Erschienen in Ausgabe: No 90 (08/2013) | Letzte Änderung: 01.08.13 |
Der erste Jesuiten-Papst der Geschichte hat sich mit seiner Namenswahl nicht nur einen großen Ordensgründer ausgesucht, sondern einen Mann Gottes, in dem das Mittelalter den Engel des sechsten Siegels der Apokalypse erkannte. Jorge Mario Bergoglio und die Endzeit des Heiligen Geistes
von Klaus Berger
Es ist der Traum von einer im Innersten reformierten,
Christus ähnlich gewordenen Kirche, der seit tausend Jahren die Herzen bewegt.
Dieser Traum aber verbindet sich seit rund achthundert Jahren mit dem Namen des
heiligen Franziskus von Assisi.
Genau an diesen Traum erinnerte ich mich unmittelbar nach
der Wahl des Papstes Franziskus. Es reizt mich, diesen Traum zu beschreiben,
denn er verbindet das Ideal der Geschwisterlichkeit aller Christen mit der
Erwartung einer Kirche, die eben nicht die frühkapitalistische des zwölften
Jahrhunderts, auch nicht die weithin hochkapitalistische des einundzwanzigsten
Jahrhunderts, sondern die Jesus ähnlicher ist.
Eine Episode vom Tag der letzten Papstwahl: Der neugewählte Papst ließ
erklären, er nenne sich nicht Franziskus I., sondern Franziskus. Warum nicht
der erste, auf den dann noch viele folgen könnten? Gibt es vielleicht eine
Planstelle in Gottes Haushalt, die „Franziskus“ heißt? So wie eben jeder Papst
„Petrus“ ist, da er laut Kuppelinschrift der Peterskirche Matthäus 16,18 auf
sich bezieht (Du bist Petrus…).
In der Tat: Es gibt diese Planstelle, es gibt nur einen Franziskus, und das ist
der Franziskus der Endzeit, so wie er im zwölften und dreizehnten Jahrhundert
von der Christenheit und danach öfter noch von Franziskanern in die
Endzeit-Erwartung eingebaut wird. Merkwürdig ist schon: Joseph Ratzinger hat
über diese Erwartung 1959 seine Doktorarbeit geschrieben. Und sein Nachfolger
im Amt Petri erfüllt diese Erwartung oder besser gesagt: möchte seinen Teil zu
dieser Erfüllung beitragen. Der heilige Bonaventura (1220-1274) war der Urheber
dieser Geschichtstheologie, wonach Franziskus der Inbegriff einer prägenden
Gestalt der Endzeit ist.
Franziskus von Assisi hat eine Deutung im Sinne einer Geschichtstheologie
erfahren, die wie keine andere das Mittelalter geprägt hat. Der heilige Franz
von Assisi ist zum großen Interpreten des Evangeliums geworden. Er übersetzte
in die Sprache des hohen Mittelalters, was Jesus für die Kirche bedeuten
sollte. Und meines Erachtens ist das auch heute aktuell.
Die Endzeit, die mit Franziskus beginnt, ist nach dieser Erwartung eine Zeit
der großen inneren Umgestaltung der Kirche. Keine Frage: Das Papsttum bleibt,
aber Franziskus prägt eine Kirche, in der Demut und Bescheidenheit, freiwillige
Armut und Geschwisterlichkeit der Christen herrschen.
„Erfunden“ und an den heiligen Bonaventura und sein Verständnis von Kirche
weitergegeben hat dieses „Ideal“ der Zisterzienserabt Joachim von Fiore
(†1202). Dieser rechnet, schlicht gesagt, mit einem Zeitalter des Heiligen
Geistes in der Kirche, das mit und nach ihm beginnen soll. Und der Heilige
Geist ist es auch, der die Spielregeln in der Kirche bestimmt. Schon im Neuen
Testament ist die am Heiligen Geist inhaltlich orientierte Ethik ein Handeln
nach Machtverzicht, Demut und Bescheidenheit.
Dass es jetzt nun ausgerechnet ein Jesuit ist, der sich nach Franz von Assisi
benennt, hat manche gewundert („der falsche Orden“). Es ist aber verständlich,
weil nach Joachim von Fiore das letzte Zeitalter der Kirche auf jeden Fall
eines ist, „in dem die Mönche das Sagen haben“. Also kurzum: So war es. Franz
von Assisi starb am 3. Oktober 1226. Der Franziskaner Bonaventura (†1274) hält
seinen Ordensgründer für den entscheidenden Reformator der Kirche. Er setzt ihn
ein in das Geschichtsbild des Zisterzienserabtes Joachim von Fiore (†1202).
