Erschienen in Ausgabe: No 93 (11/2013) | Letzte Änderung: 21.10.13 |
von Bernd Ehlert
Viele Neurobiologen bestreiten die Willensfreiheit des
Menschen und fordern, da die Menschen dieser Erkenntnis nach nicht für ihre
Taten verantwortlich gemacht werden können, eine grundlegende Reform bzw. gar
die Abschaffung des bisherigen Strafrechts (etwa unter: Berliner
Zeitung - Archiv). Der andere Fall eines
Kategorienfehlers liegt in der Soziobiologie. Dort wird das Sozialverhalten des
Menschen allein mit einem gen-zentrierten Ansatz von der Evolutionstheorie her
verstanden, und zwar unter Leugnung der Eigenständigkeit des
geistig-kulturellen Seins des Menschen als Kategorie eigener Art. Das läuft
durch diesen gen-zentrierten Ansatz definitionsgemäß stets auf einen
Sozialdarwinismus hinaus. Eine Erkenntnis von Konrad Lorenz zeigt, dass beiden
naturwissenschaftlichen Vorstößen ein gemeinsamer Kategorienfehler hinsichtlich
des menschlichen Seins zugrundeliegt. Denn nach Lorenz ist auch das evolutive
Sein des Menschen geschichtet, wobei direkte Übertragungen oder Anwendungen von
Erkenntnissen oder Gesetzmäßigkeiten einer Schicht oder Ebene (neuronal oder
genetisch) auf eine andere (geistig) als sogenannte Kategorienfehler „böse in
die Irre führen“. Nur mit der Berichtigung des Kategorienfehlers stimmen die
neurobiologischen Erkenntnisse mit der jahrhundertelang bewährten Praxis des
Strafrechts überein und bestätigen diese voll und ganz, und in Hinsicht auf die
Soziobiologie kann nur so eine sozialdarwinistische Interpretation menschlichen
Sozialverhaltens verhindert und stattdessen der Fokus auf das weitere Wachsen
des Eigentlich-Menschlichen gelegt werden, nämlich als geistig-kulturelle und
nicht genetische Weiterentwicklung.
Die Schichtung des evolutiven Seins nach Konrad Lorenz
Die Evolution hat sich dem Verständnis von Konrad
Lorenz nach nicht gleichmäßig vollzogen, sondern sie besitzt die Struktur einer
Schichtung, die sich auch in den Lebewesen selbst wiederfindet. Die vier großen
Schichten des evolutiven Seins sind das Anorganische (Materie), das Organische
(Pflanzen), das Seelisch-Emotionale mitsamt des Raum-Bewusstseins (Tiere) und
das selbstbewusst Geistige (Menschen). Lorenz stützt sich hier auf den
Philosophen Nicolai Hartmann, dem nach es „gewisse Grundphänomene
unüberbrückbarer Andersheit im Stufengange der Realgebilde“ gibt, wobei „eine
phänomengerecht angelegte Kategorielehre diese Einschnitte ebenso sehr
berücksichtigen [muss] wie die Seinszusammenhänge, die über sie hinweggreifen“
(Lorenz 1987, S. 57). Über die Beziehungen und Bedingungen, die zwischen diesen
Schichten herrschen und sie darin als solche erst definieren, zitiert Lorenz
weiter dazu Hartmann mit den Worten: „So erhebt sich die organische Natur über
der anorganischen. Sie schwebt nicht frei für sich, sondern setzt die
Verhältnisse und Gesetzlichkeiten des Materiellen voraus; sie ruht auf ihnen
auf, wenn schon diese keineswegs ausreichen, das Lebendige auszumachen. Ebenso
bedingt ist seelisches Sein und Bewußtsein durch den tragenden Organismus, an
und mit dem allein es in der Welt auftritt. Und nicht anders bleiben die großen
geschichtlichen Erscheinungen des Geisteslebens an das Seelenleben der
Individuen gebunden, die seine jeweiligen Träger sind. Von Schicht zu Schicht,
über jeden Einschnitt hinweg, finden wir dasselbe Verhältnis des Aufruhens, der
Bedingtheit >von unten< her, und doch zugleich der Selbständigkeit des
Aufruhenden in seiner Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit“ (Lorenz 1987,
