute klar ist, dass Picht
Recht hatte, hört man immer noch, es gebe zu viele, die im tertiären
Bildungssystem ausgebildet würden, ganz besonders aber gebe es zu viele
Studierende an den Hochschulen. In Tat und Wahrheit ist das Gegenteil der Fall.
Der deutschsprachige Bereich hat im internationalen Vergleich einen riesigen
Nachholbedarf - duales Bildungssystem hin oder her. Selbst wenn wir alle
tertiären Ausbildungsabschlüsse zusammenrechnen, kommen wir nicht über 60
Prozent, wir brauchten aber 75 Prozent um in Zukunft international
wettbewerbsfähig zu sein.
Vor
dem Hintergrund des technologischen Wissenstypus, der in immer stärkerem Maße
unser Bildungssystem dominiert, bedeutet dies aber zugleich, dass auch die
Grenzen zwischen Bildung (also dem, was man braucht, um nach dem humanistischen
Ideal ein ganzer, guter Mensch zu werden), Ausbildung (also dem, was man
braucht, um ein erfolgreicher Professional zu werden) und Weiterbildung (also
dem, was man braucht, um ein erfolgreicher Professional zu bleiben) zunehmend
verschwimmen.
Das
wird deutlich, wenn wir noch einmal einen Blick auf die Institutionen von Lernen
und Arbeiten werfen: Während früher die Güterproduktion in den Fabriken und
Werkstätten, die Wissensproduktion aber in den Hochschulen geschah, und während
früher das Lernen vom ersten bis zum fünfundzwanzigsten
Lebensjahr stattfand, um dann das so Gelernte im Rest des Lebens anzuwenden,
gilt heute etwas Anderes: Ein genauerer Blick in die heutige Wirtschaft und
Wissenschaft zeigt, dass das, was dort geschieht, sich mit der Formel „wissensgestützte
Produktion von Gütern und Dienstleistungen in den Unternehmen“ versus „umsetzungsorientierte
Wissensproduktion in den Hochschulen“ beschreiben lässt.
Es
bedarf keiner großen Phantasie, um dies in die Zukunft zu extrapolieren: Morgen
werden wir einen Zustand haben, in dem die Wissensproduktion für wirtschaftlich
erfolgreiche Innovationen in den Unternehmen geschieht die daher auch
zunehmend zu „Lernfabriken“ werden, während eine stärker umsetzungsorientierte
grundständige wissenschaftliche Berufequalifikation durch die Schulen,
Berufsschulen, aber zunehmend auch durch die Hochschulen („Bachelor“ als erster
berufsqualifizierender Abschluss) geschieht. Als Konsequenz zeichnet sich eine
arbeitsteilige Symbiose von disziplinärer Erstqualifikation durch Hochschulen
und disziplinenübergreifender Weiterqualifikation in den Unternehmen und
Betrieben ab, was sich bereits an der Herausbildung von unternehmensinternen
tertiären Einrichtungen zeigt die ihrerseits in Hochschulnetzwerke eingebunden
sind. Dass die Apologeten des Bestehenden davon nichts wissen (oder wissen
wollen) ist zwar verständlich, aber nicht hilfreich.
Dies
sind die institutionellen und inhaltlichen Konsequenzen davon, dass die Bildung
sich zunehmend als kontinuierlicher Verbesserungsprozess des hermeneutischen
Typs technischen Wissens herausstellt. Wir befinden uns - ob es den falschen
Propheten Humboldts nun gefällt oder nicht - längst in einem Bildungsmarkt in
dem der „garstig breite Graben“ zwischen Wissenschaft und Wirtschaft sich
dadurch zu schließen beginnt, dass das alte, angebotsgetriebene curriculare
Modell von Bildung ersetzt wird durch ein neues modularisiertes,
nachfrageorientiertes Modell. Und das bedeutet dass neben den im engeren Sinne
fachlichen Kompetenzen von Berufstätigen auch die Schlüsselqualifikationen und
überfachlichen Qualifikationen in stärkerem Maße angeboten werden müssen, weil
die Nachfrage nach ihnen exponentiell wächst.[29]
Allein dies schon ist ein Indikator dafür, dass das berufliche und das akademische
Ausbildungssystem an dieser Stelle zusammenwachsen: Vorwiegend
im Bereich der Bachelorstudiengänge und der beruflichen wie akademischen Weiterbildung
zeigt sich, dass die Schlüsselqualifikationen und die überfachlichen
Kompetenzen sich weitgehend angleichen. Ohnehin werden nur 10 bis 20 Prozent
dessen, was man zur Ausübung seines Berufes, und zwar spezifisch in
Führungsfunktionen, benötigt, im System der formellen Bildung erworben. Der
Rest entsteht „learning by doing“, durch „training on the job“,
berufsbegleitende Weiterbildung etc.
Kurz: Die scheinbare
Paradoxie in der Vorstellung, dass Technik etwas mit Wissen und beides etwas
mit Hermeneutik und alle drei etwas mit Bildung zu tun haben sollten, löst sich
auf, wenn man sich klar macht, dass diese Anstößigkeit darauf zurückzuführen
ist, dass wir eine sich verändernde Realität von heute immer noch mit den
terminologisch-begrifflichen und institutionellen Mitteln von gestern zu
begreifen versuchen.
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[1]
Snow 1987.
[2]
Lepenies 2006.
[3]
Zimmerli 1990, S. 10-17.
[4]
Fischer 2003.
[5]
Bacon 1597, S. 79.
[6]
Bacon 1620, S. 157.
[7]
Vico 1710, S. 34; vgl. dazu Fellmann 1978.
[8]
Goethe 2007, S. 105.
[9]
Zimmerli 2005.
[10] Winnacker 1990.
[11] Vgl. Dilthey 1900, Gadamer
1980.
[12] Vgl. Gadamer 1971, bes. 63 et
passim.
[13] Vgl. Gadamer/Boehm 1978.
[14] Heidegger 1993.
[15] Dilthey 1900, S. 330; vgl.
Maraldo 1997.
[16]
Vollmer 1995, S. 4-6.
[17]
Vgl. Hierzu und im Folgenden Zimmerli 2008.
[18]
Meier 2006.
[19]
Weber 1982, S. 603 und vgl. Schluchter 1996, S. 223-255.
[20]
Spaemann 1984, S. 172.
[21]
Vgl. Zimmerli 1993 und ders. 2006.
[22]
Turing 1950, S. 433-460, dt. in: Zimmerli/Wolf 1994, S. 39-78.
[23] Vgl. Roth 1994; Singer 2002;
Roth/Singer 2003.
[24]
Popper 1965, XI f.
[25]
Nowotny 1997.
[26]
Vgl. Dovring 1998; Walton 1996.
[27]
„Gebildet ist, wer weiß, wo er findet, was er nicht weiß.“ (Georg Simmel,
1858-1918 zugeschrieben.
[28]
Picht 1965.
[29]
Zimmerli 2009.
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