Damit bekommt Franziskus seinen Ort zu Beginn des Zeitalters des Heiligen
Geistes.
Denn so sollte nach Joachim die Heilsgeschichte verlaufen: Auf die Epoche des
Vaters (Altes Testament) folgt die des Sohnes (Neues Testament, bis ca. 1180),
darauf die des Heiligen Geistes. Das Bild der Kirche und die Spielregeln ändern
sich jeweils. Jedenfalls ist das Zeitalter des Heiligen Geistes, das Joachim
das „Dritte Reich“ nennt, das der unmittelbaren Zukunft. Als Mönch strenger
Observanz fühlt sich Joachim dieser neuen Zeit verpflichtet. Alle Reform, nach
der sich die Christenheit spätestens seit dem Anfang des zehnten Jahrhunderts
(Cluniazensische Reform) sehnt, soll hier endlich Wirklichkeit werden.
Auffällig ist übrigens, dass alle diese Reformbewegungen in der Mitte
Frankreichs und in Burgund ihren Ausgang nehmen. Das gilt auch für die
Zisterzienser, die wie die Cluniazenser reformierte Benediktiner sind.
Jedenfalls fand Bonaventura in Franz von Assisi den heiligen Mönch schlechthin,
von dem und von dessen Wirkung her man eine wirkliche Kirchenreform erwarten
konnte.
Die Initialzündung sollte ausgehen von Franziskus, den Bonaventura in die
Deutung der Offenbarung des Johannes einbaute. Denn Bonaventura rechnet, wie
Joachim von Fiore, damit, dass die Apokalypse sich in der unmittelbaren
Gegenwart vollzieht. Eine solche direkte „Anwendung“ der Offenbarung auf das
Zeitgeschehen haben wir Neuzeitmenschen längst den Sekten überlassen. Dabei
halte ich eine solche Auswertung unter bestimmten Umständen für legitim, dann
nämlich, wenn man auf bestimmte zeitliche und personelle Festlegungen
verzichtet.
Bonaventura sagt, Franziskus sei der „Engel des sechsten Siegels“ (Apk 7,2-3).
Derartige Festlegungen kann heute niemand mehr akzeptieren. Aber soll die
Offenbarung des Johannes deswegen verfallen und schlechthin wertlos sein? Dann
hätte die konsequenteste Geschichtstheologie des Neuen Testaments überhaupt
keine theologische Bedeutung mehr. Das kann nicht sein. Die Offenbarung des
Johannes ist nicht „der Rottengeister Gaukelsack“, wie Martin Luther meinte.
Wenn man darin nach Gottes Wort und verbindlicher Offenbarung sucht, dann
vielleicht im oben angedeuteten Sinne einer „Planstelle“. Mit dem Engel des
sechsten Siegels könnte die Offenbarung des Johannes in der Tat eine
Lichtgestalt beschreiben, die in dunklen Zeiten die Menschen der Welt daran
erinnert, dass Gott sie nicht vergessen und verlassen hat. Diese Planstelle ist
wie ein Kleid, das bereit liegt und auf verschiedene, vielleicht wenige
Menschen immer wieder passen könnte.
Der Engel des
Sechsten Siegels
Über diesen Engel heißt es in der Offenbarung des Johannes
(7,2-3): „Und einen anderen Engel sah ich heraufsteigen vom Osten her. Er hielt
ein Siegel des lebendigen Gottes in der Hand und rief den vier Engeln, denen
die Macht verliehen war, Erde und Meer Schaden zuzufügen, laut zu: Lasst Erde,
Meer und Wald so lange unversehrt, bis wir diejenigen, die unserem Gott
gehorsam sind, an der Stirn versiegelt haben, damit sie nicht abtrünnig
werden.“
Es ist sicher nicht völlig zufällig, dass man weltweit mit Papst Franziskus
genau die Erwartungen verbindet, die schon der heilige Bonaventura mit der
Planstelle namens „Franziskus“ verknüpfte. Joachim von Fiore hatte übrigens von
einer monastischen Gestalt geredet, aber den Namen Franziskus nicht genannt. Es
waren dann Franziskaner, zu denen auch Bonaventura gehörte, die diese Figur zu
Beginn des dritten Zeitalters eindeutig Franziskus nannten.
