Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 03.03.09 |
Clemens Meyer Die Nacht, die Lichter. Stories S. Fischer Verlag, (Februar 2008) 272 Seiten, Gebunden ISBN-10: 3100486013 ISBN-13: 978-3-100-48601-1 Preis: 18,90 EURO
von Heike Geilen
Dieser Satz aus "Wagen 29" könnte
stellvertretend für alle anderen 15 Stories des großartigen Erzählbandes "Die
Nacht, die Lichter" von Clemens Meyer stehen. Dunkelheit gibt es fürwahr
mehr als genug im Alltag seiner "Helden", aber immer wieder strahlt der
kleine Funke Hoffnung, das Licht am Ende des Tunnels.
Wer ist dieser junge Autor, der in Halle geboren
wurde und in Leipzig lebt?
"Das ist
der, der den Buchmessepreis gewonnen hat. Der, der so gar keinen Respekt vor
den Juroren dieser Auszeichnung hatte." "Meyer? Clemens? Ist der nicht am ganzen Körper tätowiert?"
"Ja genau der! Hast du gesehen, wie
er seine Freude über den Gewinn herausgeschrien hat? Mit Bier hat er angestoßen
und sich dabei alles übers Gesicht gekippt. Bisschen komisch war der schon, zu
aufgedreht, passte gar nicht ins übliche Klientel."
So oder ähnlich könnte sich eine Diskussion zwischen
zwei Besuchern auf der Veranstaltung zur Verleihung des "Preises der Leipziger
Buchmesse 2008" angehört haben. Auf einige Gäste wirkte der Autor wie der "Underdog
der Literaturszene". Er schien geradewegs aus einer Story seiner
Erzählungen entsprungen zu sein. Meyer schreibt von Menschen, die nicht mehr
ins sogenannte gesellschaftliche Raster passen, die Drogen nehmen oder im Knast
sitzen, die trinken, spielen, dealen und sich prügeln: die "Looser der
Nation".
Der Autor siedelt seine Erzählungen in verwahrlosten
Wohnungen, in Bierkneipen, im Boxring oder in stillen, nächtlichen Straßen an
der trostlosen Peripherie einer Stadt an.
Er berichtet zum Beispiel von einem Arbeitslosen, der
- auch noch von der Frau verlassen - seine ganze Zuneigung seinem Hund widmet.
Doch dieser erkrankt schwer und nur eine kostspielige Operation könnte ihm
helfen. Also setzt er sein ganzes Geld in eine Pferdewette.
Oder der schwarze Boxer, der seine Gage dadurch
aufstockt, dass er bewusst verliert. Bis zu dem Tag, wo er doch einmal
gewinnt... im Ring.
In einer anderen Erzählung soll der Langzeitknastie
beim Freigang der Tochter seines Mithäftlings Geld übergeben. "Nimm es und gib's ihr. Is 'ne Überraschung.
Sie macht doch jetzt Lehre, hat nicht viel." Doch als er bei ihr in
der Wohnung auftaucht, wird er von deren Zuhälter zusammengeschlagen.
Oder der alte Mann in dem verlassenen Dorf, dessen
Frau schon lange tot ist, der all seinen Lebensmut verloren hat, die Hühner auf
seinem Hof tötet und seinen Freund bittet, ihm dessen Pistole zu geben, um
seinen kranken Hund zu erschießen, aber dazu mindestens zwei Patronen haben
will. Intensiv auch die Geschichte des kranken, drogensüchtigen Malers, der
nicht nur entfernt Ähnlichkeit mit Jörg Immendorff aufweist und dessen Leben im
letzten Rausch in einem Hotelzimmer an ihm vorbei gleitet.
Vage
Hoffnung durchströmt seine Nachtgestalten
Trotz der Dunkelheit, in die seine Protagonisten
abgerutscht sind und die sich durch alle Erzählungen zieht, setzt Meyer immer
wieder Lichter. Lichter, die zeitweise nur flimmern und kaum zu erkennen sind.
Lichter, die sich bewegen, heller werden und manchmal auch wieder verschwinden.
Doch niemals zerstört Clemens Meyer den Traum von einem besseren Leben, niemals
die Illusionen seiner Figuren, auch wenn es der oberflächlichen Gesellschaft
vielleicht so scheint.
"Das wird
schon, das wird schon wieder". Dieser Satz durchzieht als Leitmotiv
alle 15 Stories. Vage Hoffnung durchströmt seine Nachtgestalten, die meist
schon mit einem Bein am Abgrund stehen. Immer wieder setzt der Autor das
sogenannte Licht am Ende des Tunnels: "in
diesem Augenblick dache ich, dass es da so was wie ein Glück geben müsste,
irgendwo, und die Angst und die Kälte, die ich mit mir rumschleppte (...) waren
weg." (aus "Wir reisen") oder "Und dass das alles ein gutes Ende nimmt, daran glaube ich, daran glaube
ich so fest, dass es fast schon wehtut." (aus "Die Flinte, die
Laterne und Mary Monroe").
Eine Lösung, ein Happy End, die gibt es jedoch
nicht. Alles ist offen, könnte sich so oder so weiterentwickeln. Meyer erzeugt
einen atemberaubenden Schwebezustand.
Eigene
Intensität ungesagter Worte
Daneben entfaltet der Autor eine unglaubliche
Dynamik. Er treibt den Leser mit einer permanenten Sogwirkung durch den Text,
durch sein Wechselspiel zwischen Hell und Dunkel, zwischen Licht und Schatten, erzeugt
eine suggestive Wirkung, lässt die Gedanken und Empfindungen seiner
Protagonisten wirbeln, springt in die Vergangenheit und noch im selben Satz
wieder zurück in die Gegenwart oder gar die Zukunft. Grenzen verwischen. Alles
ist in Bewegung. Es gibt keinen Moment des Stillstandes. Wahrnehmung,
Erinnerung und Traum fließen nahtlos ineinander.
Das Nichtgesagt ist dabei Meyers Stärke. Eine ganz
eigene Intensität unausgesprochener Worte zwischen den Zeilen zeichnet seine
Erzählkunst aus. Gut und Böse gibt es nicht, alles verschwimmt. Zuweilen Entsetzen,
aber kein Befremden, Hoffnungslosigkeit, aber auch Hoffnung: die Nacht, aber
auch die Lichter.
Meyer wertet nicht, schreibt ohne Pathos und
Larmoyanz über seine sympathischen Anti-Helden, denen er dadurch so
etwas wie Würde verleiht. Er dokumentiert, dies jedoch passgenau und
mit einem exzellenten Blick auf intime Kenntnisse für diese Verhältnisse. Er
selbst sagte einmal in einem Interview: "Émile Zola ist durch abgewrackte Gegenden gewandert, um Stoff zum
Schreiben zu finden. Ich wohne dort."
Clemens Meyer zeichnet in seinen Geschichten
ein scharfes Bild unserer sozialen Verhältnisse und lässt in ihnen eine ganze
Lebenswelt erkennen.
Seine großartige Erzählkunst zeichnet sich auch
dadurch aus, wie er alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunterbricht. Kurze
Sätze, die alles sagen. Mit Kleinigkeiten, zudem meist unausgesprochen,
verrät er mehr, als es seitenfüllende Abhandlungen tun würden. Er verdichtet
auf ein Maximalmaß und erzeugt dadurch immensen inneren Druck und enormer
Kraft. Seine präzise Unschärfe, seine wenigen Andeutungen, eröffnen komplexe
Zusammenhänge.
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