Erschienen in Ausgabe: No 68 (10/11) | Letzte Änderung: 14.02.13 |
Alexandra Birkert Hegels Schwester Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau um 1800 Thorbecke Verlag, Stuttgart (September 2008) 352 Seiten, Gebunden ISBN-10: 3799501967 ISBN-13: 978-3799501965 Preis: 24,90 EURO
von Heike Geilen
"Im Oktober 1818
übernahm der gebürtige Stuttgarter Georg Wilhelm Friedrich Hegel an der
Berliner Universität den Lehrstuhl für Philosophie. Nun erst - im Alter von fast
fünfzig Jahren - legte er den Grundstein für seinen Weltruhm: mit seinen
Vorlesungen über Logik, Rechts- und Religionsphilosophie, Philosophie der
Weltgeschichte und Ästhetik. Nahezu gleichzeitig wurde seine drei Jahre jüngere
und unverheiratet gebliebene Schwester Christiane Luise in die württembergische
'Staatsirrenanstalt Zwiefalten' eingeliefert. Man schrieb Mai 1820. Ein gutes
Jahr später wurde Hegels Schwester als geheilt entlassen. In einem Brief, den
sie kurz vor ihrer Entlassung an den Bruder geschrieben hat, machte sie ihm -
das wissen wir nur aus seinem Antwortschreiben - massive Vorwürfe über das
erlittene Unrecht."
So beginnt die bis dato einzige Biografie einer Frau, die
sich am 2. Februar 1832 - im Alter von fast 59 Jahren - in Bad Teinach im
Schwarzwald "höchstwahr. in einem
Anfall von Schwermuth in den Fluss" stürzte; wenige Wochen nach dem
Tod des berühmten Bruders.
Über Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist viel geschrieben
worden, unzählige Biografien, Abhandlungen und Werkanalysen sind erhältlich.
Über seine Schwester jedoch liest man, wenn überhaupt, dann meist nur in
Randnotizen. Ihr Leben lief als große Unbekannte im Schatten des drei Jahre
älteren Bruders ab. Von Christiane Hegel gibt es weder ein visuelles Abbild,
noch gesicherte Überlieferungen. Lediglich ein einziges handschriftliches
Zeugnis sowie einige wenige Briefabschriften sind erhalten.
Nichtsdestotrotz reizte Alexandra Birkert die Geschichte
dieser offensichtlich emanzipierten Frau. In "Hegels Schwester. Auf den Spuren einer ungewöhnlichen Frau um 1800"
versucht die in Stuttgart lebende, promovierte Literaturwissenschaftlerin eine
Annäherung an den Lebensweg der Christiane Hegel. Sie stellt sich die Fragen:
"Warum wissen wir heute nur noch so
wenig von der einzigen Schwester des berühmten Philosophen, deren Schicksal so
tragisch endete? Warum landete sie in der württembergischen
'Staatsirrenanstalt', während ihr Bruder in Preußen Karriere machte? Warum
ertränkte sie sich?"
Alexandra Birkert versucht das Unmögliche. Sie rekonstruiert
peu à peu die Lebensgeschichte dieser ungewöhnlichen Frau, indem sie sich ihres
"Umfelds" bedient. Dabei hat sich die Mühe offensichtlich gelohnt,
denn "die Recherchen förderten auch
eine ganze Reihe von Ergebnissen zu Tage, die weit über den biographischen
Rahmen hinausweisen und ein Licht auf den damaligen Lebensalltag einer
Generation werfen, die es wahrlich nicht leicht hatte. Die großen politischen
Umbrüche jener Jahre, die sich hinter den Schlagwörtern Französische
Revolution, napoleonische Kriege, Säkularisierung und Mediatisierung, Auflösung
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Neuordnung Europas und
Gründung des Königreiches Württemberg verbergen, haben im Leben der Menschen
ganz konkrete, sichtbare Spuren hinterlassen."
Und so erhielt die Biografin bei der Spurensicherung an den
Lebensstationen Christiane Hegels gleichzeitig ein relativ umfassendes Bild
über den Alltag einer Frau in der damaligen Zeit. Der Leser ist nicht nur
Teilhaber an der Lebensrekonstruktion von Hegels Schwester, die trotz aller
gewonnenen neuesten Erkenntnisse immer noch im Konjunktiv daherkommt und nur eine
mögliche Variante darstellt, sondern er erfährt gleichzeitig etwas über die
Rolle der Frauen in der frühen Phase südwestdeutscher Revolutionsbegeisterung,
über
die Erziehung und Bildung junger Mädchen vor zweihundert
Jahren, die Lese- und Gesprächszirkel, Tischgesellschaften und
Wohngemeinschaften, die Bedeutung der Nachbarschaft, der Tauschhandel mit
Hauslehrerstellen, Ämterkauf, Kollegialität und Rivalität im Beruf.
Birkert beleuchtet gleichfalls den Alltag in Württembergs
erster staatlicher psychiatrischer Klinik oder aber "das Elend der Koalitionskriege im wechselnden Kampf gegen und mit
Napoleon, Herzog Friedrichs skrupellose Okkupationspolitik sowie leere Kassen,
Hungersnot und Massenarmut. Und die dunklen Wege der Konspiration und
Verfolgung."
Fazit:
Christiane Hegels Leben erschöpfte sich keineswegs nur in
der Rolle, die Schwester eines berühmten Philosophen zu sein. Alexandra Birkert
ist es in sechsjähriger Recherchearbeit gelungen, aus wenig viel zu machen. Spannend
und lesefreundlich stellt sie das Leben dieser Frau auf beeindruckende Art und
Weise in einen geschichtlichen Gesamtzusammenhang. Dabei ist wohltuend zu
vermerken, dass die Autorin an keiner Stelle des Buches ihr immer noch
vorhandenes Unwissen über viele Lebensstationen dieser ungewöhnlichen Frau zu
vertuschen versucht, sondern stets klar formuliert was belegt und was mögliche
Annahme ist.
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