S. 57-58).
Die Bildung einer neuen Schicht mit ihrer
Eigengesetzlichkeit ist nach Lorenz dadurch verursacht, dass manchmal in der
Entwicklung „schlagartig völlig neue Systemeigenschaften [entstehen],
die vorher nicht, und zwar auch nicht in Andeutungen, vorhanden gewesen
waren“ (Lorenz 1987, 49). Lorenz veranschaulicht das als Zusammenschalten einer
Spule mit einem Kondensator zu einem elektrischen Schwingungskreis, dessen neue
Eigenschaften vorher weder in der Spule noch im Kondensator auch nur
ansatzweise zu finden waren. Diese Erkenntnis erklärt, dass es auf der
geistigen Ebene des Menschen eine Willensfreiheit geben kann, obwohl derselbe
Vorgang auf der darunterliegenden, neuronalen Ebene rein deterministisch
bedingt ist und dort eine Willensfreiheit nicht einmal ansatzweise zu finden
ist. In gleicher Weise existiert auf der organischen Ebene die Lebendigkeit,
obwohl bei Betrachtung desselben Geschehens auf der anorganischen Ebene
darunter eine Lebendigkeit nicht existiert.
Bedingt
durch die „Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit“ der verschiedenen
Schichten oder Ebenen, die darin die Schichtung erst definieren, ist es nicht
möglich, Erkenntnisse der einen Schicht auf eine andere ohne Weiteres zu
übertragen. Zu diesen Grenzüberschreitungen oder Kategorienfehler, die „böse in
die Irre führen“ (Lorenz 1987, 61), schreibt Lorenz weiter: „Wir verstehen
genau, warum es unmöglich ist, die Eigenschaften des höher integrierten Systems
aus denen des niedrigeren zu deduzieren (s. S. 55), und ebenso, warum es
blanker Unsinn ist bei den einzelnen Untersystemen einer Ganzheit oder bei
einfacheren Vorfahren höherer Lebewesen nach Eigenschaften und Leistungen zu
fahnden ‑ geschweige denn solche zu postulieren ‑, die erst mit dem
schöpferischen Akt höherer Integration in Existenz getreten sind“ (Lorenz 1987,
61). Daher kann es sehr wohl eine Willensfreiheit auf der geistigen Ebene des
Menschen geben, obwohl diese Eigenschaft auf der neuronalen Ebene nicht
vorhanden ist, genauso wie der Egoismus der geistigen Ebene des Menschen nicht
auf der darunterliegenden genetischen Ebene als ein „egoistisches Gen“
postuliert werden kann bzw. das geistig-kulturelle Sein des Menschen nicht
unter genetischen Gesetzmäßigkeiten beurteilt werden kann. In beiden Fällen
liegt gemäß dem Schichtmodell von Lorenz ein Kategorienfehler vor.
Der Kategorienfehler der Neurobiologie
Die Gehirnforschung betrachtet das menschliche Sein
auf der neuronalen Ebene. Sie stellt dort natürlicherweise eine
Determiniertheit fest, da hier alles den physikalisch-chemischen Naturgesetzen
entsprechend abläuft. Bei den sogenannten Libet-Experimenten wird dabei
erkannt, dass schon vor dem angegebenen Willensschluss der Probanden ein
sogenanntes „Bereitschaftspotential“, das als Auslöser einer Handlung gilt, in
bestimmten Hirnregionen gemessen werden kann. Diese Erkenntnis der neuronalen
Ebene wird von vielen Neurobiologen dann einfach auf die geistige Ebene des
Menschen übertragen und angewandt, was zu der Aussage führt, dass es den freien
Willen überhaupt nicht geben kann und dass in der Konsequenz dessen etwa
Straftäter für ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden können.
