Erschienen in Ausgabe: No. 35 (1/2009) | Letzte Änderung: 02.03.09 |
Daniel Kehlmann, Ruhm, Ein Roman in neun Geschichten, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg (Januar 2009, 203 Seiten, Gebunden, ISBN-10: 3498035436, ISBN-13: 978-3498035433, Preis: 18,90 EURO
von Heike Geilen
Wenn man durch die Straßen läuft, sieht man immer mehr
(zumeist) jugendliche Menschen, die sich verkabelt haben, um Musik zu hören
oder zumindest mit dem Handy hantieren.
Dabei wird die Anzahl der Anwender von Jahr zu Jahr größer und das Alter der
Nutzer immer jünger. Was der älteren Generation zumeist nur ein Kopfschütteln
entlockt, ist für die Jüngeren ein unbedingtes "Muss". Viele
Handy-Besitzer können sich ein Leben ohne Mobilfunktelefon nicht mehr vorstellen.
Ähnlich geht es Ebeling, dem Protagonisten der ersten Geschichte
in Daniel Kehlmanns neuem "Roman in
neun Geschichten". Er, der sich jahrelang geweigert hat, ein
Mobiltelefon zu kaufen, ist auf einmal süchtig danach, ja fühlt zum ersten Mal
in seinem Leben so etwas wie innere Zufriedenheit. Warum? Durch die
offensichtlich doppelte Vergabe seiner Rufnummer bekommt er auf einmal Anrufe
von verschiedensten Personen, die ein so völlig anderes - aufregenderes - Leben
führen, als das bis dato eher unscheinbare und langweilige eigene. Auch wenn er
nicht der Ralf ist, für den man ihn am Telefon hält, so spielt er ziemlich
schnell das Spiel mit. Denn jener scheint eine bekannte, allem Anschein nach
berühmte Person zu sein. Und diesen "Ruhm"
- so auch der Titel des Buches - genießt nun Ebeling. Er flieht aus seinem
kleinen Leben hinüber in ein genialistisches. "Womöglich war Ralfs Dasein ja immer schon für ihn bestimmt gewesen,
vielleicht hatte nur ein Zufall ihrer beider Schicksale vertauscht."
Wechselbad der Gefühle
In neun, mehr oder weniger verknüpften Geschichten spielt
Daniel Kehlmann virtuos und raffiniert mit diesem Thema. "Voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten
von einer leicht sterilen Brillanz" erzählt er u. a. von einem Autor
mit Namen Leo Richter, der stets die Identität seiner Geliebten in seinen
Romanen unterbringt und dessen neueste "Flamme" dies nahezu als Albtraum
empfindet. Wiederum in einer anderen Geschichte vergisst man eine berühmte
Krimiautorin in einem leeren Hotel irgendwo in der mongolischen Steppe. Auch
das Handy kann nicht mehr zu ihrer Rettung beitragen, denn der Akku ist
zusammengebrochen. Oder er berichtet von einer alten, sterbenskranken Dame, die
in der Schweiz mit professioneller Hilfe ihrem Leben vorzeitig ein Ende setzen
möchte, letztendlich jedoch mit dem Autor ihrer Geschichte ob des unrühmlichen
Ausgangs hadert. Diesen machen andererseits ganz existentiale Probleme zu
schaffen. Er empfindet sich und sein Dasein als Nichts ohne die Aufmerksamkeit
eines anderen und dass seine "bloß
halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von nimmt."
In ein Wechselbad der Gefühle wirft Daniel Kehlmann seine
Leser. Er spielt mit fremden Wirklichkeiten, mehreren Bewusstseins- und Daseinsebenen.
Meint man gerade jemanden kennengelernt zu haben, verwandelt er sich schon im
nächsten Moment in einen anderen. Oder scheint dies vielleicht nur so? Schlägt
die virtuelle Welt, zu der das Internet und in gewisser Weise eben auch
Mobiltelefone gehören, dem realen Leben ein Schnäppchen? Nimmt sie die
Wirklichkeit aus allem? Was ist echt, was nur vorgetäuscht? Wahre Kommunikation
geht immer mehr verloren. Man befindet sich in einem "paradoxen Schwebezustand desinteressierter Anspannung", so wie
ein weiterer Protagonist, der Esoterik-Guru Miguel Auristos Blancos (Paulo
Coelho lässt grüßen), der sich in seiner Villa mit einer Pistole das Leben
nehmen will, feststellt.