Franziskus ist für das Mittelalter der „Engel des Sechsten Siegels“ (der
Apokalypse) und wegen seiner Stigmata der „andere Christus“. Er gehört also in
die Heilsgeschichte, näherhin in die Endzeit. Und wenn sich jemand „Papst
Franziskus“ nennt, dann zieht er sich diese Rolle auf den Leib. So jedenfalls
der heilige Bonaventura in seinem „Leben des heiligen Franziskus“, dessen
Experte jetzt in Rom im Ruhestand lebt. Bonaventura ist das beide Päpste
verbindende Stichwort. Präzise heißt es noch bei Baluzius (†1718) über
Franziskus: „Patet ipsum vere esse Angelus aperitionis sexti signaculi –
Offenbar ist er wirklich der Engel der Öffnung des sechsten Siegels“.
Der heilige Bonaventura schreibt im Vorwort seines Großen Franziskuslebens,
Johannes habe Franziskus treffend in seiner Weissagung unter dem Bild des
Engels bezeichnet, der vom Aufgang der Sonne aufsteigt und das Zeichen des
lebendigen Gottes trägt. Bonaventura preist Franziskus darum als „einen neuen
Mann, den der Himmel der Welt geschenkt hat“.
Schon Thomas von Celano (†1260) hatte Franziskus als „neuen Evangelisten“
gepriesen, durch den „dem Erdkreis unerhoffte Frohbotschaft und heilige
Erneuerung ward“. Auch Celano betrachtet seine Zeit als das sechste Zeitalter,
dass die Minderbrüder „in der jüngsten Zeit“ gesandt seien, „um den vom Dunkel
der Sünde umhüllten Menschen Beispiele des Lichtes zu zeigen“. Franziskus aber
sei „der Prophet unserer Zeit, gleich einem neuen Apostel, der neue Mensch, …
der Mann aus der anderen Welt“. So betrachten die Franziskaner laut Bonaventura
Ordensregel und Testament des Heiligen als das „Gesetz des kommenden
Weltzeitalters“, das mit der recht verstandenen Frohbotschaft Christi ein und
dasselbe sei. „Für sie stand die Gestalt ihres Ordensvaters am Anfang der
neuen, sehnsüchtig erwarteten Weltzeit.“ Gott weise jedem Menschen und jedem
Ding seine Zeit an; darum habe Gott in seiner weisen Vorsehung die Apostel und
deren Jünger mit Wundervollmacht ausgestattet, um den Götzendienst zu
vernichten, dann seiner Kirche gelehrte Theologen geschenkt, um die Irrlehrer
zu überwinden, und endlich in der Endzeit den Liebhaber der höchsten und
freiwilligen Armut erweckt, um die Habsucht auszurotten. Doch gibt
Bonaventura klar zu erkennen, dass mit dem Wort „Endzeit“ keineswegs
gesagt sei, die Wiederkunft Christi stehe schon bald bevor. Anders als die
Joachiten (das heißt die Anhänger Joachims von Fiore) sieht Bonaventura das
sechste Zeitalter und mit ihm Franziskus als „Wegbereiter für den
wiederkommenden Herrn“. Dafür beruft sich Bonaventura oft auf das Wort des
Franziskus, er sei „Herold des großen Königs“. Das Zeichen Gottes, das der
Engel trägt, ist demnach in Ezechiel 9,4 begründet, wonach der Mann im
Linnengewand das Tau-Zeichen den Männern auf die Stirn drückt.