Das
Schichtmodell von Lorenz deckt auf, welcher gravierende (Kategorien)Fehler
dieser Interpretation der neurobiologischen Versuche und Erkenntnisse mit ihren
offensichtlich weltfremden Forderungen an das lange bewährte Strafrecht
zugrundeliegt. Zunächst sind die Ergebnisse der Neurobiologie insofern richtig,
da es auf der physikalisch-chemischen Ebene, die die Neurobiologen auch in den
Libet-Experimenten beobachten, natürlich keine Willensfreiheit gibt, aber dort
gibt es auch keine Farbwahrnehmung, keine Laute und keine Ich-Vorstellung.
Um
die Beziehungen zwischen den neuronalen Vorgängen und dem Empfinden und
Bewusstsein dieser Vorgänge auf der geistigen Ebene des Menschen an einem
anschaulichen Beispiel darzustellen: Wenn sich jemand etwa auf einer
Speisekarte für ein bestimmtes Gericht entscheidet, so hat »er« auf der
geistigen Ebene dabei das Empfinden, das mit einem freien Willen zu tun, doch
die Betrachtung desselben Vorgangs dieser freien Wahl auf der neuronalen
Ebene sieht ganz anders aus. Vor allem gibt es dort kein »Ich-Zentrum«, keinen
Homunkulus oder keine besonderen, »geistigen« Neuronen. Das ist im Grunde eine
der wichtigsten Erkenntnisse der Neurobiologie, wenn nicht gar die wichtigste.
Auch die Vorstellungen und Reflexionen des frei handelnden Ichs der geistigen
Ebene bestehen auf der neuronalen Ebene nur in bestimmten, ebenfalls
deterministischen Rückkopplungsvorgängen.
Im
Einzelnen heißt das an dem genannten Beispiel der Auswahl eines Gerichtes, dass
bestimmte neuronale Erregungszustände des vegetativen Nervensystems vorliegen,
wie Appetit oder Ekel, desweiteren emotionale unseres Instinktsystems, etwa als
Freude darüber, sich satt zu essen und natürlich liegen auch Erregungszustände
der »höheren« neuronalen Vorgänge oder Denkprozesse vor, die die finanziellen
Kosten des Gerichts, Folgen für das Übergewicht usw. betreffen. Alle diese
neuronalen Zustände treffen mit je nach Situation unterschiedlichen und
wechselnden Stärken vereinfacht gesagt aufeinander, wobei sich wie überall auf
der materiell-körperlichen Ebene der stärkste Impuls deterministisch und den
physikalisch-chemischen Gesetzen gemäß durchsetzt und auf diese Weise zur
neuronalen Entscheidung führt. Diese Entscheidung wird durch motorische oder
akustische neuronale Impulse dann in die Tat umgesetzt, gleichzeitig darin auch
neuronal als Entscheidung registriert und reflektiert und so auf der geistigen
Ebene des Menschen erst bewusst, allerdings in der Weise, dass auf der
geistigen Ebene sich die dort existierende Ich-Vorstellung diese Entscheidung
als frei und bewusst im Vorhinein der Entscheidung getroffen zuschreibt
und nicht als Reflexion einer deterministisch gefallenen Entscheidung im Nachhinein.
Die Struktur der neuronalen Entscheidungsfindung entspricht darin der der
geschichteten evolutiven Entwicklung, d.h. die das Bewusstsein ergebenden
»höheren« neuronalen Prozesse liegen stets am Ende eines eigentlichen
Entscheidungsvorgangs, auch wenn Bewusstseinsprozesse bei der deterministischen
Entscheidung ebenfalls beteiligt waren. In dieser Weise wird sozusagen ein
Wille der Ich-Vorstellung erst dann in der Reflexion bewusst, »nachdem er schon
gewollt war«.
Konrad
Lorenz hat von einem „Parlament der Instinkte“ gesprochen. Darin hat dann auch
das, was wir unserer geistigen Ebene gemäß Verstand und Vernunft nennen, nur
eine mehr oder weniger starke Stimme, die entsprechend ihrer Stärke in die
deterministische Entscheidung eingeht, wobei wir in der Regel die Durchsetzung
eines Instinkts gegen die Vernunft ebenfalls als unseren Willen bezeichnen,
etwa im Falle einer Straftat. Interessant wird es jedoch, wenn überstarke
Gefühle oder Instinkte vorhanden sind, etwa im Fall einer Sucht wie bei Rauschgiften,
aber ein anderes gutes Beispiel dafür ist die von vielen Menschen heute
vergeblich gewünschte und angestrebte Gewichtsreduzierung. Hier will ganz
offensichtlich das »vernünftige Ich« etwas anderes als das, was sich im
determinierten Prozess der Entscheidung auf der neuronalen Ebene faktisch
durchsetzt. Gerade diese Fälle bestätigen so, wie die Entscheidungsprozesse
neuronal ablaufen.