Besonders beeindruckend gelingt ihm die Problematik des
Wirklichkeitsverlustes durch die zunehmende Technisierung und Virtualisierung
in der Erzählung "Wie ich log und starb". Hier lässt er den
Abteilungsleiter eines Mobilfunkkonzerns über sein Doppelleben zwischen zwei
Frauen jeglichen Bezug zur Realität verlieren. Die Technik hat ihn in eine Welt
ohne feste Orte versetzt. "Man
spricht aus dem Nirgendwo, man kann überall sein, und da sich nichts überprüfen
lässt, ist alles, was man sich vorstellt, im Grunde auch wahr. Wenn niemand mir
nachweisen kann, wo ich bin, ja wenn selbst ich mir darüber nicht vollkommen
und absolut im Klaren bin, wo wäre die Instanz, die entscheidet? Wirkliche und
festgesteckte Plätze im Raum, die gab es, bevor wir kleine Funkgeräte hatten
und Briefe schrieben, die in der Sekunde des Abschickens schon am Ziel sind."
Geschichten in
Geschichten in Geschichten
Kehlmanns Stil, sein Spiel mit Strukturen - der Leser wird
durchgängige Konstanz und Homogenität vermissen - gibt den virtuellen Schwebezustand
zwischen Wirklichkeit und Traumbeeindruckend wider. Er wechselt Ton,
Perspektiven und Erzählweisen. Gerade noch fabuliert er voller "Melancholie, ausbalanciert durch Humor",
doch schon in der nächsten Geschichte offenbart er eine "in der Schwebe gehaltene Brutalität"
oder gar philosophische Betrachtungsweisen des Lebens und des Seins an sich.
Auch die Anordnung seiner Geschichten vermittelt dieses
Verwirrspiel auf formidable Art und Weise. "Wir sind immer in Geschichten.", ist in der letzten Erzählung "In
Gefahr" zu lesen. "Geschichten
in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere
beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie
säuberlich getrennt." Auf Kehlmanns Buch scheint dies nur auf den
ersten Blick zuzutreffen. Stehen seine Begebenheiten anfänglich noch völlig
losgelöst nebeneinander, obwohl hier und da die Protagonisten - wenn auch ohne
klar zu erkennenden Zusammenhang - mehrfach auftauchen und einigen Situationen
eine gewisse Duplizität anhaftet, fügt sich indessen mit fortschreitender
Seitenzahl sukzessive alles zum großen Ganzen zusammen. Denn alles "zielt darauf, eins zu sein. Mit sich, mit
allem."
Letztendlich findet der Leser aus dem Irrgarten, in dem er
sich zeitweise verloren glaubt, wohlbehalten und erstaunt heraus. Doch alle
Geheimnisse gibt Daniel Kehlmann nicht preis bzw. es kostet - zugegeben
ausgesprochen angenehme - literarische Anstrengung, sie zwischen den Zeilen zu
entdecken. Aber vielleicht ist dies vom Autor auch gar nicht gewollt, "weil völlige Offenheit der Tod ist",
wie er einen Protagonisten sagen lässt, "und ein einziges Dasein für den Menschen nicht reicht."
Fazit:
Daniel Kehlmann öffnet und schließt Türen, schiebt die eine
Person in dieses, die andere in jenes Zimmer, "ja manövriert veritable Gruppen von Leuten in kleinsten Räumen hin und
her, ohne dass einer dem anderen begegnet."
"Ruhm" entpuppt
sich als hochwertige und anspruchsvolle Publikation, die einen ganz anderen
Duktus als sein Bestseller "Die
Vermessung der Welt" aufweist. Doch insbesondere diese Andersartigkeit
zeigt, welch vielfältige literarisch-stilistische Qualitäten der 34jährige
Autor hat.
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