Die geschilderte Deutung der Gestalt des Heiligen von Assisi „als Engel, der
vom Aufgang der Sonne heraufkommt und das Siegel des lebendigen Gottes trägt“,
ist nur Bonaventura eigen. Schon bei seiner Auseinandersetzung mit Wilhelm von
Saint-Amour hatte er sich für die Heilssendung der neuen Mendikantenorden
(Bettelorden) auf die Worte berufen, die sich an die obige Vision vom Engel des
sechsten Siegels anschließen, und erklärt: „Sie sollen ihre ganze Sorge darauf
richten, die Knechte Gottes auf der Stirn mit dem Siegel des lebendigen Gottes
zu bezeichnen.“
Dass dieser Engel des sechsten Siegels Franziskus sei, nimmt Bonaventura an,
weil Franziskus die Wundmale Christi trug und damit das Siegel Gottes, und eben
dieses fand er auch in Ezechiel 9,4 wieder. In althebräischer Schrift hat das
Taw Kreuzesform, anders in der späteren und seit zweitausend Jahren üblichen
Quadratschrift. Gewissermaßen spiegelverkehrt heißt es vom Antichrist: „Hier
lässt der Antichrist den Juden Kreuzzeichen an die Stirn und in die rechte Hand
machen zu einem Zeichen, dass sie an ihn glauben. Das ist geschrieben in der
Apokalypse des Johannes, im Kompendium Buch VII.“ (so im „Blockbuch vom
Antichrist“).
So macht die Stigmatisierung den heiligen Franziskus zum Widersacher des
Antichrists, zum „anderen Christus“. Nach Angelo Clareno hat Christus
vielfältig zu den Christen gesprochen, durch die Väter, die Apostel, die
Märtyrer, die Heiligen, jüngst aber in seinem seraphischen Sohn Franziskus, den
er zum Erben all derer machte, die nachfolgen in Armut, Gehorsam und Keuschheit.
Und Christus hat ihn erhöht: Er ist der „alter Angelus ascendens ab ortu solus,
qui signum in se habet Dei vivi“ – der „andere Engel, der vom Osten her
aufsteigt und das Zeichen des lebendigen Gottes an sich trägt“. Er ist der
„novus homo“ nach Gottes Bild. Auch an dieser Stelle fällt auf: Das große Thema
Benedikts XVI. war ein Kreisen um Christus und den Menschen als „Bild Gottes“.
Der heilige Bonaventura bezieht sich auch in seinen Predigten auf diese
Tradition: Das Zeichen des lebendigen Gottes ist der Eifer um das Heil der
Menschen. Die Bezeichneten sind die „qui sunt in conformi vita Christi“, also
die dem Leben Christi gleichen. Gottes Bild wird in Franziskus erneuert, heißt
es auch bei Matthäus von Aquasparta OFM (†1302, Predigten über Franziskus). Das
„Zeichen des lebendigen Gottes“ wird hier mit der Imago-Theologie der Bibel
verbunden. Es geht um den Menschen, der am sechsten Tag – daher das sechste Siegel
– erschaffen wurde, schreibt Ioannes Peckham OFM (†1292). Der „andere Engel“
von Apokalypse 7,2 kann dabei auch, so meinte man, mit dem „anderen Engel“ aus
der Apokalypse 14,6 gleichgesetzt werden.
Als der Engel des sechsten Siegels ist Franziskus daher eine positive Gestalt,
keineswegs eine apokalyptische Schreckensfigur. Die berühmte Vision des
heiligen Franz, er sei Pfeiler in der vom Einsturz gefährdeten Kirche geworden,
greift auf das Bild der Säule aus der Apokalypse zurück (3,12) und umreißt die
Erwartungen, die man mit ihm verband. Denn viele Menschen haben immer wieder
gefragt: Was hat denn der heilige Franz mit der katholischen Kirche zu tun? Die
Antwort gibt die Säulen-Vision. Offenbar hat der heilige Franz selbst von der
Aufgabe geahnt, die ihm zukommen sollte.
Und die ganze Christenheit hofft und betet, dass der Papst, der sich Franziskus
als Patron und zum Leitbild erkoren hat, dieser wahrhaft apokalyptischen
Aufgabe gewachsen sein möge. Der heilige Franz ist für seine Anhänger „der Mann
aus der anderen Welt“. Wenn der „vom Ende der Welt“ her berufene Papst
Franziskus sich wirklich auf das dritte Zeitalter, das des Heiligen Geistes
einlässt, dann bedeutet das: Dieser Papst, der in seinem Heimatland zahlreiche
Erfahrungen mit den Pfingstlern gemacht hat, wird genau wissen, dass auch wir
Katholiken öfter vom Heiligen Geist reden und öfter zu ihm beten sollten. Denn
dieses sind die vorzüglichsten Gaben des Heiligen Geistes: Charismen für alle
Getauften, Aufhebung der trennenden Brücken, Heilung all dessen, was krank oder
verwundet ist, schließlich die Hoffnung auf ein neues, begeistertes Christsein.
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