Erschienen in Ausgabe: No 90 (08/2013) | Letzte Änderung: 31.07.13 |
von Jörg Bernhard Bilke
Dem Schriftsteller Reiner Kunze, der seit 1977 in der Nähe
von Passau lebt, bin ich zweimal begegnet: einmal 1979 in Coburg, als er aus
seinem Buch „Die wunderbaren Jahre“ (1976) las und den Film vorstellte, der
nach diesem Buch in Coburg und Kronach gedreht worden war; und einmal 2003 in
Jena, wo er mit Freunden seinen 70. Geburtstag feierte!
Seinen Lebensweg als Lyriker und Autor eines Prosabandes
habe ich von Anfang an verfolgt, spätestens dann, als seine beiden Lyrikbände
„Sensible Wege“ (1969) und „Zimmerlautstärke“ (1972) erschienen waren (nur in
Hamburg beim Rowohlt-Verlag und in Frankfurt/Main beim S.Fischer-Verlag), die
im Westen ungeheures Aufsehen erregten und ihn, den Verfasser Reiner Kunze, der
damals noch bis zu Ausbürgerung am 13. April 1977 im ostthüringischen Greiz
lebte, im SED-Staat zur persona non grata machten.
In diesen Gedichten wurde ein ganz anderes DDR-Bild
gezeichnet als es offiziellen Verlautbarungen entsprach. Das war auch den
staatlichen Ideologen bewusst, die ihn deshalb verfolgten, besonders die
Germanisten unter ihnen. Sie widmeten ihm in ihrer „Geschichte der Literatur
der Deutschen Demokratischen Republik“ (908 Seiten) von 1976 lediglich zwölf
Zeilen, wobei sie ihn zunächst lobten
(„bereicherte die Lyrik der DDR“), dann aber beschimpften („verzerrtes Bild der
sozialistischen Gesellschaft“).
Dieses „verzerrte Bild“ findet man noch stärker ausgeprägt
im Prosaband „Die wunderbaren Jahre“, dessen Veröffentlichung im Herbst 1976 im
S. Fischer-Verlag in Frankfurt/Main mit der Ausbürgerung 1977 bestraft wurde.
Für mich besonders erschütternd war der nur wenige Zeilen umfassende Text
„Schießbefehl“. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der den Wehrdienst
bei der „Nationalen Volksarmee“ ablehnt, mit seinem Motorrad an die
innerdeutsche Grenze fährt, um „Republikflucht“ zu begehen, und der dort
erschossen wird. Der Mutter Martha Komorrek, die nach dem Tod ihres Sohnes
selbst an gebrochenem Herzen stirbt, wird stundenlang, tagelang von der
„Volkspolizei“ nicht mitgeteilt, dass ihr Sohn erschossen wurde. Der letzte Satz
lautet: „Aushändigen können sie mir nur die Urne“.
Den 1926 geborenen DDR-Schriftsteller Hermann Kant, der 1978
in der Nachfolge von Anna Seghers (1900-1983) Präsident des
DDR-Schriftstellerbverbands wurde, hat diese „Urnengeschichte“ maßlos erzürnt.
Damals schrieb er über seinen verfolgten Kollegen den unglaublichen Satz „Kommt
Zeit, vergeht Unrat.“ Eine Entschuldigung ist auch nach dem Mauerfall von 1989
ausgeblieben.
Bezeichnend für die DDR-Zensur ist auch die Geschichte des
Kinderbuches „Der Löwe Leopold“ (1970), das nach der westdeutschen Erstausgabe
1976 auch in einem DDR-Verlag erscheinen sollte. Aber gerade in diesem Jahr,
als Reiner Kunze zum „Staatsfeind“ erklärt wurde und der Kulturminister ihn
gesprächsweise in Ostberlin wissen ließ, nun könne nicht einmal er einen
tödlichen Verkehrsunfall verhindern, wurde die Auslieferung dieses
unpolitischen Buches rückgängig gemacht und 15 000 bereits gedruckte Exemplare
eingestampft. Einem mit Reiner Kunze sympathisierenden Drucker hat das nicht
gefallen, er hatte konspirativ ein Exemplar abgezweigt und es auf irgendwelchen
Umwegen dem Bäcker in Greiz überbracht, bei dem Ehefrau Dr. Elisabeth Kunze
morgens immer die Brötchen kaufte. Als sie zu Hause die Brötchentüte öffnete,
fand sie zuunterst ein Exemplar des angeblich nie gedruckten Buches.
Und ganz wichtig, wenn auch nicht von Reiner Kunze stammend,
ist die Auswahl aus 3500 Seiten MfS-Akten, die unter dem Titel „Deckname Lyrik“
(1990) erschienen sind. Wichtig deshalb, weil dort das böse Wirken des Stasi-Zuträgers
Ibrahim Böhme (1944- 1999) dokumentiert ist, den Reiner Kunze für seinen Freund
hielt. Fast wäre der gesamte Aktenbestand von zwölf Bänden in einem Wald bei
Pößneck/Thüringen verbrannt worden, auch Reiner Kunzes Akten waren dem Feuer
übergeben worden. Aber dann fand man noch, dank der Sammelwut der
MfS-Offiziere, in der Bezirksstadt Gera eine vollständige Kopie.
Ich hatte 1977 gehofft, Reiner Kunze könnte sich mit seiner
Frau Elisabeth in Coburg ansiedeln, er wäre dann für mich leichter erreichbar
gewesen. Er ließ sich, bevor er nach Obernzell-Erlau zog, dazu überreden, sich
Coburg anzusehen, aber der damalige Oberbürgermeister, der von
DDR-Verhältnissen keine Ahnung hatte, zeigte sich außerstande, dem frisch
Ausgebürgerten in Coburg eine neue Heimat anzubieten.
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