Die Umdeutung des neuronalen Geschehens auf der geistigen Ebene des
Menschen
Um
in dieser Weise das Libet-Experiment nachzuvollziehen: Der Wille zu der
auszuführenden körperlichen Bewegung ist im Grunde schon seit Bekanntwerden des
Versuchsablaufs mehr oder weniger latent vorhanden. Irgendwann setzt sich
dieser neuronale Impuls, die Bewegung tatsächlich auszuführen, gegenüber den
neuronalen Impulsen unseres Empfindungs- und Denkprozesses durch, es noch nicht
zu tun. Auf der höchsten neuronalen Ebene dieser Denkprozesse und Reflexionen
gibt es dabei definitionsgemäß keine sozusagen neuronale Instanz darüber, die
entscheiden könnte, den ausführenden neuronalen Impuls zu einem bestimmten
Moment in Gang zu setzen (und wenn es sie gibt, müsste das neuronale Geschehen
dort betrachtet werden). Das Wechselspiel der von gegensätzlichen oder
verschiedensten neuronalen Einflüssen geprägte Geschehen auf der höchsten oder
letzten neuronale Ebene der Ich-Vorstellung und Denkprozesse kann sich daher
dort nur deterministisch gemäß der physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten
entscheiden (ansonsten müsste es so etwas wie »geistige Neuronen« oder einen
Homunkulus geben).
Erst
im Nachhinein dieser deterministischen Entscheidung kommt es zur
neuronalen Erkenntnis oder Reflexion der schon vollzogenen Entscheidung. Nur
darin wird es auf der geistigen Ebene bewusst, dass die Entscheidung
tatsächlich gefallen ist. Es wird jedoch nicht das vorangegangene determinische
neuronale Geschehen erkannt und bewusst, sondern die Reflexion allein ist der
ursprüngliche Erkenntnis- und Bewusstseinsakt. Erst darin kann sich der Proband
im Libet-Experiment den Zeitpunkt seines Willensausführung merken bzw. das ist
der Zeitpunkt der Erkenntnis und des Bewusstseins der Willensausführung, obwohl
zu diesem Zeitpunkt, wie es der Libet-Versuch bestätigt, die eigentliche
Entscheidung neuronal schon stattgefunden hat. Dass sie faktisch schon vorher
stattgefunden hat, kann dem Probanden naturgemäß nicht bewusst sein oder
werden, wenn die neuronale Entscheidung deterministisch fällt und die neuronale
Erkenntnis oder Reflexion dessen naturgemäß stets später erfolgt.
Die
Deutung des deterministischen neuronalen Entscheidungsprozesses als »unsere«
Entscheidung ist zwar insofern sogar richtig, da sowohl die vegetativen und
instinkthaften neuronalen Einflüsse als auch die der selbstbewussten
Denkprozesse, die an dieser Entscheidung beteiligt sind, alle zu »uns« gehören.
Doch wie alle neuronalen Prozesse geschieht auch die eigentliche Entscheidung
auf der neuronalen Ebene rein deterministisch, wobei der bewusstseinsschaffende
neuronale Reflexionsprozess der vollzogenen Entscheidung dort wie gesagt stets
erst im Nachhinein der Entscheidung stattfindet, während auf der
geistigen Ebene dasselbe Geschehen so gedeutet wird bzw. nur gedeutet werden
kann, als habe die dort existierende Ich-Vorstellung diese Entscheidung im
Vorhinein, bewusst, frei und willentlich getroffen.
