Erschienen in Ausgabe: No 89 (07/2013) | Letzte Änderung: 20.06.13 |
von Michael Lausberg
Bei einem von Neonazis verübten
Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus der türkischstämmigen Familien Genc und
Ince am 29.5.1993 in Solingen starben fünf Menschen. Hülya Genc, Gülüstan
Öztürk und Hatice Genc verbrannten, Gürsün Ince und Saime Genc starben nach
einem Sprung aus dem Fenster. Ein sechs Monate alter Säugling, ein dreijähriges
Kind und ein Jugendlicher wurden mit lebensgefährlichen Verbrennungen ins
Krankenhaus gebracht, überlebten aber den Anschlag. 14 weitere Menschen
erlitten schwere Verletzungen. Die türkischstämmigen Familien Genc und Ince
lebten zu diesem Zeitpunkt mehr als 20 Jahre lang in Solingen.
Ob die Morde mit der kurz zuvor
beschlossenen Verschärfung des Asylrechts in einem Zusammenhang standen, wird
bis heute umstritten diskutiert. Die jugendlichen Täter stammten zum Teil aus
der Nachbarschaft und konnten wenige Tage nach dem Anschlag gefasst werden.
Drei der vier Täter waren Mitglied in einer Solinger Kampfsportschule, deren
Leiter Bernd Schmitt Kontakte zur neonazistischen „Nationalistische Front“
unterhielt. Gleichzeitig war Schmitt auch als V-Mann für den Verfassungsschutz
tätig. Diese Fakten führten die Äußerungen des damaligen Solinger
Bürgermeisters, Bernd Krebs (CDU) ad absurdum, der wenige Tage nach der Tat
erklärte, dass es in der Stadt „kein rechtsextremes Potential“ gebe.[1]
Der damalige Bundeskanzler
Helmut Kohl kam nicht persönlich nach Solingen, sondern schickte seinen
Parteifreund und damaligen Innenminister Rudolf Seiters vor. Damit wurde eine
Chance verpasst, um gegenüber den Angehörigen der Opfer und der Öffentlichkeit
ein Zeichen der Solidarität gegen rechte Gewalt zu setzen.
Die vier Angeklagten wurden
mehr als zwei Jahre nach der Tat vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu
langjährigen Haft- oder Jugendstrafen verurteilt.
Die Familie Genc setzte sich
nach den Morden in der Öffentlichkeit für ein friedliches Zusammenleben in
Solingen und anderswo ein. Diese Haltung stand Pate für den mit 10.000 Euro
dotierten Genc-Preis für friedliches Miteinander, der 2008 kurz vor dem
Jahrestag der Morde im Solinger Theater- und Konzerthaus erstmals vergeben
wurde.
Der Umgang der Stadt Solingen
mit dem Gedenken an die Morde löste scharfe Kritik aus. Ein Beschluss des Rates
der Stadt sah vor, dass im Zentrum der Stadt ein Platz für ein Mahnmal gefunden
werden sollte. Dieser Beschluss wurde nachträglich mit der Begründung
revidiert, dass dies den „sozialen Frieden“ in der Stadtmitte nicht gefährden
solle. Schließlich wurde ein Mahnmal außerhalb des Zentrums errichtet. Auf dem
Grundstück des abgebrannten Hauses wurde ein Gedenkstein mit den Namen der
Opfer installiert. 1998 legten die Stadt und der Verein SOS-Rassismus dort
Terrassen an und pflanzten symbolisch für die Opfer fünf Kastanien an.[2]
Die Überlebenden haben bis
heute mit den Folgen der Tat zu tun, medizinische und psychologische Hilfe auch
finanziert durch Spenden sind weiterhin notwendig
Zum Gedenken des mörderischen
Brandanschlags vor 20 Jahren finden am 28.5 in Solingen Theateraufführungen,
Lesungen und musikalische Darbietungen mit dem Oberbürgermeister, der Solinger
DITIB-Moscheegemeinde und des Bündnisses für Toleranz und Zivilcourage statt.
Einen Tag später wird die offizielle Trauerfeier durchgeführt, an der als
Vertreterin der Bundesregierung die Staatsministerin Maria Böhmer und für die
NRW-Landesregierung die stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann
teilnehmen soll. Weiterhin sind Veranstaltungen und Demonstrationen von
Migrantenorgansationen und antifaschistischen Gruppen geplant.
Selbst
bei der bestmöglichen Absicht besteht die Gefahr, dass das Gedenken an die
Morde auf die Aufarbeitung der Vergangenheit reduziert wird und der
gesellschaftliche Rassismus der Gegenwart wenig Beachtung findet. Diese
Historisierung war bereits bei den Gedenkveranstaltungen in Rostock-Lichtenhagen
2012 und anderen Gedenken in der jüngeren Vergangenheit zu beobachten. Laut
nordrhein-westfälischem Landesintegrationsrates (Laga)[3]
sind aus den Morden von Solingen bisher nicht die notwendigen politischen Konsequenzen
gezogen worden. Der Laga-Vorsitzende Tayfun Keltik erklärte: Dieser Anschlag
ist zwar rechtlich, aber nicht politisch aufgearbeitet worden.“[4]
Soziale Probleme in der BRD werden von
Politikern ethnisiert und dadurch Rassismus befördert. Der Direktor des
Zentrums für Türkeistudien, Haci-Huli Uslucan, bemerkte, dass die Morde von
Solingen für viele Migranten zu „einem Trauma“ geworden sind.[5]Zwischen 40 bis 50 Prozent der
türkischstämmigen Migranten fühlen sich derzeit in der BRD diskriminiert.