Diese
Umdeutung des deterministischen neuronalen Prozesses auf der geistigen Ebene
ist jedoch nicht als ein zu berichtigender Fehler anzusehen, wie es die
Neurobiologen als Verleugnung der Willensfreiheit tun, denn genau in dieser
Umdeutung oder »Verfälschung« wird die geistige Ebene oder Schicht in ihrer
„Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit“ als frei denkende und handelnde
Person oder Ich-Vorstellung erst bedingt, geschaffen und erhalten. Diese dort
existierende Form oder Struktur eines Ichs ist dabei nicht weniger real als
eine Farbwahrnehmung, denn dort geschieht vom Grundsatz her als Umdeutung oder
»Verfälschung« dasselbe, da wir ganz bestimmte Wellenlängen des
elektromagnetischen Spektrums auf der physikalischen Ebene in unserem
Bewusstsein nicht als diese elektromagnetischen Wellenlängen erkennen, sondern
wir empfinden und erkennen diese ganz bestimmten Wellenlängen auf der darüber
liegenden Ebene in einer »Verfälschung« als etwas ganz anderes, nämlich als Farbe.
Zu sagen, dass auf der physikalischen Ebene der elektromagnetischen
Wellenlängen keine Farbe existiert und sie daher auch nicht in unserem Erkennen
existieren kann, wäre derselbe Kategorienfehler wie im Fall der
Willensfreiheit.
Der
Proband des Libet-Experiments in seinem Selbstbewusstsein auf der geistigen
Ebene kann es daher stets nur so verstehen, dass »er« zu diesem ersten
Zeitpunkt der Bewusstwerdung der Entscheidung diese Entscheidung gewollt hat
und zwar frei und willentlich. Würde er die deterministischen neuronalen
Prozesse nicht in dieser Art verstehen, gäbe es keine Ich-Vorstellung, keine
Persönlichkeit und kein Mensch-Sein. Das Geheimnis, Rätsel oder Wunder des
freien und willentlichen Ich-Erlebens liegt so nicht in den neuronalen
Prozessen, sondern in dem Erleben dieser neuronalen Prozesse auf der darüber
liegenden Ebene des geistigen Seins, die gegenüber der neuronalen Ebene eine
„Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit“ besitzt.
Die Umdeutung ist selbst Teil des neuronalen Prozesses und erhält darin
die geistige Ebene
Das
bewusste Ich-Empfinden ist so das grundlegende Phänomen der geistigen
Bewusstseinsschicht des Menschen, d.h. die Bedingungen, Strukturen und
Gesetzlichkeiten auf dieser Ebene sind derart, dass wir in unserem Erkennen,
Bewerten und Handeln stets und unbedingt davon ausgehen müssen, dass »wir« als
frei handelnde Persönlichkeit auf der geistigen Ebene existieren, ebenso wie
wir das allen anderen Menschen unbedingt zuschreiben müssen, vor allem auch im
Strafrecht. Diese unbedingte Zuschreibung als frei und willentlich handelnde
Person bildet nicht nur die Grundstruktur der geistigen Ebene, sondern diese
Zuschreibung gehört in ihrer Wirkung auf der neuronalen Ebene dabei mit zu den
wichtigsten deterministisch wirkenden Einflüssen, und nur in dieser Weise kann
sich das geistig-kulturelle Sein als exklusive Ebene des menschlichen Seins in
dieser Struktur erhalten und weiterentwickeln.
Indem
der Mensch auf der geistigen Ebene so handelt, als hätte er einen freien
Willen, hat er ihn dort tatsächlich, und er muss auch so handeln, um sein
selbstbewusstes Mensch-Sein und seine Würde zu erhalten. Nur darin erhält auch
das weiter Gültigkeit, was schon Darwin über das Gehirn des Menschen als
„wunderbare Maschine“ gesagt hat, „die allen Arten von Dingen und Eigenschaften
Zeichen beilegt und Gedankenreihen wachruft, die niemals durch bloße
Sinneseindrücke entstehen könnten, oder, wenn dies der Fall wäre, doch nicht
weiter verfolgt werden könnten“ (Darwin 2002, 268), wobei daraus „die höheren intellektuellen
Fähigkeiten, wie das Schließen, Abstrahieren, das Selbstbewußtsein usw.,
entstanden“ (Darwin 2002, 268). Diese Abstraktionen funktionieren nur, wenn es
in diesen Abstraktionen einen Handelnden gibt, der sich darin als frei und
willentlich Handelnder versteht, auch wenn das selbst nur eine Abstraktion ist.
Die
geistige Ebene des Menschen, auf der dieser als Person mit einem freien Willen
existiert, ist darin natürlich nichts Substantielles, sondern wie der Wert des
Geldes beruht es lediglich auf einer relativen Übereinkunft, Reflexion oder
Abstraktion. Doch das ist darin nichts Neues, denn selbst der Beginn des Lebens
und der Evolution mit der Bildung der ersten Urzelle bestand darin nicht in
einer neuen Substanz, sondern lediglich in einer besonderen Struktur, die sich
dann darin immer weiter entwickelte. Auch im Gehirn eines Menschen gibt es so
nichts Besonderes, das ihn von den neuronalen Vorgängen bei einfachen Tieren
unterscheidet, außer eben das besondere Zusammenspiel dieser neuronalen Vorgänge.
Wenn dieses besondere Zusammenspiel als spezielle Struktur und Gesetzmäßigkeit
der geistigen Ebene geleugnet wird, wie es viele Neurobiologen insofern
versuchen, als sie dem Ich die Willensfreiheit als wichtigste und prägendste
Eigenschaft absprechen, so wäre darin die grundlegendste Übereinkunft der
geistigen Ebene des Mensch-Seins und damit diese Ebene selbst aufgehoben. Es
wäre dasselbe, als würde die Übereinkunft des Geldwertes gekündigt, weil man
erkannt hat, dass es im Grunde doch nur Papier ist – und dann wäre das Geld
tatsächlich nur noch bloßes Papier. Genauso wäre ein Ich, das sich nicht als
frei handelnd versteht, kein menschliches Sein mehr, sondern nur noch ein
animalisches Wesen, dessen Verhalten nach festen Instinktprogrammen ohne Selbstbewusstsein
deterministisch abläuft. Der Mensch würde so als unmündig behandelt und wäre es
darin auch.
Ebenfalls
zu den Einflüssen, die eine Entscheidung auf der neuronalen Ebene direkt und
deterministisch bedingen, gehört die zugeschriebene Verantwortung und die damit
verbundene Androhung von Strafen bei bestimmten Verhaltensweisen, die zwar dem
animalischen Recht des Stärken entsprechen, aber nicht einem Zusammenleben der
Menschen, das von geistig-kulturellen Werten geprägt ist. Wenn also die Menschen
für ihr geistig-kulturelles Fehlverhalten nicht mehr verantwortlich gemacht
oder bestraft würden, so würde das als Wissen auf der neuronalen Ebene sofort
und direkt die deterministisch ablaufenden neuronalen Entscheidungsprozesse mit
beeinflussen, so dass sich in der Konsequenz nur noch die neuronalen Impulse
unseres ja weiterhin vorhandenen Instinktsystems durchsetzen würden. Die
geistig-kulturelle Ebene des Mensch-Seins würde sich dadurch nicht nur in
theoretisch-abstrakter Hinsicht aufheben, sondern der Mensch würde dadurch ganz
konkret und praktisch wieder auf die Ebene des animalischen Seins mit seinem
Recht des Stärkeren zurückfallen.
Dieses
Verständnis des freien Willens lässt sich auch schon bei Kant finden, wenn
dieser sagt: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit
handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei, d.i. es
gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich
verbunden sind, eben so, als ob sein Wille auch an sich selbst, und in der
theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde“ (Kant 2005, S. 105),
und: „Der Mensch handelt nach der Idee von einer Freiheit, als ob er frei wäre,
und eo ipso ist er frei“ (Kant 1830, S. 132).