Die
im Jahre 2012 von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie über
extrem rechte Einstellungen in der Bundesrepublik zeigt eindeutig, dass der
gesellschaftliche Rassismus nach wie vor ein ernstzunehmendes Problem
darstellt.[6]
Laut der Studie besitzen 9% der deutschen Bevölkerung ein geschlossenes extrem
rechtes Weltbild.[7] In
Westdeutschland zeigten 7,3% der Befragten ein antidemokratisches Weltbild,
während in Ostdeutschland der Anteil bei 15,8% lag. Jede vierte befragte Person
bekannte sich dabei zu ausländerfeindlichen Äußerungen. Antisemitische
Einstellungen zeigten 8% der Befragten. Der antimuslimische Rassismus ist in
der Bundesrepublik in allen Gesellschaftsschichten fest verankert. Diese
Spielart des Rassismus wird nicht mehr in biologistischer Weise vorgetragen,
sondern verschiebt sich auf die kulturelle Ebene. 57,5% der Befragten
behaupteten eine Rückständigkeit des Islam, 56% hielten ihn für eine
„archaische Religion“. Antiziganistische[8]
Vorurteile sind ebenfalls in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet. Laut
einer Studie, die eine Forschungsgruppe um den Bielefelder Soziologen Wilhelm
Heitmeyer im Jahre 2011 durchgeführt hat, bejahten 40,1% der Befragten die
Aussage „Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten
würden.“[9]
Zur Etablierung einer solchen Stimmung trug auch Innenminister Friedrich (CSU)
bei, der Einwanderern aus Serbien und Mazedonien, überwiegend Roma, ein
„Missbrauch des Asylrechts“ unterstellte.[10]Als Multiplikatoren von antiziganistischer Stimmungsmache
dienen auch zum Teil etablierte Medien. Deren Berichterstattung vom „stetigen
Zuzug“ der „Armutsflüchtlinge“ erinnert sehr stark an die Berichterstattung von
hegemonialen Medien Anfang der 1990er Jahre, wo von „Asylantenschwemme“ und
„Wanderungswellen“, die Rede war, die Deutschland bedrohen.[11]
Die Folgen weltweiter Migrationsprozesse und das Entstehen interkultureller
Tendenzen werden nicht nur in den Medien, sondern auch von Politikern nach wie
vor in einer Semantik der Gefahren und als mögliches Bedrohungsszenario
dargestellt.
Auch
in anderen Kontexten gibt es Nachholbedarf. Vor kurzem wurde bekannt, dass der
Anti-Rassismusauschuss der UNO (Cerd) die Bundesrepublik Deutschland wegen der
Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin, der sich in seinem
Buch „Deutschland schafft sich ab“ abfällig u.a. über Türken und Araber
äußerte, eine Rüge erteilte. Laut CERD habe die BRD damit gegen das
UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von „Rassendiskriminierung“
verstoßen.[12]
„Ethnic
Profiling“, d.h. die diskriminierende Verwendung von Zuschreibungen wie
Hautfarbe, religiöse Zugehörigkeit, Herkunft oder Sprache als Grundlage für
Identitätskontrollen und Durchsuchungen ohne konkreten Anhaltspunkt durch die
deutsche Polizei, ist immer noch weit verbreitet.
Solidaritätsbekundungen
für den NSU in der rechten Szene lassen erahnen, dass die Bildung neuer rechter
Terrorzellen nicht unwahrscheinlich ist. Gewaltbereite Neonazis wie „Autonome
Nationalisten“ oder „Freie Kameradschaften“ aber auch unorganisierte Gruppen
stellen nach wie vor ein massives Problem dar.
[1]
Westdeutsche Zeitung vom 26.5.2008
[2]
Aachener Nachrichten vom 30.5.2008
[3]
Laga ist das demokratisch legitimierte Vertretungsprogrammder 105 kommunalen Ausländerbeiräten in Nordrhein-Westfalen.
[4]
Aachener Nachrichten vom 18.5.2013
[5]
Ebd.
[6]
Decker, O./Kiess, J./Brähler, E. u.a: Die Mitte im Umbruch. Rechtextreme
Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012
[7]
Dies bedeutete eine Steigerung um 0,8% im Vergleich zur letzten Studie, die im
Jahre 2010 durchgeführt wurde.
[8]
Antiziganismus ist ein in Analogie zum Antisemitismus gebildeter
wissenschaftlicher Fachbegriff für „Zigeunerfeindlichkeit“, der Stereotype
und/oder feindliche Einstellungsmuster gegen als „Zigeuner“ konnotierte Menschen
und Gruppen bezeichnet. Als antiziganistisch gelten nicht nur die Zuschreibung
von negativ bewerteten Eigenschaften wie angebliche Kriminalität, Primitivität
oder fehlende Integrationsbereitschaft, sondern auch positive romantisierende
Zuschreibungen wie angebliche Musikalität und Freiheit.
[9]
www.taz.de/88520
[10] Aachener
Nachrichten vom 10.12.2012
[11]
Vgl. Yildiz, E.: Stigmatisierende Mediendiskurse in der kosmopolitanen
Einwanderungsgesellschaft, in: Butterwegge, C./Hentges, G. (Hrsg.):
Massenmedien, Migration und Integration, Wiesbaden 2006, S. 35-52
[12] www.spiegel.de/politik/deutschland/uno-ruegt-deutschland-wegen-sarrazin-und-setzt-ultimatum-a-895208.html
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