Der Kategorienfehler in der Soziobiologie
Diese
Art von Kategorienfehler ist auch in der Soziobiologie zu finden. Denn die heutige Soziobiologie bestreitet mit ihrem
gen-zentrierten Ansatz genau das, was der Verhaltensforscher Konrad Lorenz
gerade besonders betont und herausstellt, nämlich Geist und Kultur des Menschen
als Schicht oder „Kategorie eigener Art“ (Voland 2013, 214). Auch für Darwin war es (in seiner Auseinandersetzung mit den
spiritualistischen Ansichten von Alfred Russel Wallace) „durchaus nicht
berechtigt, den Menschen in eine besondere Ordnung zu stellen“ (Darwin 2002,
194), während Lorenz ganz im Gegensatz dazu den Geist des Menschen sogar mit der Entstehung des Evolutionsprozesses selbst
vergleicht und es für ihn die beiden größten Ereignisse oder „Fulgurationen“
sind, „die sich in der Geschichte unseres Planeten je ereignet haben“ (Lorenz 1987, 216). Denn beim Menschen
geschieht nun auf neuronale Weise genau das, was
vorher auf genetische Weise den Kern dessen darstellt, was Evolution im Grunde
ist, bedingt und trägt, nämlich die systematische Gewinnung, Speicherung und
Weitergabe von Information (vgl. Lorenz, 217). Für Lorenz ist es „daher keine Übertreibung zu
sagen, dass das geistige Leben des Menschen eine neue Art von Leben sei“ (Lorenz
1987, 217).
Dagegen werden Geist und Kultur
in der heutigen Soziobiologie nur als Imitation gedeutet, als ein „»imitiere die Erfolgreichen!«“ (Voland 2013, 216),
also die genetisch Erfolgreichen, so dass „Kulturgeschichte begann, als das survival
of the fittest ein Imitation of the fittest ins Schlepptau nahm“
(Voland 2013, 216). Weiter heißt es dazu bei Voland: „Vor diesem Hintergrund
wird das eigentliche Problem der sogenannten »nature/nurture-Debatte«
sichtbar: die unter manchen Biologen und Kulturwissenschaftlern
gleichermaßen weit verbreitete Auffassung, wonach »Sozialisation« oder »Kultur«
Alternativen zur evolutiven Erklärung menschlichen Verhaltens sein sollen,
beruht schlichtweg auf einem Kategorienfehler“ (Voland 2013, 215), und:
„Die Auffassung von der gen-zentrierten Wirkweise der biologischen
Evolution steht in krassem Widerspruch zu Vorstellungen, wie sie zuvor in der
Verhaltensforschung vorgeherrscht haben und wie man sie mit dem Schlagwort der
»Gruppenselektion« etikettiert hat“ (Voland 2013, 8).
Die Soziobiologie macht genau
wie schon die Neurobiologie keinerlei Unterscheidung zwischen den verschiedenen
Ebenen oder Schichten des evolutionär bedingten Seins und wirft von daher sogar
den Kultur- und Geisteswissenschaftlern einen Kategorienfehler vor, weil diese
das menschliche Sein unter anderen Gesetzlichkeiten als denen der genetischen
Evolution verstehen. Doch im Sinne des Schichtenmodells von Lorenz begeht die
Soziobiologie genau dadurch selbst den Kategorienfehler, weil auch das Sein des
Menschen geschichtet ist und man nicht die Gesetzmäßigkeiten der einen
(genetischen) Schicht einfach so auf die geistige Ebene übertragen kann, wobei
zudem die geistige Ebene gar nicht als Ebene und Schicht eigener Art und
Gesetzmäßigkeit angesehen wird, sondern nur als eine Imitation.
Wenn die Soziobiologie das
geistige Sein des Menschen allein unter den genetischen Gesetzmäßigkeiten der
darunterliegenden animalischen Ebene betrachtet, so ergibt das genau dadurch
immer wieder einen Sozialdarwinismus, auch wenn das nicht gewollt und beabsichtigt
ist. Diese Deutung beruht in derselben Weise auf einem Kategorienfehler, der
nach Lorenz „böse in die Irre führt“, wie die Forderung nach Abschaffung des
Strafrechts durch viele Neurobiologen.
Literatur:
Konrad Lorenz, Die Rückseite des
Spiegels, München 1987
Eckart Voland, Soziobiologie,
Berlin-Heidelberg 2013
Immanuel Kant, Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 2005
Immanuel
Kant, Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, Leipzig 1830
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